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Am 27. Februar verkündete Bundeskanzler Scholz, der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine markiere eine „Zeitenwende“. Und das bedeute: „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Als Zeitenwende wird in den bürgerlichen Medien aber auch die „entschlossene“ Reaktion von Scholz interpretiert:
 
Die enorme Aufrüstung der Bundeswehr: Die Rüstungsaufgaben sollen auf jährlich mehr als zwei Prozent des BIP steigen und dazu kommt eine Sonderausgabe von 100 Mrd. Euro.
 
Deutschland schließt sich den sehr weitgehenden Wirtschaftssanktionen gegen Russland an.

Deutschland wird entgegen früherer Bekundungen Waffen an die Ukraine liefern, die gerade vorher noch abgelehnt wurden.

Um unabhängig von russischem Gas zu werden, sollen zwei Terminals für Flüssiggas aus den USA und Katar gebaut werden. Der Stopp der Gaspipeline Nordstream 2 war zu diesem Zeitpunkt bereits beschlossen.

 

Das alles ist natürlich keine grundsätzliche Wende. Die Rüstungsausgaben wurden schon in den vergangenen Jahren drastisch erhöht (seit 2014 um über 50 Prozent). Auch Waffenexporte an kriegführende Länder sind keineswegs neu. Und Wirtschaftssanktionen gegen Russland gehören schon länger zum Arsenal deutscher Außenpolitik. Viele Auslandseinsätze der Bundeswehr und die Beteiligung am Krieg gegen Jugoslawien zeigen, dass deutsche Außenpolitik auch in der Vergangenheit keineswegs nur auf diplomatische Mittel setzte.
Doch strebte die deutsche Regierung, egal welche Partei die Regierung stellte, stets danach, zu Russland ein einigermaßen gutes Verhältnis zu erhalten und offen für Gespräche zu bleiben. Das entspricht den Interessen der deutschen Bourgeoisie, für die Russland noch immer eine gewisse Rolle spielt.
Aus den USA gab es daher immer wieder kritische Stimmen, die Deutschland eine zu nachgiebige Haltung gegenüber Russland vorwarfen. Deutlich wurde dies vor allem während der Präsidentschaft Donald Trumps. Aber auch die neue Administration machte auf etwas diplomatischere Art deutlich, dass von Deutschland mehr Rüstung und weniger Entgegenkommen an Russland (z.B. bei Nordstream 2) erwartet wird.
Als sich der Konflikt um die Ukraine immer weiter zuspitzte, wurde Olaf Scholz auch von nahezu allen bürgerlichen Medien als Zauderer bezeichnet. Ob konservativ oder liberal - alle verlangten entschlossenes Handeln, ohne Rücksichtnahme auf russische Befindlichkeiten. Transatlantische Positionen scheinen sich in allen Chefredaktionen von Presse, Rundfunk und Fernsehen durchgesetzt zu haben.
Die Rede von Scholz markiert daher ein Nachgeben gegenüber der veröffentlichten Meinung, vor allem aber gegenüber den Interessen der USA. Der Konfrontationskurs gegenüber Russland wird verschärft und in allen strittigen Fragen wird den US-Forderungen nachgegeben.
Die Anliegen so mancher Wählerinnen und Wähler der Grünen und der SPD werden dabei auf der Strecke bleiben. Schon vor der Kanzlerrede tönte Finanzminister Lindner, Deutschland habe in der Vergangenheit falsche Prioritäten gesetzt und z.B. einen Sozialstaat aufgebaut. Nun aber müsse die äußere Sicherheit Priorität haben. Striktere Bestimmungen für Waffenexporte, die im Koalitionsvertrag festgeschrieben wurden, sind ebenso obsolet wie der Klimaschutz, wenn russisches Gas durch amerikanisches Flüssiggas ersetzt wird.
Und ist die Büchse der Pandora erst einmal geöffnet, gibt es kein Halten mehr. Aus allen Ecken erschallen die Rufe nach weiteren Rollen rückwärts: Wiedereinführung der Wehrpflicht, längere Laufzeiten für Atomkraftwerke, späterer Ausstieg aus der Braunkohle. Und Oppositionsführer Friedrich Merz brachte sogar einen Einsatz der NATO in der Ukraine ins Spiel: „Es kann eine Situation geben, in der dann auch die Nato Entscheidungen treffen muss, Putin zu stoppen.“
