Das Beispiel der belgischen Partei der Arbeit (PTB/PvdA)

 

Freilich, nur Begeisterung kann große Werke vollbringen, Überzeugung und Vertrauen ist nötig; Klarheit über Weg und Ziel.“ (Karl Liebknecht)“ Alles das fehlt auf dem Schiff Partei DIE LINKE.“

Michael Brie: Was tun in Zeiten des Krieges

 

Zur Lage und den Perspektiven der Linken in Europa schrieb Heinz Bierbaum, der bis Dezember 2022 Präsident der Europäischen Linken war, einen Artikel in der Zeitschrift Sozialismus und kam u.a. zu folgendem Ergebnis: „Insgesamt sind die linken Parteien in Europa relativ schwach und kommen in der Regel nicht über 10 Prozent bei den Wahlen hinaus.“ Ausnahmen seien Syriza in Griechenland, AKEL in Zypern mit Ergebnissen von über 20 Prozent. Podemos in Spanien und France Insoumise hätten zu Beginn größere Wahlerfolge gehabt, inzwischen aber in der Wähler*innengunst verloren. „Einzig die belgische Partei der Arbeit (PTB)“, so Bierbaum, „scheint auf dem Weg zu sein, aus dem Zehn-Prozent-Getto auszubrechen. Sie hat einen erstaunlichen Wandel von einer ehemals maoistischen Organisation zu einer in der Arbeiterklasse verankerten Partei der Arbeit durchgemacht und ist zum politischen Repräsentanten der sozial Benachteiligten geworden“. Wer in den letzten Jahren die Publikationen und Debatten der deutschen Linken verfolgt hat, mag sich über die Einschätzung von Heinz Bierbaum wundern. Denn die belgische Partei spielte da so gut wie keine Rolle. So meinte ein Redakteur der „junge Welt“ auf Anfrage des Verfassers dieses Artikels, man habe die Partei „nicht auf dem Schirm gehabt“. Und tatsächlich wird bis dato in der linken Tageszeitung immer noch kaum berichtet. Es bleibt inzwischen vor allem den „Marxistische Blätter“ vorbehalten, Autoren der PTB/PvdA zu Wort kommen zu lassen. Im Editorial der aktuellen Ausgabe heißt es: „Der Beitrag von Peter Mertens von der belgischen Partei der Arbeit (PTB/PvdA) zur „Polykrise und den Herausforderungen für die Linke“, den wir in Heft 2-2023 dokumentiert haben, wurde bei unserem jüngsten „Treffpunkt Redaktion“ als besonders lesenswert, Mut machend hervorgehoben...Nicht nur wegen seines Kerngedankens, dass es Zeit für die Linke sei, „wieder einen Klassenstandpunkt einzunehmen“ und „wieder ganz klar und voll Stolz Klassenpolitik zu machen…“, sich auf „solide linke Grundsätze und Prinzipien“ zu besinnen und eine „tiefgehende, systematische Analyse der jeweiligen Situation vorzunehmen, bodenständig und aus marxistischem Blickwinkel. Überspringt man diese Etappe, flattert man nur wie ein aufgescheuchtes Huhn umher: Der Klassenstandpunkt ist die Basis.“ Besonders in der „lebenswichtigen Kriegsfrage“ habe sich die belgische Partei „weder von rechter, noch von linksradikaler Rhetorik unter Druck setzen“ lassen. „Unsere Antworten ziehen wir aus Debatten, Argumentationen und Bildung. Wir überzeugen, indem wir geduldig zuhören und einen soliden Klassenstandpunkt vertreten.“ Soweit aus dem Editorial der Marxistische Blätter.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kam Ekkehard Lieberam in seinen „Thesen zur Situation der Linkspartei“ (jW, 28.10.2022): „Die Frage, wie denn eine Klassenpartei der Lohnarbeiter mit Masseneinfluss beschaffen sein muss, die dauerhaft der Integration durch Parlamentarismus und Parteienstaat zu widerstehen vermag, muss(..)gründlich diskutiert und zum Teil wohl auch neu beantwortet werden. Dazu gehört nicht zuletzt die Auswertung von entsprechenden Erkenntnissen in anderen kapitalistischen Ländern. So besagen die Erfahrungen der erfolgreichen marxistischen Partei der Arbeit Belgiens, dass der systemoppositionelle Charakter einer linken Partei marxistische Prinzipientreue und eine enge Verbindung zur Lohnarbeiterklasse ebenso verlangt wie die Wahrnehmung sozialer Aufgaben im Interesse der Prekarisierten aller subalternen Klassen (in Belgien auf dem Gebiet des Gesundheitswesens).“ Hierzulande gibt es spätestens seit der Bundestagswahl 2021, nach dem Desaster der Linkspartei, die beinahe aus dem Parlament geflogen wäre, verschärfte Auseinandersetzungen, die mit einer Spaltung enden könnten. Vermehrte Austritte sind zu beobachten, wobei diese, wenn überhaupt, sehr unterschiedlich, zum Teil gegensätzlich begründet werden. Thies Gleiss stellte unlängst fest: „Die Partei DIE LINKE ist ein Zusammenschluss von Menschen, die sehr unterschiedliche politische Positionen und Strategien miteinander zu verbinden versucht. Das hat mehrere Jahre geklappt, war anfangs sogar ein Erfolgsgarant für dieses neue Kapitel linker Parteiengeschichte in Deutschland. Heute klappt das nicht mehr und die LINKE ist handlungsunfähig und ohne jede politische Ausstrahlung.“

