Das im Vorjahr erschienene Buch „The Tragedy of Ukraine“ von Nicolai Petro, Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Rhode Island, verdient Aufmerksamkeit, weil Petro das hierzulande gepflegte offizielle Narrativ über den Ukrainekonflikt in einem Punkt noch deutlicher als andere kritische Publikationen zu dem Thema widerlegt, und zwar auf Basis seines Studiums der Dokumente, die die Auseinandersetzungen innerhalb der Ukraine seit 2014 belegen.1 Petro teilt uns in der Einleitung mit, dass er 2013 mit einem Fulbright-Stipendium ein akademisches Jahr in der Ukraine verbrachte, ausgerechnet in dem Jahr, in dem die Proteste auf dem Maidan begannen. Das habe sein Interesse geweckt zu verstehen, was da vorging.
Aufmerksamkeit verdient das Buch, weil die Rolle der Nationalisten, genauer Faschisten, in Petros Argumentation einen zentralen Stellenwert einnimmt. Deren Einfluss wird hierzulande herunter- gespielt, wenn nicht geleugnet.2 Dass die Rolle der USA in dem Konflikt im Buch unterbelichtet bleibt, steht auf einem anderen Blatt. Die geopolitischen Interessen spricht Petro erst gegen Ende seiner Darstellung an.3 Er schenkt ihnen weniger Beachtung als dem historisch bedingten Konflikt zwischen der Galician und der Maloross Ukraine (266f.), weil er den Schlüssel für eine „reconciliation“ (Versöhnung) sucht.4
Petro interpretiert den Konflikt auf der Folie der griechischen Tragödie, weil er Wege aufzeigen möchte, über die den Bürgerkriegsparteien noch eine Aussöhnung ermöglicht werden könnte. Die Tragödie besteht für ihn darin, dass sich die Nationalisten hartnäckig der Regionalisierung widersetzten, die für die Ukraine aufgrund ihrer Geschichte geboten sei. Petro führt Autoren an, die von Ukraine im Plural sprechen (36). Die nationale Identität aber wurde von den meist aus der Westukraine, der „Galician Ukraine“, stammenden Nationalisten definiert, was absolut realitätsfremd war und die Zerreißprobe bedingte, die zum Bürgerkrieg führte. Dabei wäre nach Petro Offenheit für kulturelle Vielfalt gefordert gewesen, die Bereitschaft, die „Andere Ukraine“ anzuerkennen, um eine stabile, friedliche Ordnung zu schaffen. Er lässt keinen Zweifel daran, dass die Wurzel des Konflikts innerhalb der Ukraine zu suchen sei. In dem Kapitel über die Kämpfe nach dem Staatsstreich weist er die stupide Behauptung, Russland habe diese maßgeblich befeuert, zurück (211ff.).
Ich möchte mich hier auf das Kapitel 3 „The Fatal Attraction of the Far Right“ (Die verhängnisvolle Anziehungskraft der extremen Rechten) konzentrieren und den übrigen Inhalt im Folgenden nur knapp skizzieren.
Um den Leitgedanken seiner Konfliktdarstellung zu begründen, erläutert Petro im ersten Kapitel, was die antike Tragödie aus seiner Sicht mit dem gegenwärtigen Konflikt zu tun hat. Die Tragödie bestehe darin, dass Individuen oder auch Völker ihre Selbstzerstörung nicht aufhalten, weil sie sich der Konfliktursache nicht bewusst sind (31). Im zweiten Kapitel „Two Nations in One State“ (Zwei Nationen in einem Staat) geht Petro auf die Geschichte und die Geschichtspolitik, auf die gegensätzlichen Narrative der Galician und der Maloross Ukraine ein. Beide erzählten unterschiedliche Geschichten über dasselbe Land (38). Auch in der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg seien die Banderisten für die eine Seite Helden, für die andere Seite Verräter und Kriminelle. Die Unterdrückungslegende der Nationalisten widerlegt Petro in seinen historischen Ausführungen über die ukrainische SSR. Die Entwicklung der Ukraine seit der Unabhängigkeit sieht er zuerst gekennzeichnet durch das Bemühen der Regierung um eine Balance zwischen Westorientierung und traditioneller Bindung an Russland, spätestens ab 2004 unter der Präsidentschaft von Juschtschenko durch eine gesellschaftlich stark umstrittene Zuwendung zum Westen, die ab 2010 unter der Präsidentschaft von Janukowitsch abgeschwächt wurde. Westorientierung und Nationalismus werden als in der Galician Ukraine verankert gesehen.
