Die „Flüchtlingskrise“, oder die „Flüchtlingsfrage“ war ein beherrschendes Thema in der öffentlichen Diskussion der letzten Jahre. Ein Thema das häufig mit vielen Emotionen verbunden ist. Deshalb erscheint es sinnvoll und notwendig, die Fakten, die dabei eine Rolle spielen, nüchtern und realistisch darzustellen und zu analysieren. Was sind die Ursachen, die Bedingungen und was sind die Folgen?
Migration oder Flüchtlingsfrage
Zuerst kann man sich die Frage stellen, ob es sinnvoll ist, sich allein auf die „Flüchtlingsfrage“ im engeren Sinn zu konzentrieren, oder ob nicht das Thema weiter gefasst werden muss. Ob man nicht allgemein alle Migrationsbewegungen mit ihren Ursachen und Folgen einbeziehen sollte. Die Diskussion verdichtet sich zwar oft in der „Flüchtlingsfrage“, es werden dann aber doch (notwendigerweise) alle die Fragen und Themen angesprochen, die bei jeder Migration eine Rolle spielen: Warum gelingt oder scheitert Integration, bedarf es einer „Leitkultur“, für und gegen Multikulti, „gehört der Islam zu Deutschland“, das sind einige der Schlagwörter in der Auseinandersetzung, nichts davon bezieht sich ausschließlich auf Flüchtlinge.
Für Deutschland kann man mindestens folgende Kategorien von Migranten bzw. Migrationsbewegungen unterscheiden:
● Aktiv angeworbene ausländische Arbeitskräfte, die ehemaligen Gastarbeiter. (1955 erstes Abkommen mit Italien, ab 1960 Vereinbarungen mit weiteren Ländern, 1973 Anwerbestopp)
● Angehörige von EU Staaten, die in Deutschland leben und arbeiten
● Spätaussiedler
● Migranten, die Asyl beantragt haben, und die jetzt mit verschiedenen Rechtstiteln (anerkannt, subsidiärer Schutz, abgelehnt aber Abschiebeverbot, noch nicht entschieden) in Deutschland leben
● Eine kleinere Anzahl von meistens höher qualifizierten Arbeitskräften (IT-Experten), die nach der sogenannten „Greencard“ Regelung und ähnlichen Bestimmungen zugewandert sind. In Zukunft eventuell mehr Einwanderer nach dem neuen Einwanderungsgesetz, das die Bundesregierung im Oktober auf dem Weg gebracht hat.
Tatsache ist, dass die Mehrheit der Migranten (bzw. der Menschen mit Migrationshintergrund), die in Deutschland leben, nicht aus der Gruppe der Flüchtlinge stammt. Die größten Gruppen der Migranten sind nach wie vor die in den Jahren 55 bis 73 angeworbenen Arbeitskräfte und ihre Nachkommen und die EU-Ausländer, die ihr Recht auf freien Wohnsitz und Arbeitsplatzwahl wahrnehmen. Teilweise, wie etwa bei Italienern und Griechen, lassen sich die beiden Gruppen auch nicht mehr trennen.
Politisch gibt es aber eine starke Zuspitzung auf die „Flüchtlingsfrage“. In Medien und Politik wird teilweise der Eindruck erweckt, als wäre sie die alles entscheidende Frage (Seehofer: „die Mutter aller Probleme“). Diese Zuspitzung funktioniert vermutlich deshalb, weil von der Flüchtlingsfrage starke Bedrohungsängste ausgelöst werden können. Denn die Bewegungen der Flüchtlinge lassen sich, im Gegensatz zu anderen Arten der Migration, nicht oder nur sehr schwer steuern. Das Anwerben von Gastarbeitern konnte 1973 eingestellt werden, bei den Spätaussiedlern war von vornherein bekannt, dass nur eine begrenzte Anzahl dafür infrage kommt. Fluchtwellen werden dagegen von kriegerischen Konflikten, Armut und Verelendung oder den Folgen des Klimawandels ausgelöst. Sie betreffen potentiell einen erheblichen Teil der Weltbevölkerung, und damit eine sehr große Anzahl von Menschen. Jeder weiß oder ahnt, dass alle diese potentiellen Ursachen nicht unter Kontrolle sind. Niemand, egal ob USA, EU oder UNO kann hier Stabilität garantieren. Dies erzeugt Ängste, was natürlich von interessierte Seite angeheizt werden kann, und wird oft auch als viel schwerwiegender wahrgenommen wird, als durch die konkreten Zahlen gerechtfertigt wäre.