Dabei entwickelt sich der Ukrainekrieg zum Brandbeschleuniger. Niemand kann sagen, wohin die Reise geht. Wir sind gut beraten, über den deutschen Tellerrand hinauszuschauen und erfolgreichere linke Organisationsansätze in den Nachbarländern auf den Schirm zu bekommen. Dabei geht es nicht darum, einfach nur zu übernehmen. Jedes Land hat seine Besonderheiten, und die nicht genügend zur Kenntnis zu nehmen, würde sich früher oder später rächen. Wie ist das bei Belgien? Es ist im Vergleich zu den beiden Nachbarländern Frankreich und Deutschland ein kleines Land, flächenmäßig etwa die Hälfte Bayerns, allerdings deutlich dichter besiedelt und hat in etwa die Einwohnerzahl Bayerns. Sowohl von der Wirtschaftsleistung wie der Sozialstruktur her weisen Bayern und Belgien Ähnlichkeiten auf. Was die Unterschiede betrifft, dazu später mehr. Die belgische Partei der Arbeit hat ihre Wurzeln in der Studentenbewegung der späten 1960er Jahre. In der anschließenden Fraktionierung dieser Bewegung entwickelte sie sich zu einer Kaderpartei mit maoistischer Tendenz. Einige Hundert (zumeist studentische) Aktivisten bildeten den Kern und versuchten, die Partei in den Betrieben und in der Gesellschaft zu verankern. Dem Vorhaben war kein Erfolg beschieden und es verharrte über längere Zeit in Stagnation. Dieses Stagnieren betraf aber nicht die gesamte Partei. Denn schon damals war die Partei der Arbeit eine wie keine andere. Eine der Säulen dieser Partei war und ist heute die Organisation Medizin für das Volk (MPLP).

Innerhalb und am Rande dieser Organisation entwickelte sich eine Diskussion, wie die Partei aus der lähmenden Stagnation herauskommen könnte. Die medizinischen Zentren, auf die noch einzugehen ist, florierten zunehmend, während die Partei selber nicht weiterkam. Beteiligte man sich an Wahlen, waren die Ergebnisse deprimierend.