Nach dem Kapitel über die Far Right will Petro im vierten Kapitel zeigen, wie der Nationalismus nicht nur politisch lähmt, sondern sogar innen- wie außenpolitisch eine selbstschädigende, nicht patriotische Politik bedingt. Er legt Wert auf die Unterscheidung zwischen Nationalismus und Patriotismus. Im Kampf gegen das Corona-Virus nahm man zum Beispiel höhere Kosten, Engpässe und das Misstrauen der Bevölkerung in Kauf, weil man den Impfstoff Sputnik V aus Russland ablehnte. Ein anderes Beispiel aus der Wirtschaftspolitik war die Schließung russischer Banken in der Ukraine, was die Überweisung der Remittances, der Arbeitsmigranten aus Russland, behinderte und die Deviseneinnahmen schmälerte. Generell kam die Abkoppelung von der russischen Wirtschaft „suicide economics“ (Selbstmord Ökonomie) gleich (151). Weil man Erdgaslieferungen aus Russland ablehnt, zahlt man einen höheren Preis für russisches Gas, das über die Slowakei, Ungarn und Polen geliefert wird. Für besonders selbstdestruktiv hält Petro die nationalistische Kulturpolitik mit dem Sprachgesetz und der Auflösung der orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats.
Im fünften Kapitel „The Tragedies of Crimea and Donbass“(Die Tragödien der Krim und des Donbass) bringt er viele Belege dafür, dass die Abtrennung der Krim nur als Sezession interpretiert werden kann und dass die Bevölkerung des Donbass schon spätestens ab 2004 der nationalistischen Bewegung in Galizien und in Kiew ablehnend gegenüberstand. Im sechsten Kapitel erinnert Petro an den bei uns ganz unbekannten Streitschlichtungsversuch aus dem Jahr 2014 in Genua unter Beteiligung Russlands, der USA und der EU, der von Poroschenko damals abgebrochen wurde. Er prüft aus der Ukraine kommende Vorschläge für die Beilegung des Konflikts, befragt historische Fälle, wie gespaltene Gesellschaften wieder zusammengefügt werden können und was für eine Aussöhnung hilfreich ist (z.B. Wahrheitskommissionen).
Nun zu den Ausführungen über die Ideologie und Strategie der extremen Rechten, die den im Westen dominanten Diskurs über die Ukraine als Schönfärberei entlarven.
Petro greift den verständlichen und verbreiteten Einwand auf, dass die Far Right bei Wahlen doch nicht sehr gut abgeschnitten habe. Immerhin zehn Prozent der Stimmen holte die Partei Swoboda bei der Parlamentswahl 2012 (96). Aber die Stärke der Rechten liegt nicht bei parlamentarischen Mehrheiten, wie schon in einer Studie der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik bestätigt wurde, und wird auch dort nicht gesucht. 2009 entwarf Dmitry Jarosch vom Rechten Sektor in einer Publikation die Strategie zur Vorbereitung der Wahl von 2012. Die darin vorgesehenen Zentren der national-revolutionären Indoktrination zur Mobilisierung von Bürgern und die Initiierung von Demonstrationen (96) dienten nicht nur der Wahlkampagne. Die Rechten sind zwar auch bestrebt, vor allem im Sicherheitsapparat Schlüsselpositionen zu besetzen – das gelang ihnen bereits 2012 – aber sie konzentrieren ihre politische Arbeit auf den außerparlamentarischen Bereich und üben Druck auf die Regierung aus. So erklärt sich der erstaunliche Wandel von Poroschenko wie Selenski nach ihrem Amtsantritt. Beide waren als Friedensbringer zur Wahl angetreten und mutierten zu Hardlinern. „Since 2014, all Ukrainian governments have kowtowed to Far Right nationalism“ (119). Alle Regierungen seit 2014 hätten sich dem Nationalismus der extremen Rechten gebeugt. Als Beispiel für das „Mainstreaming the Far Right“ führt Petro die Statements von Regierungsvertretern an, die Integration der Donbass-Bevölkerung erfordere ein Umerziehungsprogramm, Beschränkung der Bürgerrechte oder auch Präventivhaft für Personen mit russischem Pass (111). Die politische Macht der extremen Rechten in der Ukraine sei nicht mit den üblichen Maßstäben zu messen. „The Right Sector, and the Far Right in general, should thus be viewed as a supra-institutional, rather than a institutional aspect of Ukrainian political life“ (105) (Der rechte Sektor, und die extreme Rechte generell, sollten mehr als über-institutioneller, denn als institutioneller Aspekt des ukrainischen politischen Lebens gesehen werden). Asow scheint mit der Gründung von Jugendorganisationen etc. relativ erfolgreich bei der Gewinnung kultureller Hegemonie (s. unten). Die extreme Rechte insgesamt nutzt sehr effektiv die Sozialen Medien (100).