Immer wenn die Zahl der Asylanträge stärker anstieg, wurde in Deutschland eine heftige Diskussion entfacht und immer folgte dann ein Abbau der Asylrechte bzw. eine Verschärfung anderer dazugehörigen Bestimmungen. Auf die Flüchtlingswelle, ausgelöst durch die Auflösungskriege in Jugoslawien, folgte 1993 der sogenannte Asylkompromiss mit einer Einschränkung des individuellen Grundrechts auf Asyl (der geänderte Artikel 16a GG ermöglicht es jetzt sichere Herkunftsstaaten festzulegen). Nach der Grenzöffnung 2015 und der Aufnahme der Flüchtlinge der Balkanroute, erfolgten im sogenannten Asylpaket I (2015) und im Asylpaket II (2016) umfangreiche Änderungen (d.h. aus Sicht der Asylbewerber Verschlechterungen) in diversen einschlägigen Gesetzen. Zur Zeit sind bekanntlich die sogenannten Ankerzentren und verschärfte Abschieberegelungen geplant.
Die Ursachen: ungleiche Entwicklung im Kapitalismus, zunehmende Umweltrisiken
Die weltweite Entwicklung ist von starken Ungleichheiten geprägt. Bei allen Problemen in den kapitalistischen Zentren, sie sind nach wie vor Bereiche des Wohlstands und der Prosperität verglichen mit vielen anderen Regionen der Welt. Das Aufholen der bisher unterentwickelten Welt gestaltet sich sehr zäh und selektiv. Sieht man vom Sonderfall China ab, sind die verbleibenden Entwicklungserfolge nicht mehr so beeindruckend. Etliche Länder z.B. in Afrika waren und sind praktisch von einer aufholenden Entwicklung gänzlich abgekoppelt.
Damit reproduzieren sich ständig die Ursachen der Migration, die Zentren saugen Arbeitskräfte an und in der Peripherie gibt es viele Menschen, die mehr oder weniger verzweifelt eine Perspektive suchen. Grundsätzlich bezieht sich das Ansaugen von Arbeitskraft auf alle möglichen Stufen der Qualifikation. Je nach Land, Grenzregime, Einreiserecht und ganz praktisch den gegebenen Wegverhältnissen entwickeln sich dann die Migrationsströme. Latinos aus Mittelamerika als Erntehelfer in die USA. Kriegsflüchtlinge aus Syrien und Afghanistan nach Europa. Indische Programmierer mit Greencard ebenfalls in die USA und in Zukunft eventuell auch häufiger nach Deutschland. In fast allen Zielländern ist das Thema Migration hoch kontrovers. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen und heftige Auseinandersetzungen darüber wie Zuwanderung einzuschätzen ist und wie eine adäquate Vorgehensweise ausschauen könnte. Man denke nur an die Politik von Präsident Trump mit seiner Mauer gegen Mexiko und seiner Hetze gegen Mexikaner bzw. den Einreisestopp für Reisende aus fünf muslimischen Ländern, aber auch an den Widerstand von weiten Kreisen in den USA gegen diese Politik.