Erneuern oder Verschwinden

Im Jahr 2003 fanden in Belgien wieder einmal Parlamentswahlen statt. Für die PTB/PvdA fielen gerade mal 20 825 Stimmen ab. Ein Desaster. Ursachen gab es mehrere, wie man selbstkritisch feststellte: Man war mit Gewerkschaften und fortschrittlichen Organisationen zerstritten. Eine belehrende Haltung, Realitätsferne und Dogmatismus bestimmten die Vorgehensweise der Partei. Die Stimmung muss nach dieser Wahl ziemlich mies gewesen sein, es gab nur zwei Möglichkeiten: Verschwinden oder sich tiefgreifend erneuern. So gut wie alle maoistischen Parteien in Westeuropa hatten sich längst aufgelöst (mit Ausnahme der SP in den Niederlanden) und waren von der Bildfläche verschwunden. In der PTB/PvdA waren etwa 800 Mitglieder zur Erneuerung bereit. Einige der hartnäckigen Verweigerer wurden ausgeschlossen. Als sog. Architekt der Erneuerung gilt Peter Mertens, ein Soziologe aus Antwerpen, heute 53 Jahre alt. Er gehört bereits zur zweiten Generation der Parteiaktivisten. Nach seinem Studium war er als Hilfsarbeiter in industriellen Reinigungsfirmen beschäftigt. Vorher war er Aktivist in der Studentenbewegung für die PTB/PvdA. Von 2008 bis 2021 war Mertens Präsident der Partei und anschließend übernahm er die Funktion des Generalsekretärs. Bereits ein Jahr nach Beginn der Erneuerung zeigten sich die ersten positiven Ergebnisse. Eine Kampagne im Gesundheitssektor zur Senkung der Medikamentenpreise stieß auf öffentliche Aufmerksamkeit. Als 2005 im ganzen Land gegen die Rentenpläne des sozialdemokratischen Ministers mobilisiert wurde, kam es zu einer Austrittswelle bei den Sozialdemokraten, und die PTB/PvdA konnte sich Zugang zur Gewerkschaftsbewegung verschaffen. 2008, also fünf Jahre nach dem Neuanfang, wurde auf einem Kongress eine erste Bilanz gezogen, die eingeschlagene Linie bestätigt und Peter Mertens zum Vorsitzenden gewählt. Allmählich entwickelten sich auf der Leitungsebene Experten für Themen wie Energie und Steuern. Ein wissenschaftlicher Studiendienst unter Leitung von David Pestieau, inzwischen 53 Jahre alt, lieferte hieb- und stichfestes Material für die politische Arbeit der Partei. „Heute kommuniziert die Partei scharf, präzise und auf den Punkt gebracht.“ Ein Kompliment, worauf man stolz sein darf. Man wollte aber nicht nur über trockene Papiere an die Leute herankommen, „sondern auch das Herz ansprechen“, wie es Peter Mertens ausdrückte.

Eine Partei mit angeschlossener Gesundheitsorganisation

 

Wer den Erfolg der PTB/PvdA verstehen will, kommt, wie bereits angedeutet, an der Gesundheitsorganisation Medizin für das Volk (MPLP) nicht vorbei. Sie verfügt aktuell über ein Netzwerk von 11 Gesundheitszentren, in denen 250 Leute arbeiten, davon 65 Ärztinnen und Ärzte, außerdem Pflege- und Verwaltungspersonal. Die Organisation betreut etwa 25 000 Patient*innen. Die Gesundheitszentren haben einen über 50jährigen Kampf hinter sich. Sie schon in den Anfängen zu eliminieren, war das erklärte Ziel der