Gerd Callesen war ein ebenso hingebungsvoller Historiker wie er Sozialist war, beides gehörte für ihn geradezu existenziell zusammen. Man könnte ihn mit Gramsci als einen organischen Intellektuellen betrachten, der im Kampf um gesellschaftliche Hegemonie verschiedene Sphären vermittelt. Vielleicht hätte er die Zuschreibung als Intellektueller nicht gern gehört, denn seine Ehefrau Lena Fluger erinnerte sich: „Gerd war ja mit der Arbeiterbewegung verknüpft, nicht mit den Intellektuellen. […] Wir haben immer gemeint, dass die Intellektuellen ja abspringen können, die haben immer eine andere Möglichkeit gehabt, die können alles werden. So ist es gekommen. Selbstverständlich. Die Arbeiterklasse kann nicht aufhören, Arbeiterklasse zu sein. Diejenigen, die das können, tun das natürlich, die gehen auch weg.“1 Nicht so der Forschungsbibliothekar und Leiter der Bibliotheksabteilung am Archiv der Arbeiterbewegung (ABA) in Kopenhagen, der dort in seinen Jahren von 1970 bis 2002 tiefe Spuren hinterlassen hat.2 Und das nicht nur, weil er der Bibliothek seine Privatsammlungen von Zeitschriften wie Konkret oder Neue Kritik einverleibte und damit deutsche Periodika zur Verfügung stellte, die in Dänemark nicht leicht zu erhalten waren. Gerd Callesen kam aus Aabenraa (Apenrade), einem deutschnationalen und sozialkonservativen Elternhaus in der deutschen Minderheit Dänemarks und hat sich aus eigener Kraft seinen Weg hin zu sozialistischen und internationalistischen Überzeugungen gebahnt. Während seines 1961 begonnenen Geschichtsstudiums in Marburg, Tübingen und Kiel gehörte er dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) an – ein Studienjahr verbrachte er in Kopenhagen, wo er als studentische Hilfskraft am Archiv der dänischen Sozialdemokratie tätig war. Callesen promovierte 1970 an der Kieler Universität mit einer Arbeit zur Haltung der deutschen und der dänischen Sozialdemokratie zur Schleswig-Frage zwischen 1912 und 1924 – eine Studie, die er als „Beitrag zum sozialdemokratischen Internationalismus“ verstanden wissen wollte.3 Marxismus und Internationalismus waren aus seiner Sicht die Grundpfeiler der Geschichte der Arbeiterbewegung und sie definierten auch die Weite seines eigenen Horizonts. Gerd Callesen war aktiv in der International Association of Labour History Institutions seit ihrer Gründung 1970 und bei den blockübergreifenden Internationalen Tagungen der Historiker der Arbeiterbewegung in Linz.
Seine Vermittlerrolle zwischen Deutschland auf der einen – BRD und DDR gleichermaßen – und Dänemark auf der anderen Seite beruhte nicht auf nationalen oder ethnischen, sondern auf selbstgewählten politischen und fachlichen Bestimmungsfaktoren. Zunächst bezog sie sich auf die dänische und westdeutsche Linke, und sie begann nicht erst in Kopenhagen, sondern bereits in Kiel, wo dieser entgegenkommende und sanfte Mensch Anfang 1965 Vorsitzender des SDS an der Universität wurde. Dort pflegte der Verband schon seit einiger Zeit Kontakte mit skandinavischen, insbesondere dänischen sozialistischen Studentenverbänden – ein für Callesen, der über intime Kenntnisse der linken Szenen in beiden Ländern verfügte, ideales Betätigungsfeld. Er initiierte gemeinsame Seminare von SDS und dänischen Organisationen auf beiden Seiten der Grenze, vermittelte Texte dänischer Autoren in der deutschen linken Presse, darunter mehrfach die Zeitschrift Arbeiterpolitik, aber auch umgekehrt Texte deutscher Autorinnen in Skandinavien.4
Callesens Mitstreiterin beim Transfer sozialistischer Ideen und Initiativen zwischen der Bundesrepublik und Skandinavien war seit den mittleren 1960er bis in die frühen 1970er Jahre hinein Ursula Schmiederer, die als Politologin aus der Schule Wolfgang Abendroths – ab 1975 Professorin für Internationale Politik in Osnabrück – die Aufgabe der Wissenschaft darin sah, nicht nur zu analysieren, sondern auch einzugreifen.5 In ihrer 1969 erschienen Dissertation untersuchte Schmiederer Aufstieg und Krise der 1959 gegründeten Socialistisk Folkeparti, der es als einer der ersten Parteien der neuen Linken in Europa schwerfiel, sich vom Ballast der KP, aus der sie entstanden war, zu befreien. Beide nahmen etwa zeitgleich die Arbeit an ihren Dissertationen auf, beide arbeiteten zur dänischen Linken – Callesen aus historischer, Schmiederer aus politologischer Perspektive –, beide waren Marxisten, die die Aufgabe der Intelligenz in der Unterstützung der Arbeiterschaft und ihrer Organisationen sahen. Hingegen teilten sie nicht die Politik der „Antiautoritären“ im SDS, die die Arbeiterklasse für verbürgerlicht hielten und auf die Intelligenz und die Jugend setzten. 1974 erschien Schmiederers Dissertation, übersetzt von Lena und Lilian Fluger, als Band 1 der Schriftenreihe der dänischen Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung.6 Nach ihrem frühen Tod 1989 brachte Callesen ihren Nachlass ans ABA.