Wir leben in einem Kapitalismus, der in den letzten Jahrzehnten praktisch weltweit von Neoliberalismus geprägt war. Die Folge sind Ungleichheiten auf den verschiedensten Ebenen. Auch innerhalb von Deutschland gibt es Regionen von denen die Menschen fortziehen müssen und Ballungsgebiete, die Arbeitskräfte anziehen. Das setzt sich innerhalb von EU-Europa fort mit entsprechend prosperierenden und stagnierenden Regionen. Noch schärfer sind die Gegensätze im weltweiten Maßstab. Migration und Flucht ist immer vor diesen Hintergrund einzuschätzen und zu beurteilen. Solche ungleichen Entwicklungen sind sozusagen der Normalfall im Kapitalismus. Sie hat es schon immer gegeben und hat auch schon immer Ströme der Migration ausgelöst. Und das Kapital hat natürlich immer Interesse an Nachschub für (meistens) billige Arbeitskräfte.
Unmittelbare Ursachen für größere Fluchtbewegungen sind oft Kriege oder kriegsähnliche interne Auseinandersetzungen. Insbesondere sind Kriege die Ursache für den wellenförmigen Anstieg der Zahl von Flüchtenden, der dann als „Flüchtlingskrise“ in den Zielländern wahrgenommen wird. Allerdings sind die konkreten materiellen und sozialen Verhältnisse auch in nicht direkt von Krieg betroffenen Ländern oft kaum besser. Autoritäre und korrupte Regimes, verschärfen die Lage der dort lebenden Menschen. Vorherrschend ist eine Perspektivlosigkeit, die den Versuch in der Ferne Fuß zu fassen verlockend macht. Die Risiken dorthin zu gelangen und die Schwierigkeiten, die im Ankunftsland zu erwarten sind, erscheinen als hinnehmbar. Auf den Weg machen sich nicht unbedingt die ärmsten der Armen, sondern auch Menschen, die vergleichsweise gut ausgebildet sind und einen gewissen finanziellen Rückhalt in ihrer Familie haben, allerdings deshalb auch einen entsprechenden Erwartungsdruck ausgesetzt sind.
Durch den immer stärker sich bemerkbar machenden Klimawandel baut sich eine weitere Verschärfung der Situation auf. Denn wenn der für viele Regionen extrem wichtige Sektor der Subsistenzwirtschaft seine Fähigkeit verliert, für große Teile der Bevölkerung zumindest eine halbwegs auskömmliche wirtschaftliche Grundlage zu bilden, könnten bisher noch einigermaßen stabile Zonen noch weiter in den Krisenstrudel hineingezogen werden. (Die Gefährdung der Subsistenzwirtschaft muss dabei nicht notwendigerweise in den offiziellen Wirtschaftszahlen zum Ausdruck kommen, weil die Subsistenzwirtschaft meistens nur unzureichend statistisch erfasst wird.)
Ein sich abzeichnender politischer Konsens?
Während auf EU Ebene die Zukunft der „Dublin Vereinbarung“ (oder einer Nachfolge Regelung) noch völlig offen ist, zeichnet sich für Deutschland ein neuer politischer Konsens ab. Die Wirtschaft verlangt nach Arbeitskräften, sie fordert auch von den konservativen Parteien in dieser Hinsicht mehr Flexibilität. Einwanderung von ausgewählten Arbeitskräften soll ermöglicht werden. Dazu soll das neue Einwanderungsgesetz dienen. Vielleicht zeigt man dann auch etwas mehr Flexibilität gegenüber bereits hier lebenden Flüchtlingen, deren Antrag abgelehnt wurde, nach Maßgabe ihrer beruflichen Integration. Unkontrollierte Einwanderung ist aber weiterhin nicht erwünscht. Die Abschottung dagegen wird weiter ausgebaut. Auch wenn humanitäre Maßstäbe noch nicht generell und gänzlich aufgegeben wurden (ertrinkende Flüchtlinge sind noch nicht allgemein akzeptabel) schreitet die Brutalisierung immer weiter voran.