ärztlichen Standesvertretungen. Klar, denn eine kostenlose Patientenversorgung gefährdet das Geschäftsmodell, das Krankheit als Profitquelle sieht. Es begann 1971, als die beiden Ärzte Kris Merckx und Michel Lyers ihre Praxen in der Arbeiterkommune Hoboken bei Antwerpen einrichteten. Hoboken hat etwa 60 000 Einwohner. Sie hatten den Anspruch, eine kostenlose Gesundheitsversorgung zu praktizieren. In Belgien mussten damals Arztbesuche und Medikamente von den Patienten bezahlt werden. Anschließend konnte ein Teil von der jeweiligen Krankenkasse eingefordert werden. Die Standesorganisation verklagte sie daraufhin wegen unlauteren Wettbewerbs. Beide Ärzte wurden suspendiert, praktizierten aber weiter. Daraufhin wurden sie wegen „illegaler Ausübung der Medizin“ verurteilt. In den folgenden Jahren wurden Beschlagnahmeaktionen mit Hilfe der Bevölkerung abgewehrt. Es kam immer wieder zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Letztendlich war man aber erfolgreich und konnte sogar Einfluss nehmen auf Veränderungen in der Gesundheitsgesetzgebung des Landes. 1978, also sieben Jahre nach den ersten Versuchen, gab es fünf medizinische Zentren. Ab 2000 verteilten sich diese Zentren über ganz Belgien mit den Schwerpunkten in Arbeiterkommunen. In den Mittelpunkt der Arbeit rückten zunehmend arbeitsbezogene Gesundheitsfragen, z.B. stressbedingte Erkrankungen. Bereits 1985 war als weitere Organisation „Medizin für die 3.Welt“ gegründet worden. Diese schickte medizinisches Personal in verschiedene Länder, u.a. in die Palästinenserlager im Libanon, auf die Philippinen, nach El Salvador, Nicaragua, Burkina Faso und Eritrea. 2003 erschien Dr. Dirk van Duppens Buch „Der Cholesterinkrieg“ im Rahmen einer Kampagne gegen „Big Pharma“. Das Buch nahm die exorbitant hohen Arzneimittelpreise in Belgien ins Visier und propagierte im sog. Kiwi-Modell die Senkung der Preise. Nach diesem Modell aus Neuseeland sollten beim Einkauf von Medikamenten Qualität und Preis die entscheidenden Kriterien sein. Auch diese Kampagne war erfolgreich und führte zu einer deutlichen Senkung der Einkaufspreise. Dr. Dirk Van Duppen, der nach seinem Medizinstudium in einer Gerberei gearbeitet hatte und als Arzt in den Palästinenserlagern Sabra und Shatila tätig war, starb 2020 an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Er bekam posthum den belgischen Menschenrechtspreis verliehen. Der Sohn Ben ist Quantenphysiker und Stadtrat der PTB/PvdA in Borgerhout, einem Stadtteil von Antwerpen mit 45 000 Einwohnern. 2008 erschien Dr. Kris Merckx' Buch „Volksarzt“. In ihm geht es um die Bedeutung der sozialen Determinanten von Gesundheit und Krankheit. In der Coronapandemie spielte die MPLP für Belgien eine bedeutende Rolle. Im Unterschied zu den staatlichen Institutionen war man in den Zentren auf die Pandemie besser vorbereitet und konzentrierte sich auf den Schutz der Altenheime. Die Leitung der MPLP war inzwischen in die Hände dreier Frauen übergegangen.