Drei Organisationen bestimmen nach Petro das politische Leben in der Ukraine: Swoboda als Partei, der Rechte Sektor und die Asow-Brigade, die weit mehr ist als eine militärische Einheit. Gleich nach der Unabhängigkeit seien mit finanzieller Unterstützung von Organisationen der Exil-Ukrainer nationalistische Organisationen geschaffen worden, oft Hand in Hand mit dem Aufbau paramilitärischer Strukturen (91), darunter die Sozial-nationale Partei der Ukraine (SNPU), die nach Einschätzung von Petro für eine ukrainische Variante des Nationalsozialismus steht, weil ihre Ideologie auf den „Zehn Geboten der ukrainischen Nationalisten“ des OUN-Ideologen Stepan Lenkavsky aus den 1920er Jahren basiere (ebd.).5 Oleh Tjahnybok, der die Partei nach einem Führungsstreit übernahm, habe die Partei 2004 in Swoboda (Freiheit) umbenannt, um dem Namen den unangenehmen (unpalatable) Beigeschmack zu nehmen (92).6 Nach dem Wahlsieg Juschtschenkos 2004 konnte Swoboda mehrere Vertreter im Regierungsapparat unterbringen. Nach der Wahl von 2012, in der Swoboda 10 Prozent erreichte, hätten moderate Oppositionsparteien sie umworben und dann auch 2013 mit ihr zum Aufstand aufgerufen (96f.).
Der Rechte Sektor ist im Zuge der Maidan-Proteste aus dem Bündnis von vier nationalistischen Organisationen hervorgegangen. Die von Jarosch entworfene Strategie des Rechten Sektors habe ich schon referiert. Die Vereinigung gewann nach Petro Anziehungskraft für Jugendliche (96). Im Lauf der Maidan-Proteste konnte sie 10.000 Kämpfer sammeln. Der Rechte Sektor sieht oder sah für sich nach Petro drei Aufgaben: den Widerstand auf der Krim und im Donbass zu brechen, die Regionen in der Zentralukraine zu befrieden (pacify) und die Regierung unter Kontrolle zu halten und einzuschüchtern (indimidation) (97). Jarosch habe regelmäßig mit dem Marsch seiner Truppe gegen Kiew gedroht, um das Parlament unter Druck zu setzen. Auch Verdächtige aus unterschiedlichen Berufsgruppen werden eingeschüchtert. „They also routinely intimidated local officials, judges, religious leaders, journalists, teachers, entertainers, and sport figures they suspected of being disloyal to the new order“ (104)(Sie schüchterten auch regelmäßig lokale Beamte, Richter, religiöse Anführer, Journalisten, Lehrer, Entertainer und Leute aus dem Sport ein, die sie verdächtigten, illoyal gegen die neue Ordnung zu sein). Die separatistischen Bestrebungen im Donbass wurden anfangs von Freiwilligenbataillonen mit Strafaktionen beantwortet, weil die reguläre Truppe sich weigerte (111). Diese sei „essentially paralyzed“ (im wesentlichen gelähmt) gewesen (218).
Swoboda und der Rechte Sektor seien die maßgebenden Akteure bei dem Maidan-Aufstand gewesen, wobei Petro von einer Arbeitsteilung ausgeht (94). Die Aktivisten des Rechten Sektors waren gewaltbereiter und gewalttätiger. Aber die Eskalation der Proteste sei von beiden koordiniert worden (96). Die Unterscheidung zwischen Swoboda und Rechtem Sektor in den Medien entsprechend der Abgrenzung der Partei vom Rechten Sektor sei taktischer Natur gewesen, um dem Westen ein Bild moderater Parteinahme auf dem Maidan zu bieten (97).