Bekämpfung der Fluchtursachen, ein zweischneidiges Schwert
Die Vorstellung bevorzugt Hilfeleistungen nahe an den Ursachen zu geben und die Migrationsursachen und Fluchtgründe anzugehen, erscheint auf dem ersten Blick vernünftig und kann im Prinzip unterstützt werden. Oskar Lafontaine hat z.B. argumentiert, dass mit mit den für die Flüchtlingsbetreuung hier eingesetzten Geldmitteln in den Herkunftsländern bzw. deren Nachbarländern wesentlich mehr erreichbar wäre. Richtig ist sicher auch die Feststellung, dass die große Mehrheit der Flüchtlinge/Migranten eine realistische Perspektive in ihren Herkunftsländern der Auswanderung vorziehen würde. Allerdings ist die Parole „Bekämpfung der Fluchtursachen“ ein zweischneidiges Schwert. Man darf sich nicht täuschen lassen. Es besteht die Gefahr, dass zu einem erheblichen Ausmaß Etikettenschwindel betrieben wird. Es geht oft mitnichten um die Hilfe für potentielle Migranten, sondern um die Etablierung von abschreckenden Strukturen, es geht um Hilfe für Regierungen und die sie tragenden Klassen als Belohnung für reibungslose Zusammenarbeit, Hilfe zur Rückkehr von einzelnen Menschen in ihre Heimatländer, die aber bei der simplen Rückkehr stehenbleibt, und damit auch die Rückkehr in die alte Misere bedeutet. Oder es wird gleich die Beseitigung des Problems per Beschluss angestrebt, indem weitere Staaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden.
Was bedeutet Migration für die Zielländer
Da gilt es zuerst einmal zu unterscheiden für wen in den Zielländern. Wie oben ausgeführt, hat das Kapital grundsätzlich ein Interesse an zuwandernden Arbeitskräften. Auch für den Staat, als ideellen Gesamtkapitalisten, kann es naheliegend sein auf sich abzeichnende Engpässe in der Bevölkerungsstruktur durch Zulassung von Einwanderung zu reagieren. Viele Ökonomen sehen in kontinuierlicher Zuwanderung eine Ursache für und einen Weg zu Wirtschaftswachstum und Prosperität.
Allerdings gibt es auch eine andere Sicht der Dinge. Zuwanderung bedeutet auch verstärkte Konkurrenz um Arbeitsplätze und Druck auf die Löhne, meistens besonders im Niedriglohn Sektor. Es bedeutet auch Zunahme des Mangels an bezahlbaren Wohnungen. Auch in einer Reihe von anderen Bereichen können Probleme entstehen, z.B. verursacht die Integration von Kindern mit anderer Muttersprache erhebliche Belastungen für meistens sowieso unterfinanzierten Bildungseinrichtungen.
Vorteile und Nachteile können also höchst ungleich verteilt sein.
Was macht Migration mit den Herkunftsländern
Die Auswirkung auf die Herkunftsländer wird meistens in der Diskussion vernachlässigt. Sie sind zwiespältig. Eher positiv ist der Zustrom an Devisen zu verzeichnen, der durch Überweisungen der Migranten an ihre zurückgebliebenen Familien und Angehörigen erfolgt. Für viele Länder ist das eine bedeutende Devisenquelle, für mache sogar die bedeutendste. Der Druck auf den inländischen Arbeitsmarkt wird durch Abwanderung gelindert. Eventuell ist Migration auch ein Ventil für politischen Druck, was im Interesse der jeweiligen Machthaber wäre. Ein wesentlicher Nachteil ist der sogenannten Brain-Drain, gerade die gut ausgebildeten Menschen verlassen das Land. So wird z.B. von Malawi berichtet, dass in England inzwischen mehr malawische Ärzte praktizieren als in Malawi selbst, obwohl für die medizinische Versorgung des Landes Ärzte dringend gebraucht würden. Dadurch ergibt sich das Paradox, dass die armen Ländern die Ausbildung finanzieren, die dann den reichen Metropolen zugute kommt.