Leitungsteam der MPLP

Und auch das ist typisch: Präsidentin ist Janneke Ronse, eine Krankenschwester, damals 34 Jahre alt. Ihr zur Seite die beiden Allgemeinärztinnen Dr. Anne Delespaul (links, damals 28) und Dr. Sofie Merckx (Mitte), damals 42 (2017). Zum Umgang mit der Pandemie schrieb Peter Mertens das Buch „Uns haben sie vergessen. Die werktätige Klasse, die Pflege und die Krise, die kommt.“ Die deutsche Ausgabe des Buches ist im Berliner „verlag am park“ 2020 erschienen. Es zu lesen, ist auch denen zu empfehlen, die sich in der ganzen Coronadebatte verunsichern ließen.

Die weitere Entwicklung der PTB/PVdA

 

Die Partei kommuniziert zentrale Kampagnen zunehmend über die sog sozialen Medien, aber auch über Bücher. 2011 war es der Titel „Wie können sie es wagen?“, der es in die TOP 10 – Sachbuchliste in Flandern schaffte und das am Zweithäufigsten verkaufte politische Buch wurde. Peter Mertens machte es in 150 Veranstaltungen im ganzen Land bekannt. Im Untertitel heißt es: Der Euro, die Krise und der große Raubzug. Ein Jahr später, 2012, plante die Partei in den drei Städten Antwerpen, Lüttich und Molenbeek den Durchbruch bei der Kommunalwahl zu schaffen. Tatsächlich gelang es in Lüttich mit 6,41 und in Antwerpen mit 8 Prozent. 2014 bei der Wahl zum nationalen Parlament erhielt die Liste der PTB/PvdA bereits 251 276 Stimmen. Raoul Hedebouw aus Lüttich und Marco van Hees aus Hennegau konnten ins Parlament einziehen. Sie waren seit 33 Jahren die ersten marxistischen Abgeordneten. Der Biologe Hedebouw, 45, stammt aus einer klassischen Arbeiterfamilie. Der Vater Stahlarbeiter bei Arcelor Mittal, die Mutter Arbeiterin in einem Betrieb für medizinische Geräte. Seit 2021 ist Hedebouw Präsident der PTB/PvdA. Marco van Hees, 59, ist der Steuerexperte der Partei. Er arbeitete im Finanzministerium. Jährlich ermittelt er die TOP 50 Unternehmen, die keine oder wenig Steuern zahlen. Wir schreiben das Jahr 2015, zwölf Jahre nach dem Beginn der Erneuerung von 2003. Zeit für eine weitere Zwischenbilanz. Statt 800 Mitgliedern sind es jetzt 8500. Statt 80 Gruppen sind es jetzt 280 und statt 5 lokalen Gemeinderäten sind es jetzt 8 Abgeordnete in den Parlamenten und 52 kommunale Räte. Um diese Entwicklung zu reflektieren und einzuordnen, wurde ein Kongress vorbereitet und abgehalten, der als Solidaritätskongress in die Parteigeschichte einging. Die Ergebnisse fanden ihren Niederschlag in dem Sammelband mit dem Titel „Verbreitern – Vertiefen – Verbinden“. Wer sich mit der Erfolgsgeschichte der PTB/PvdA genauer beschäftigen will, sollte sich diese 273seitige Textsammlung, die auf Deutsch auf der Homepage abrufbar ist, zu Gemüte führen. Im selben Jahr fanden in Belgien Kommunalwahlen statt. Die Partei erreichte Ergebnisse von 15 Prozent und mehr. Um es an einem Beispiel festzumachen: Nadia Moscufo, eine ehemalige ALDI-Kassiererin, die seit 2000 im Gemeinderat von Herstal/Lüttich sitzt, war nun Vorsitzende einer Fraktion von neun Abgeordneten. Warum erwähne ich Nadia Moscufo, die heute 59 Jahre alt ist? Die Partei ist seit langem bemüht, Kader aus der Arbeiterklasse zu gewinnen. Nach eigener Einschätzung bisher mit mäßigem Erfolg. Nadia Moscufo stammt aus einer italienischen Gastarbeiterfamilie. Beide Elternteile arbeiteten in einer belgischen Waffenfabrik. Beide waren Mitglieder der Kommunistischen Partei Italiens und Gewerkschaftsaktivisten. Sie selber saß 21 Jahre bei ALDI an der Kasse. Seit 2019 ist sie Abgeordnete im Bundesparlament und beschäftigt sich mit Verteidigungspolitik. 2016 kam Belgien in die Schlagzeilen, als sich die wallonische Regierung gegen CETA, das umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen der EU mit Kanada aussprach. Besonders umstritten war der Investitionsschutz, der es Unternehmen ermöglichen sollte, bei veränderter Rechtslage von Staaten Schadensersatz zu fordern. Die PTB/PvdA war hier eine treibende Kraft in Bezug auf die Ablehnung des Abkommens. Als 2019 wieder das nationale Parlament gewählt wurde, konnte die Partei die Erfolgsserie fortsetzen. Mit über 500 000 Stimmen verdoppelte sie ihre Stimmenzahl erneut. Statt zwei Abgeordneten sitzen jetzt zwölf im nationalen Parlament und fünf im Senat. Mit dem Juristen Marc Botenga verfügt die Partei über einen Vertreter im EU-Parlament. Er spricht Niederländisch, Französisch, Englisch und Italienisch. Er schloss sich der konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken /Nordische Grüne Linke an.

Die Verankerung in der Klasse

 

