Die Streikbewegung im Herbst 2022 und der Zustand der konservativen Partei

In den letzten Monaten erlebte das Land eine große Streikwelle. Es streikten, unter anderem, Eisenbahnarbeiter, Krankenschwestern, Sanitäter, Lehrer, Universitätsdozenten, Beschäftigte bei der Post und im Öffentlichen Dienst. Die Woche Ende Januar/Anfang Februar sah die größten Streikaktionen seit 1979. Die meisten Arbeiter haben seit 2010, dem Beginn der Sparpolitik unter der Koalitionsregierung von Cameron, keine tatsächliche Lohnerhöhung mehr erhalten, während die Lebenshaltungskosten stiegen, besonders seit dem Krieg in der Ukraine mit den drastischen Preissteigerungen für Energie und Nahrungsmittel. Die Inflation liegt immer noch über 10%. Inzwischen können viele Menschen auch die Mittel für Heizung und Essen nicht mehr aufbringen und sind gezwungen, sich bei einem oder gar bei beiden einzuschränken. Kirchen, Pubs und Sozialzentren laden die Menschen auf eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen ein, auch damit sie sich dort aufwärmen können.

 

Bei den Verhandlungen ist den Eisenbahnergewerkschaften jetzt eine Lohnerhöhung von 9% angeboten worden, 5% sollen für 2022 gezahlt werden und 4% im Jahr 2023. Neben den Lohnforderungen geht es auch um Arbeitsbedingungen. Ein wichtiger Punkt sind dabei die sogenannten „Driver only- Züge“, in denen es nur einen Fahrer gibt und kein sonstiges Personal mehr. Diesbezüglich hat die Regierung einen Rückzieher gemacht. Die Gewerkschaft glaubt nämlich, dass die Regierung die 14 verschiedenen Bahngesellschaften, die es seit der Privatisierung gibt, dazu drängte, auf solche „Driver only-Züge“ umzustellen. Allerdings beinhaltet das Lohnangebot auch die Schließung aller Fahrkartenschalter, und Sonntagsarbeit soll als normale Arbeitszeit gelten, nicht mehr wie bisher als freiwillige Überstunden. Mick Lynch, der Generalsekretär der RMT (National Union of Rail, Maritime and Transport Workers), stufte das Angebot als armselig ein, weil es die Schließung aller Ticketschalter und Änderungen bei den Arbeitsbedingungen einschließt. Bevor abgestimmt wird, werden noch die Untergliederungen der Gewerkschaft RMT befragt. Mick Whelan, der Generalsekretär von ASLEF, der Lokomotivführergewerkschaft, erklärt, es gebe keinen Fortschritt in Bezug auf ein Abkommen für die Fahrer. Die Gewerkschaft der Büroangestellten, TSSA, ist offensichtlich gegen die Schließung aller Fahrkartenschalter, denn das würde diese Gewerkschaft dezimieren. Mick Whelan drohte, die Streiks könnten noch jahrelang fortgeführt werden, wenn man zu keiner Einigung bei den Lohnforderungen komme. Mark Servotka, der Führer der PCS, bei der die öffentlich Bediensteten organisiert sind, von denen zur Zeit 100.000 streiken, warnte, die Streiks könnten mindestens bis zum Sommer dauern, einschließlich koordinierter Aktionen mit anderen Gewerkschaften. Die größte Gewerkschaft der Schullehrer, NEU (National Education Union), hat in den letzten 14 Tagen einen Mitgliederzuwachs von bis jetzt 40.000 erhalten, die aus anderen, eher gemäßigten Organisationen wechselten - ein Ausdruck der Stimmung unter den Lehrern.

 

Die Regierung weigert sich, den Forderungen der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst nachzugeben. Sie hofft darauf, dass sich die Öffentlichkeit gegen die Streikenden stellt; aber dazu ist es nicht gekommen. Die streikenden Krankenschwestern genießen eine überwältigende Unterstützung. Die Regierung will ein neues Gesetz einführen, das Streiks im öffentlichen Bereich einschränkt. Die Beschäftigten sollen dabei einen bestimmten Grundservice gewährleisten, statt eines 100%igen Stillstands. Dies könnte die Europäische Menschenrechtskonvention verletzen. Im Augenblick fehlen dem Vereinigten Königreich 500.000 Arbeiter, wegen Krankheiten und der geringeren Einwanderung aufgrund des Brexit. Viele Arbeiter in Schlüsselpositionen sind in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt. Meinungsumfragen zeigen, dass eine Mehrheit den Brexit nun als Fehler ansieht, aber es gibt keine Mehrheit dafür, der EU wieder beizutreten.

 

Die konservative Partei, die Tories, die um 1679/1680 gegründet wurde, gilt als erfolgreichste politische Partei weltweit. Sie schaffte es über Jahrhunderte immer wieder, an der Macht zu sein. Aber heute schaut es so aus, als ob sie zerfallen könnte. Johnson musste wegen seiner Lügen zurücktreten. Es finden immer noch Untersuchungen gegen ihn statt wegen der vielen Partys, die während des Corona-Lockdowns stattfanden. Die Parteimitglieder wählten Liz Truss zu seiner Nachfolgerin. Ihr Minibudget, die angekündigten Steuersenkungen für die Reichen und die Absicht, die Thatcher-Politik wiederzubeleben, führten zu einer akuten Krise an den Finanzmärkten. Nach 45 Tagen musste sie zurücktreten und wurde von Rishi Sunak ersetzt. Sunak konnte die Wirtschaft stabilisieren. In sein Kabinett nahm er Vertreter der verschiedenen Parteigruppierungen der Tories auf, darunter auch sehr stark diskreditierte ehemalige Minister. Es gibt anscheinend mindestens zehn parteiinterne Gruppen unter den konservativen Parlamentariern, die jüngste davon ist die Conservative Grouth Group, also die Gefolgsleute von Truss. Johnson hat Rückenwind und er glaubt, er kann zurückkommen. Es gibt viele Intrigen und Hoffnungen, Sunak verdrängen zu können. Sunak wurde gezwungen, seinen Parteivorsitzenden, Nadhim Sahawi, zu feuern. Dieser ist ein Kurde aus Bagdad, der sehr reich geworden war, aber „vergessen“ hatte, Steuern für seinen enormen Reichtum zu bezahlen.

 

Starmer, der Parteichef von Labour, scheitert währenddessen daran, so etwas wie eine Alternative zur Politik der Tories anzubieten, obwohl er in Meinungsumfragen führt. Er hat Rachel Reeves. eine frühere Beamtin bei der Bank of England, zu einer Art Stellvertreterposition verholfen, während er Angela Rayner, seine gewählte Stellvertreterin, kaltstellte. Rayner, eine Frau der Arbeiterklasse aus der Gegend von Manchester, ist Sozialistin. Sie ging früh von der Schule ab und war als Teenager alleinerziehend. Starmer versuchte 2021 auch, Rayner aus ihrer Rolle im Schattenkabinett zu entfernen; dies musste er aber aufgeben. Er demütigte sie ständig, meiner Meinung nach in der Hoffnung, dass sie zurücktreten werde, aber sie hält durch und sagt ihre Meinung.

Eine allgemeine Wahl zum Parlament steht erst wieder 2024 an; aber wenn die Partei der Tories implodiert, könnte sie schon früher stattfinden. Was Labour bisher anbietet, ist allerdings nicht begeisternd im Hinblick auf größere Reformen im Interesse der Menschen aus der Arbeiterklasse.

 

m.j. (4/2/23)