Grundsätzlich ist auch festzustellen, dass Migration dazu führen kann und oft auch dazu führt, dass die Ungleichheit und der Status als abhängige Wirtschaftsregion eher verfestigt als überwunden wird. Wenn die aktiven und relativ gut ausgebildeten Kräfte ins Ausland gehen, wer sollte dann eine Produktivkraftentwicklung vorantreiben? Rücküberweisungen können zwar für viele Angehörigen eine oft bitter notwendige Hilfe sein, fließen aber meistens in den Konsum von importierten Gütern. Eine eigenständige Entwicklung wird dadurch selten angeregt.
Auf der politischen Ebene gibt es leider wenig Ansatzpunkte für die prinzipiell sinnvolle und wünschenswerte, solidarische Zusammenarbeit von (linken) Organisationen aus der Peripherie und den Zentren. Zur Zeit ist nicht zu erkennen, dass ein solcher echter Internationalismus politisch wirksam werden könnte.
Offene Grenzen sind nicht die Lösung
Deutschland ist seit langen ein Einwanderungsland, auch wenn man das bis vor kurzen in weiten Kreisen noch verleugnet hat. Was bedeutet aber diese Feststellung ? Einwanderungsgesellschaften versuchen die Einwanderung nach ihren Interessen zu steuern, Sie wollen festlegen wer, welche Qualifikationen, wie viele davon, wann einwandern dürfen. Handlungsanleitend ist das „Interesse des Landes“. Wie definiert sich aber dieses „Interesse des Landes“. Letztlich sind durch die kapitalistischen Verhältnisse bestimmte Interessen und nicht Humanität entscheidend. Es ist nicht zu erkennen wie das geändert werden könnte, ohne auch die Machtverhältnisse grundlegend zu ändern. Wer diese letztliche Interessenbestimmung durch den Kapitalismus nicht erkennt oder wahrhaben will, wird die Bildung einer wirklichen antikapitalistischen Kraft nicht stärken sondern schwächen.
Diese Feststellung ist notwendig, um eine adäquate linke Antwort und Herangehensweise auf die gesellschaftlichen Fragen verknüpft mit Migration und Flucht zu finden. Antworten, die nicht von der gesellschaftlichen Situation abstrahieren und sich auf abstrakt moralische Positionen beschränken. Antworten, die den Klassenstandpunkt explizit mit einbeziehen, die auch die Kräfteverhältnisse in der kapitalistischen Weltgesellschaft nicht außer acht lassen. Antworten, die von Solidarität und der Einheit der arbeitenden Klasse geprägt sind.
Weit verbreitet bei vielen kritischen Bürgern und auch in der Partei „Die Linke“ sind Forderungen nach einer Öffnung der Grenzen und der weitgehenden Freigabe von Einwanderung. Offene Grenzen versprechen eine radikale und grundsätzliche Lösung für das Problem und nicht nur ein Herumdoktern an Symptomen. Die Forderung hat deswegen eine gewisse Überzeugungskraft. Aber realistisch betrachtet ist sie illusionär, wirklich auf die Probe gestellt kann das nicht funktionieren. Entscheidend ist, solche Forderungen nach Öffnung der Grenzen geben eine falsche Perspektive für jeden langfristigen Kampf. Die sozialen Probleme der Welt werden nicht durch Aus- und Einwanderung gelöst. Aufnahme von Flüchtenden kann immer nur ein Notbehelf (wenn auch für viele ein lebensrettender) sein, aber nicht die echte Lösung des Problems, die auch die Reproduktion der Flucht- und Migrationsursachen beseitigen würde.