Aber die Partei hatte nicht nur ihre Präsenz im parlamentarischen Bereich deutlich ausbauen können. Noch wichtiger ist ihr die Verankerung in der Klasse. Ein Gewerkschafter drückte es so aus: „Es ist ganz einfach: Wenn du einen Streikposten besuchst, hast du neun von zehn Chancen, auf einen PTB-Aktivisten zu treffen, deutlich weniger, einem Sozialdemokraten über den Weg zu laufen.“ Die Partei kann sich inzwischen auf 24 000 Mitglieder stützen, ein Großteil davon sind allerdings nur beratende Mitglieder. Aus diesem Pool Aktivisten zu gewinnen, fällt der Partei schwer, wie sie selbstkritisch zugibt. Also (fast) alles in trockenen Tüchern? So einfach ist es natürlich nicht. Pascal Delwit, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität von Brüssel, beschäftigte sich auf wissenschaftlicher Basis mit der PTB/PvdA und kommt zu dem Ergebnis: „Dieses organisatorische Gebäude, das sich noch in der Entwicklung befindet, ist ein überraschender und einzigartiger Sieg in der Landschaft der radikalen linken Parteien. Sie wirft jedoch immer noch Fragen auf und offenbart gewisse Schwächen.“ Die erste Schwäche sei „ein gewisser Mangel an Symmetrie“. Was ist damit gemeint? Belgien ist ein gespaltenes Land, das macht auch der PTB/PvdA zu schaffen. Die Partei ist inzwischen in der französischsprachigen Wallonie gut verankert, deutlich geringer ist ihr Einfluss in Flandern. Delwit will drei Gründe erkennen: Erstens sei die Wallonie bis in die 1960er Jahre stärker industrialisiert und immer linker gewesen. Die sozialen Fragen würden in beiden Landesteilen unterschiedlich gewertet. In Flandern würden sie eher national beantwortet. Und schließlich gäbe es kein nationales belgisches Gefühl, sehr wohl aber ein nationales flämisches. Dieser Mangel an Symmetrie erschwere es der Partei, eine einheitliche Vorgehensweise zu entwickeln. Die Schwäche ist aber nicht dem Konzept der PTB/PvdA geschuldet. Die Partei ist sich dieses Sachverhalts bewusst und versucht gezielt dagegen anzugehen. Eine vergleichbare, wenn auch anders geartete Problematik existiert auch in Deutschland seit der sog. Vereinigung 1990. In Belgien driften die Regionen auseinander. Die bürgerlichen Parteien treten bereits im Doppelpack als wallonische und flämische auf, was eine Regierungsbildung noch komplizierter macht. Die Tendenz zum Auseinanderdividieren leistet dem Separatismus Vorschub. Ob es der Partei gelingen wird, gegen die separatistischen Bestrebungen in der Gesellschaft erfolgreich zu sein, wird sich zeigen. Nicht zufällig wurde der Parteikongress von 2021 als Einheitskongress bezeichnet. Von den sechs Schwerpunkten des Kongresses hieß der erste Schwerpunkt: Wir wollen Einheit! Erst dann kamen wichtige Themen wie Antifaschismus, Frieden und Klima. Der Kongress orientierte mit diesen Schwerpunktsetzungen bereits auf das Superwahljahr 2024. In Belgien finden in diesem Jahr alle Wahlen statt. Im Juni die Europawahl, die Wahlen zum belgischen Bundesparlament und zwar für beide Häuser - Erste Kammer und Senat. Gleichzeitig werden auch die Parlamente der Bundesländer Flandern und Wallonie neugewählt sowie das Parlament der Region Brüssel-Hauptstadt. Im Oktober folgen dann die Kommunalwahlen. Kommen wir zu einer offenen Frage, die in der Partei als Problem erkannt ist. Die Parteiführung hat sehr genau beobachtet, was mit Syriza in Griechenland passiert ist, als sie an die Regierung gekommen war und ihr Programm umsetzen wollte. Belgien ist innerhalb der EU eines der kleinen Länder mit einem entsprechend geringen Einfluss. Selbst wenn es der PTB/PvdA zeitnah gelingen sollte, so stark zu werden, dass sie mit der Regierungsbildung beauftragt würde - manche trauen ihr das zu – macht man sich in der Parteiführung keine Illusionen. Ohne eine politische Linkswende in Ländern wie Deutschland und/oder Frankreich sind die Aussichten für die belgische Linke eher bescheiden. Dieses Problem ist aber von der PTB/PvdA nicht zu lösen. Wie auch? Die Partei definiert sich vorerst als konsequente Oppositionskraft für die Interessen der abhängig Beschäftigten. Sie macht aber auch vorsichtige Experimente in Richtung Übernahme von „Verantwortung“ auf unterer Ebene. So in der ostflandrischen Gemeinde Zelzate mit 13 000 Einwohnern. Dort hat sie zusammen mit der sozialdemokratischen Partei sp.a eine Mehrheit (sp.a mit 7 Räten und PTB/PvdA mit 6). Man einigte sich auf ein Konzept der gerechteren Lastenverteilung. Zentraler Punkt dabei ist eine „gerechte Steuerverlagerung“, bei der große Unternehmen und multinationale Konzerne mehr, Bürger und kleinere Unternehmen weniger Steuern schultern als bisher. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Bürgerbeteiligung. Jede Sitzung des Gemeinderats wird im Livestream übertragen. Raul Hedebouw: „Was wir hier gelernt haben, wollen wir an Dutzenden anderen Orten im Land anwenden.“