Als sich im SDS die „Antiautoritären“ durchgesetzt hatten, suchten „Traditionalisten“ wie er, die nach wie vor die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt betrachteten und auch am Bündnis mit den Gewerkschaften festhielten, nach neuen, nichtstalinistischen Organisationsformen. Callesen fand sie in der Gruppe Arbeiterpolitik, die sich auf die Tradition der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO) der Weimarer Republik berief. 1968 kamen Arpo-Leute, darunter ihr Vorkämpfer Josef Bergmann, aus Hamburg nach Kiel, so erinnerte er sich später, die fand er „irgendwie bewundernswert“, denn sie „wollten revolutionieren und wollten auch Taten“.7 Dieser Gruppe fühlte sich er sich zugehörig und sorgte später dafür, dass der an seinem Kopenhagener Archiv gesicherte KPO-Bestand an die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg kam, wo er verzeichnet und der Forschung zugänglich gemacht wurde.
Der internationalistische Hintergrund der Familie Callesen-Fluger brachte sie nach dem Ende der Kopenhagener Erwerbstätigkeit nach Wien, dem Geburtsort des Vaters von Lena Fluger, der als Sozialist nach den Februarkämpfen 1934 nach Dänemark gegangen war. Gerd Callesens Mutter kam ebenfalls aus Österreich, aus der Untersteiermark, dem heutigen Slowenien. Lena Fluger, im Hauptberuf Englisch-Lektorin an der früheren Kopenhagener Handelshochschule, arbeitete freiberuflich als Dolmetscherin bei der Europäischen Union, nach der Pensionierung wohnte das Ehepaar zeitweise in Brüssel, seit 2014 in Wien, wo die Tochter Louise lebt und Callesen sich ehrenamtlich am Archiv zur Geschichte der ArbeiterInnenbewegung betätigte. Vom Handwerk konnte er einfach nicht lassen.
Gerd Callesen hat nach der Dissertation einige kleinere Monografien – darunter Biografien über Persönlichkeiten der dänischen und österreichischen Arbeiterbewegung – und zahlreiche Aufsätze verfasst, Sammelbände herausgegeben und sich als eifriger Rezensent und Berichterstatter um die fachliche Kommunikation unter den Historikerinnen und Historikern der Arbeiterbewegung verdient gemacht.8 Unzählige Lexikon- und Zeitungsartikel aus seiner Feder brachten die Geschichte dieser Bewegung einer größeren Öffentlichkeit nahe. Als wesentliche Triebkraft der 1970 gegründeten dänischen Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung gab er die Sammelbände zu ihrem zehn- und zwanzigjährigen Jubiläum heraus und begründete die Geschichte der Arbeiterbewegung als eigenständigen Zweig der Geschichtsforschung.9 Callesens anhaltendes Interesse am Marxismus stellt seine langjährige Mitarbeit an der MEGA2 unter Beweis, der 1990 vom Amsterdamer Internationalen Institut für Sozialgeschichte initiierten Fortführung der historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe – ein wahrhaft internationales Langzeitprojekt, betrieben von Fachleuten aus zahlreichen Ländern.10 Das war ein Umfeld, in dem er sich als Beiträger und Herausgeber wohlfühlte.
Am 9. November 2023 ist Gerd Callesen in Wien verstorben.
Dr. Detlef Siegfried, Kopenhagen
1 Interview mit Gerd Callesen und Lena Fluger, Wien, 11.12.2021, Archiv d. Verf.
2 Vgl. den Nekrolog von Jesper Jørgensen im Social History Portal (12.12.2023).
3 Gerd Callesen, Die Schleswig-Frage in den Beziehungen zwischen dänischer und deutscher Sozialdemokratie von 1912-1924. Ein Beitrag zum sozialdemokratischen Internationalismus, Apenrade 1970.
4 So z.B. [Kjeld Schmidt], Die Krise der dänischen Gewerkschaftsbewegung, in: Arbeiterpolitik, Nr. 3, 20.6.1969, S. 10-13.
5 Vgl. Detlef Siegfried, Alternative Dänemark. Kosmopolitismus im westdeutschen Alternativmilieu 1965-1985, Göttingen 2023, S. 75-120.
6 Ursula Schmiederer, SF og den „tredie vej“ til socialisme, Kopenhagen 1974.
7 Interview mit Gerd Callesen und Lena Fluger, Wien, 11.12.2021, Archiv d. Verf.
8 Darunter Gerd Callesen, Den sidste landsfader?, Kopenhagen 1994; Gerd Callesen, Socialist Internationals: A Bibliography of Publications of the Social-Democratic and Socialist Internationals, 1914-2000, Bonn/Gent 2001.
9 Gerd Callesen, Arbejderbevægelsens historie som selvstændig forskningsgren, in: Gerd Callesen/Anne-Lise Walsted/Niels Ole Højstrup Jensen (Hrsg.), Fremad – ad nye veje. Bidrag til diskussionen om arbejderhistorien i 1990’erne, Kopenhagen 1990, S. 37-52.
10 Gerd Callesen, MEGA2. Stand und Perspektiven der Arbeiten an der zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe, in: Sozial.Geschichte Online, 4 (2010), S. 165-171 (12.12.2023).
Dieser Nachruf erschien zuvor in der Arbeiterpolitik: https://www.arbeiterpolitik.de