Auch wenn es vermutlich nicht in der Absicht der Befürworter ist, nähern sie sich damit der Vorstellung von einer völlig freien weltweiten Konkurrenz der Individuen um die Arbeitsplätze an. Es wird dabei ausgeblendet, dass bisher Sozialstaatlichkeit, Tarifverträge und ähnliche Regelungen praktisch ausschließlich im Rahmen von Nationalstaaten durchgesetzt werden konnten. Hauptsächlich nationalstaatlich organisiert sind auch die Strukturen, die den Sozialstaat erkämpft haben und zu seiner Verteidigung in Frage kommen, wie etwa Gewerkschaften, Parteien etc.. Alle sozialen Errungenschaften beruhen auf Klassenkompromissen. Durch starke Migration können die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen solcher Kompromisse verändert werden. Ein großes Angebot an Arbeitskräften kann Tarifverträge aushöhlen, steigender Finanzbedarf für Sozialleistungen kann den entsprechenden früher erzielten Kompromiss bei Steuerfragen gefährden. Man muss diesen Sachverhalt der nationalstaatlichen Verfasstheit nicht gut finden, aber er ist zuerst einmal eine Gegebenheit und nur der Wunsch allein bringt noch keine Änderung. Um es auf den Punkt zu bringen, vollkommen offene Grenzen wären im Kapitalismus durchaus denkbar, bei den gegebenen Kräfteverhältnissen aber nur bei einer weitgehenden Aushöhlung des Sozialstaats. Viele Befürworter der offenen Grenzen scheinen noch nicht einmal diese Problematik erkannt zu haben, zumindest thematisieren sie diesen Punkt nicht.
Diese Kritik am Konzept der offenen Grenzen ist keineswegs gleichbedeutend mit einer Forderung nach Abschottung. Es geht nicht um eine Schließung der Grenzen und um einen Stopp der Einwanderung, sondern um die Erkenntnis, dass offene Grenzen ohne gleichzeitige weitgehende gesellschaftliche Veränderungen nicht das Ziel sein kann, auf dem sich die (sozialistische) Linke ausrichtet.
Offene Fragen
Aus dieser Analyse ergeben sich eine Reihe von Fragen. Wenn der Sozialstaat, so wie er aufgebaut ist (Tarifverträge und staatliche Umverteilung), durch massive Migration in Frage gestellt werden kann, würde das dafür sprechen die Migration zu begrenzen. Damit stellt sich natürlich die Frage welche Steuerungsmaßnahmen für uns denkbar und akzeptabel wären. Das ist eine sehr schwierige Frage, sowohl was die Formulierung eventueller Ziele wie Obergrenzen der Zuwanderung, eine eventuelle Differenzierung in Flüchtlingen und sonstigen Migranten und ähnliche öffentlich diskutierte Punkte betrifft. Genauso schwierig ist die Frage welche konkreten Maßnahmen zur Durchsetzung solcher Ziele akzeptiert werden könnten. Bei allen denkbaren Maßnahmen ist der Spielraum, bis die Grenze zum Inhumanen überschritten wird, sehr gering. Für diese Fragen gibt es zur Zeit keine überzeugende Lösungsvorschläge. Sie müssen also offen bleiben. Das ist zugegebenermaßen eine Schwäche der hier vertretenen Position. Der Einwand, dass die Linke zur Zeit sowieso zu schwach ist, um auf die tatsächlichen Handlungen und Verhaltensweisen der Staaten wesentlichen Einfluss zu nehmen, benennt zwar ein zutreffendes Faktum, löst aber das oben genannte Dilemma nicht.
Für Einheit in der Klasse
Es ist das Ziel der Linken, das sollte unbestritten sein, die Einheit innerhalb der arbeitenden Klasse zu stärken, egal ob Klassenangehörigen eingeboren oder wann auch immer eingewandert sind, um gemeinsam für soziale Absicherung und gegen Verschlechterungen zu kämpfen.
Die globale Spaltung zwischen kapitalistischen Zentren und den verschiedenen Stufen der Peripherie, die letztlich die Ursache der diversen Migrationsströme ist, bleibt dadurch aber unberührt. Eine grundsätzliche Lösung würde gesellschaftliche Veränderungen in Zentren und Peripherie erfordern. Gewiss, kurzfristig sind hier keine Erfolge zu erwarten. Trotzdem muss daran festgehalten werden, dass nur so eine wirkliche Lösung möglich ist.