 

Eine völlig andere Herangehensweise

 

Das ist eine völlig andere Herangehensweise, als wir sie von der Linkspartei kennen. Diese verfügt zwar über ein fortschrittliches Parteiprogramm, im politischen Alltag, vor allem im parlamentarischen Bereich, herrscht aber Pragmatismus vor. Dazu „brodelt innerparteilich ein Fegefeuer der Eitelkeiten, wo gegenseitiges Misstrauen die dominierende Tugend ist. Vorstände und Parteitage sind schon lange von diesen Machtkämpfen geprägt…“. (Thies Gleiss, Mitglied im Parteivorstand, SOZ 2/22). Dieses Verhalten ist nicht zuletzt materiell bedingt. Wer sich nach oben durchkämpft , für den bzw. für die winken gut dotierte Posten beispielsweise in Landesregierungen (Thüringen, Bremen, früher Berlin). PTB/PvdA und die KPÖ-Gliederungen in Graz und Salzburg lösen derartige Probleme auf ihre Art. Das Grazer Partei-Urgestein Ernest Kaltenegger drückte es so aus: „Der erste Schritt, nicht korrumpiert zu werden, ist diese Einkommensbegrenzung. Aktuell sind das 2300 € netto, der Rest geht an Menschen in Notlagen.“ (Kontext Wochenzeitung, 24.5.2023).


links: Kay-Michael Dankl (KPÖ Salzburg), Mitte: Elke Kahr (Bürgermeisterin Graz, KPÖ), rechts: Marc Botenga MdEP, PTB/PvdA)

Die Entwicklung in Österreich zeigt, dass nicht nur in Belgien Veränderungen stattfinden, die zu vorsichtiger Hoffnung Anlass geben. Wenn parallel dazu in der deutschen Linken der Trend in die ganz andere Richtung geht, nämlich abwärts, ist das zwar unerfreulich, kann aber – siehe Belgien 2003 – zu neuem Nachdenken führen. Das Konzept Linkspartei, wie es aus PDS und WASG hervorgegangen ist, scheint an sein Ende gekommen zu sein. Jetzt gilt es, den Blick nach vorne zu richten und aus den lähmenden Auseinandersetzungen herauszukommen. Passiert das nicht zeitnah, könnte ein Scherbenhaufen die unerfreuliche Folge sein. Viel Porzellan ist schon zerschlagen. Angesichts der sich rapide zuspitzenden geopolitischen Lage müsste eine sich neuformierende Linke eine klare Position in der Frage von Krieg und Frieden einnehmen und ausgehend von einem konsequenten Klassenstandpunkt die Interessen der abhängig Beschäftigten in den Mittelpunkt stellen. Ob dann die Zielperspektive wie bei der PTB/PvdA als Sozialismus 2.0, als Ökosozialismus oder als solidarische Gesellschaft bezeichnet wird, sollte aktuell in der hiesigen Debatte die Gemüter nicht zu arg erhitzen. Es geht letztlich um die Eigentumsfrage. Um sie ernsthaft stellen zu können, sind Stellschrauben erforderlich. In der belgischen Partei der Arbeit sind sie erkennbar. In der Debatte der deutschen Linken sind sie das (noch) nicht. Es gibt mehr Fragen, als Antworten zu erwarten sind. Zum Schluss noch eine optimistische Prognose, die einen Blick weit nach vorne wirft. Aber warum auch nicht:

Ich bin überzeugt, dass Historiker in 200 Jahren sagen werden: Es gab eine Zeit, in der wir im Kapitalismus lebten. Es war der Profit, der darüber entschied, wohin die Ressourcen in der Gesellschaft gingen, nicht um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, sondern um mehr Profit zu machen. Und die Leute werden sagen, dass wir verrückt waren. Archäologen werden sich fragen, wie unsere Welt so überhaupt funktionieren konnte.“ Raoul Hedebouw, Präsident der PTB/PvdA

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Stand:5.6.2023