Alles wie immer. Und doch wird vieles anders.

 

Auf den ersten Blick hat sich nichts bewegt. Eine bürgerlich-konservative Koalitionsregierung mit deutlicher parlamentarischer Mehrheit (CSU, Freie Wähler) war sich vor den Wahlen öffentlich einig, die Regierung in derselben Konstellation weiterzuführen. Nach den Wahlen hat diese Koalition eine wesentlich größere parlamentarische Mehrheit und wird weiterregieren. Zwar plustern sich Söder und Aiwanger noch auf und gockeln um die Details, aber das Ergebnis wird der gemeinsame Koalitionsvertrag sein. Inhaltlich trennt beide so wenig, dass es keinen Richtungsstreit geben kann.

Den Unterschied macht das teilweise erratische Verhalten des Parteiführers Aiwanger (FW). Man denke nur zurück an seine Weigerung, sich gegen Corona impfen zu lassen oder an seine merkwürdige Liebe zu Schneekanonen in Bayern, um den hoffnungslosen Wettbewerb mit österreichischen Skigebieten aufzunehmen.

Solche Eskapaden ließ die CSU-Führung in der letzten Legislaturperiode durchgehen, weil sie ihr zu unbedeutend oder auch etwas zu schmuddelig vorkamen. Doch Söders Kalkül, Aiwanger werde sich als der Clown, den er abgab, selbst demontieren, ging nicht auf. Die Umfragen vor den Wahlen wiesen bereits darauf hin, dass die FW ein zumindest gleichbleibend hohes Wahlergebnis einfahren würden, während Söders Ziel, die Mehrheit für die Alleinregierung zurückzugewinnen, Makulatur war. Die FW hatten die lange geübte Praxis der CSU kopiert und auf die Spitze getrieben. Die CSU verstand es, in Berlin in Regierungsverantwortung zu sein und sich gleichzeitig in München als einzige Opposition gegen die Bundespolitik aufzuplustern. Die FW schafften diesen Spagat jetzt innerhalb Bayerns.

Aiwanger ist bayerische Regierung und Opposition in einer Person, sehr zum Gefallen einer kräftig wachsenden Wählerschaft. Deshalb haben ihm die Skandale (Erdinger Rede über das Zurückholen der Demokratie, Flugblattaffäre in der Zeit seines politischen Erwachens) auch nicht geschadet – im Gegenteil. Er repräsentiert für jeden 6. Wähler (m/w/d) die nötige Distanz zum politischen Establishment wie kein anderer.

Diese Hahnenkämpfe im bürgerlichen Lager könnten der Linken eigentlich egal sein. Doch geht es um wesentlich mehr. Der Stimmenzuwachs der FW geht nicht zu Lasten der CSU, die ihr Landesergebnis von 2018 knapp wiederholt. Und der Zuwachs von über 4% geht auch nicht zu Lasten der AfD, die sogar noch stärker als die FW zulegt. Das konservative bis rechtsextreme Lager in Bayern schnellt von etwa 60% vor fünf Jahren auf 70% hoch, wenn man die christlich-grün-konservative ÖDP und die skurrile Bayernpartei (Wahlkampfparole „Los von Berlin“) dazu addiert.