Langfristig muss es für eine sozialistische Linke das Ziel sein die Verankerung in allen Teilen der arbeitenden Klasse zu verstärken und durchaus auch zu versuchen den Teil mitzunehmen, der spontan zu problematischen (ausländerfeindlichen, ja rassistischen) Vorstellungen neigt. Mitnehmen bedeutet nicht Anpassung an das gegebene Bewusstsein, sondern durch konsequente Interessenvertretung den Aufbau von Vertrauen und anschließende Überzeugungsarbeit.
Probleme die durch Einwanderung entstehen oder verschärft werden (Wohnungsmangel, Lohndruck besonders bei einfachen Arbeiten, Bildungswesen) dürfen nicht verschwiegen, kleingeredet oder verdrängt werden. Denn bei solchen Punkten setzt die rechte Propaganda an und findet eine scheinbare Bestätigung in der Realität. Vielmehr ist es die Aufgabe von Linken diese Punkte zu analysieren und solidarische Vorschläge zu ihrer Beseitigung/Milderung zu entwickeln. Dabei müssen die wahren Schuldigen benannt werden, Vorstellungen, die die Migranten zum Sündenbock machen ist entgegenzutreten.
Beim Wohnungsmangel kann z.B. eindeutig gezeigt werden, dass die Probleme durch die ungleiche Entwicklung innerhalb Deutschlands und die davon verursachten Bodenpreissteigerungen in den Ballungsgebieten, durch die Rückführung des öffentlichen Engagements für den sozialen Wohnungsbau und ganz allgemein durch die vorherrschende Marktgläubigkeit und den Interessen der Eigentümer nahestehende Politik verursacht werden.
Idealerweise könnte gezeigt und vermittelt werden, dass die Probleme der Einheimischen, der Migranten und der potentiellen Migranten letztlich die gleichen Ursachen haben. Dieses Ziel ist zugegebenermaßen in der Praxis nicht immer zu erreichen, aber es sollte eine Richtschnur bei allen Aktivitäten, praktisch wie propagandistisch, sein. Selbstverständlich ist jeder rassistischen Hetze entgegenzutreten.
Gegen eine Spaltung der Linken
Auch wenn wir durch Einwanderung verursachte Probleme nicht verschweigen, dürfen wir keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass inhumane Maßnahmen für uns in keiner Weise akzeptabel sind. Den Armen und Flüchtenden gilt unsere Solidarität, eine „Lösung“ darf nicht auf ihren Rücken erfolgen. Das Einstellen der Seenotrettung ist nicht hinnehmbar. Es darf kein Paktieren mit zweifelhaften Kräften z.B. gewissen Milizen in Libyen geben. Bei solchen konkreten Fragen ist selbstverständlich die Zusammenarbeit mit rein humanitär orientierten Kräften sinnvoll und notwendig. Es soll niemand dafür kritisiert werden, dass er sich für humanitäre Ziele einsetzt, kurzfristig sind Forderungen nach humanitären Schutz das einzig noch einigermaßen durchsetzbare und bleiben deshalb auf der Tagesordnung.
Strategisch ist es aber für alle linken, auf Überwindung des Kapitalismus ausgerichteten Kräfte wichtig, humanitäres Engagement mit den sozialen Interessen aller Arbeitenden zusammen zu denken und, wo notwendig, wieder zusammen zu führen. Spaltungen innerhalb der arbeitenden Klassen in, zugespitzt formuliert, gut ausgebildete und gut verdienende, kosmopolitisch eingestellte auf der einen Seite und vorwiegend prekär Beschäftigte auf der anderen Seite sind bis zu einem gewissen Grade objektiv angelegt. Linke Politik darf nicht den Fehler machen zu einer Verhärtung und Vertiefung solcher Spaltungen beizutragen. Im Gegenteil linke Politik hat die Aufgabe die Gefahr solcher Spaltungstendenzen zu erkennen und durch eine bewusste Strategie, die die Einheit in der Klasse betont, entgegenzuwirken.
Wenden wir uns gegen eine Spaltung der Linken Kräfte. Leider gibt es dazu bereits Ansätze.