Nicht alles davon wird so kommen, wie es jetzt propagiert wird. Aber erstaunlich ist es, wie schnell dabei politische und ideologische Überzeugungen über Bord geworfen werden. Die Vorstellung, internationale Konflikte durch Diplomatie lösen zu können, ist seit Willy Brandts Entspannungspolitik gegenüber Osteuropa und der Friedensbewegung gegen die Stationierung von US-Atomwaffen in den achtziger Jahren eine weitverbreitete Stimmung in der deutschen Bevölkerung. Das stimmt zum Teil mit den Interessen der Herrschenden nach guten Wirtschaftsbeziehungen zu Russland überein. Das alles wird heute als naiv und überholt verunglimpft. Der Friedensbewegung wird sogar die Schuld am russischen Überfall auf die Ukraine gegeben. So hieß es in der Welt vom 2.3.2022, die Friedensbewegung habe „mit ihren Plädoyers für Waffenverzicht und immerwährenden Dialog auch dazu beigetragen die heutige Ukraine einem Angriffskrieg auszusetzen.
Die Friedensbewegung[1] reagiert nicht einheitlich auf solche Vorwürfe. Manche scheinen tatsächlich so etwas wie Reue zu verspüren. Andere wissen nicht, wie sie angemessen reagieren können und fürchten den Bruch mit dem linksliberalen Milieu. Der Aufrüstung und den militärischen Kämpfen hatten sie immer nur moralische Prinzipien entgegenzusetzen. Jetzt, nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, fällt es ihnen schwer, die Politik der Bundesregierung und der NATO-Staaten mit eben diesen Prinzipien zu kritisieren. Eine entschiedene Opposition gegen die immense Aufrüstung und gegen weitere eskalierende Schritte ist so nicht möglich.
Erfreulich ist es daher, dass die Organisationen der Teile der Friedensbewegung klar Position beziehen mit eigenen Kundgebungen gegen den Krieg von den Regierungsparteien abgrenzen.
Ähnliche Diskussionen gibt es auch in der Linkspartei. Vor allem jene, die zu einer Koalition mit SPD und Grünen keine Alternative sehen, wollen keinen abweichenden Standpunkt zum Krieg äußern. In vielen Kommunalparlamenten verurteilen sie gemeinsam mit CDU, FDP, SPD und Grünen den russischen Einmarsch. Damit aber stellen sie ihre frühere Kritik an der NATO-Osterweiterung selbst in Frage. Ob diese Mitglieder der Linkspartei mit einer solchen Einstellung auch konsequent gegen die Politik der „Zeitenwende“ vorgehen können, ist zweifelhaft. Die Kritik der Rüstungsausgaben erfordert auch eine Kritik der NATO-Politik.
Nicht besser sieht es im gewerkschaftlichen Spektrum aus. Der DGB schrieb in einer Erklärung vom 2.3.2022: „Die Bundesregierung hat zu Recht verteidigungspolitisch schnell auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine reagiert.“ Das 100 Milliarden-Programm für die Bundeswehr wird nicht erwähnt und die dauerhafte Erhöhung des Rüstungshaushalts wird lediglich „nach wie vor kritisch“ gesehen, was wohl heißen soll, dass auch das geschluckt wird. Kritik an den Plänen der Bundesregierung kam bisher nur von einigen unteren Gewerkschaftsgremien. Wie bei der Durchsetzung der Hartz-Reformen scheinen die Gewerkschaftsführungen auch jetzt wieder bereit zu sein, einer Politik zum Durchbruch zu verhelfen, die sich gegen die eigenen Mitglieder richtet. Eine entschiedene Ablehnung der vorgesehenen Aufrüstung wurde bisher nur von unteren Gewerkschaftsgremien geäußert. Die anstehende Tarifrunde für die Beschäftigten des Sozial- und Erziehungsbereichs wird zeigen, wie weit die Gewerkschaften bereit sind, sich den Plänen der Regierung zu unterwerfen. Und es wird sich auch zeigen, wie sich die Mitglieder dazu verhalten.
Heute in Bezug auf den Krieg in der Ukraine Kritik an der Politik der Bundesregierung zu üben, erfordert die Bereitschaft, gegen den Strom zu schwimmen. Aber das muss nicht so bleiben. Die hohen Ausgaben für die Aufrüstung werden an anderer Stelle fehlen. Sozialausgaben, Gesundheitswesen und Bildung stehen zur Disposition. Die Inflation ist schon jetzt sehr hoch und wird durch Krieg und Sanktionen noch weiter steigen. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wird zunehmen und sich daraus ergebende Proteste sollten wir nicht der AfD überlassen. Linke und Friedensbewegte sollten daher schon heute auf die sozialen Folgen der vielgepriesenen Zeitenwende hinweisen und die Reaktionen der Bundesregierung auf den Krieg in der Ukraine zum Thema machen.
 
1 Unter Friedensbewegung werden hier nicht die Kundgebungen und Demonstrationen verstanden, die zur Zeit in vielen Orten stattfinden und in Solidarität mit der Ukraine mehr oder weniger deutlich die Politik der Regierung unterstützen. Es werden darunter vielmehr jene Gruppen verstanden, die schon seit vielen Jahren die Militarisierung Deutschlands und die Unterordnung unter die Politik der NATO kritisieren.