Aufklärerische, gar linke Politik in Bayern war immer ein Minderheitsunterfangen, sie ist seit über sechzig Jahren weit von einer Regierungsfähigkeit entfernt. Aber 2023 manifestiert sich diese Verlagerung der Gewichte so deutlich wie nie zuvor. Inhaltliche Gründe, etwa der Streit um bayernbezogene Sachthemen spielen keine Rolle. Alles dreht sich – zumindest an der Oberfläche – um das Thema Migration, um das Thema Klimaschutz und damit um die „Verbotskultur“, die Wähler quer durch alle Klassen in Berlin verorten und die sie in Massen ablehnen. Der (virtuelle) Anteil der Ampelparteien in Bayern sinkt von einem knappen Drittel (2018) auf ein Viertel der Wählerstimmen. Und die SPD darf sich allmählich mit der 5%-Hürde vertraut machen, unter der die FDP bereits locker bleibt. Die LINKE selbst nähert sich den Ergebnissen der DKP in den 1970er Jahren an, auch wenn sie für die Politik in Berlin eigentlich nicht haftbar gemacht werden kann. Plakatierte Sachthemen - Pflegedebakel, Wohnungsmangel, Bildungsnot – sowohl der LINKEN als auch, erstaunlicherweise, der SPD bleiben ohne jede Resonanz im Wahlkampf, sie werden im Hinblick auf das eigene Wahlverhalten völlig ignoriert. Die GRÜNEN haben wie die schwarz-braunen Parteien ihre Plakatwerbung auf Portraitaufnahmen im Großformat und inhaltsbefreite Slogans umgestellt. GRÜN etwa titelt „Herz statt Hetze“, was eher zu einem Kardiologenkongress als zu einem Wahlkampf passt.

Die Rechtsentwicklung, die sich im Ergebnis spiegelt, schlägt also nicht nur in den östlichen, ach so DDR-verseuchten Bundesländern zu. Die ununterbrochene demokratische Grunderziehung im Westen immunisiert offenbar doch nicht gegen rechte Politikangebote. Wenn die Faktoren für die Verunsicherung einer sich als Mittelschicht betrachtenden Wählerschaft überhandnehmen und zugleich der Eindruck entsteht, die Politikverantwortlichen seien den Krisen nicht mehr gewachsen, weitet sich das Spektrum der „wählbaren“ Parteien nach rechts. Es ist also nicht so, dass Pflegedebakel, Wohnungsfragen oder Bildungsnot keine Rolle mehr spielen. Die Lösung der multiplen Probleme wird den Regierungsverantwortlichen weniger und weniger zugetraut, das macht rechte, populistische Ansätze so attraktiv.

Eine Besonderheit der Wahlergebnisse soll nicht unter den Tisch fallen. Das Resultat in München weist, vorsichtig formuliert, signifikante Unterschiede zum Landesergebnis auf. So bleiben die GRÜNEN 2023 nur marginal unter ihrem letzten Vergleichsergebnis (fast 31% mit Spitzen von 44% in München-Mitte), die SPD hält ihr schwaches Ergebnis einigermaßen und kommt auf über 12%. Und sogar die FDP überspringt die 5%-Hürde leicht. Selbst die LINKE schneidet deutlich besser als im Landesdurchschnitt ab. Die „Ampel“ kommt, auch wenn sie in München politisch nicht verbunden ist, auf fast 50% und hängt die Rechten (die über 5% zulegen) klar ab.

Gilt also, was über die politische Entwicklung in Bayern gesagt wurde, nicht für die Hauptstadt? Nur zum Teil. Die sozial-grün-liberalen Parteien in München haben eine politische (Erfolgs-)Geschichte über mindestens dreißig Jahre hinter sich. Die Stadt war vor wenigen Jahren noch schuldenfrei, die Gewerbe- und anderen Steuern flossen in Rekordströmen, Firmenansiedlungen und Arbeitsplätze waren kein Problem. Das hat das Klima in der Stadt bestimmt und die Substanz scheint der Mehrheit immer noch groß genug zu sein, da sind Störungen durch bauernaffine Bierzelthelden oder rechte Krakeeler weniger willkommen. Beinahe überflüssig zu erwähnen: Irgendwelche extravaganten Abweichungen vom bürgerlichen Politikbetrieb – Fehlanzeige. Man hat sich also, tolerant, nachhaltig und divers, wie man ist, eingelebt. Noch sind diejenigen, die durch das Raster fallen und sich das Leben in München nicht mehr oder nur unter den erbärmlichsten Bedingungen leisten können, deutlich in der Minderheit. Politisch macht sich die soziale Ungleichheit bisher nicht Luft. Doch spürbare Veränderungen sind auch in der Hauptstadt des „Leben und leben Lassens“ möglich, die bayerische Provinz macht es gerade vor.

 

he,m  18.10.2023