Asow ist in den 1990er Jahren aus einer Abspaltung der SNPU bzw. aus einem paramilitärischen Arm der SNPU hervorgegangen. Ab 2004 hat die Formation ein Netzwerk von rechten Organisationen geschaffen wie das Nationale Corps, das Jugendcorps, die Sonderkommandos (druzhiny), Sportvereine, die Bruderschaft der Veteranen (Veterans Brotherhood) und das Verlagshaus „Orientir“ (97). Die Mitglieder sehen sich wie der Rechte Sektor zur Einschüchterung von „Verrätern“ verpflichtet. Petro berichtet, dass 2020 eine Veranstaltung in Mariupol, auf der die Nationale Plattform für Versöhnung und Einheit präsentiert werden sollte, nach zwanzig Minuten abgebrochen werden musste, weil 70 junge Leute vom Nationalen Corps von Asow den Saal stürmten. Sie riefen „Verräter“ und schlugen den Initiator der Plattform nieder (241f.).
Petro weist die Ansicht zurück, der extreme Nationalismus sei eine Reaktion auf den Angriff Russlands (118), wie hierzulande manchmal verständnisvoll geäußert wird. Russland gilt seit den Anfängen dieser Bewegung als der ewige Feind („the Eternal Enemy“). Der Krieg mit Russland musste vielmehr den Nationalisten willkommen sein, weil er den kriegerischen Geist der Nation wecken würde („because it will ‚arouse the militaristic spirit of the nation‘“).7 Der ehemalige Innenminister Arsen Awakow erklärte 2014, den Krieg mit Russland brauche man nicht zu fürchten, denn er habe eine heilsame, reinigende Wirkung auf die Nation (a salutary and ‚cleansing‘ effect on the nation). Einige Politiker hätten sich ähnlich geäußert, so Petro (176).
Russland ist der ewige Feind, weil Russland eine Bedrohung für den Volkskörper darstellt. Um das Nationsverständnis der Banderisten zu verdeutlichen, führt Petro Aussagen von Wasil Iwanischin, dem Begründer des „Dreizacks von Bandera“ an. Die Nation sei kein „mechanischer“ Verband von Bürgern, sondern „eine bewusste und aktive Einheit“ (Zitat Iwanischin, 114). Die Erneuerung der Nation sei der „kategorische Imperativ“. In einem historischen Abschnitt über die Entstehung der Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN) lässt Petro keinen Zweifel an deren völkischem Verständnis von Nation. Er zitiert Dmytro Dontsow, der mit dem 1926 publizierten Buch „Nationalismus“ zu einem führenden Ideologen der OUN geworden sei.8 Dessen Ansichten, die Natur kenne keinen Humanismus, es gelte das Recht des Stärkeren, das Existenzrecht der Nation stehe höher als das Lebensrecht des Individuums, sind faschistisches Gedankengut. Nach Petro dienen die Schriften Dontsows nach wie vor als Inspirationsquelle für ukrainische Nationalisten (60). Manche Gruppen haben auch Gedankengut der White Supremacy aus den USA aufgegriffen (113).
Georg Auernheimer
1 Nicolai N. Petro: The Tragedy of Ukraine. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2023. ISBN 978-3-11-135605-1.
2 Vieles, was Petro über die extreme Rechte in der Ukraine, berichtet, findet man auch in Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen von Susan Witt-Stahl. Aber vielleicht wirken die Analysen eines US-Professors für viele glaubwürdiger. Selbst bei Linken sehe ich oft Skepsis, wenn von den ukrainischen Faschisten die Rede ist.
3 Einmal verweist er auf die massive Einflussnahme von „USAID-funded groups“ in der Ukraine (81).
4 Nach meiner Interpretation des Konflikts dient die innerukrainische Zerrissenheit den USA als strategisches Mittel, um die Ukraine dem russischen Einfluss zu entziehen, was den wohlwollenden Umgang mit der nationalistischen Bewegung erklärt (Auernheimer: Die strategische Falle, Köln 2024). Kleinrussland oder Malorossija war die Bezeichnung für das Gouvernement im Südwesten des Zarenreichs.
5 Lenkavsky starb 1977 in München. Er forderte 1941: „In Bezug auf die Juden müssen wir alle Methoden anwenden, die ihrer Vernichtung dienen“ (zit. nach Thomas Schmid, https://schmid.welt.de/2022/07/01/andrij-melnyk-und-der-ukrainische-nationalismus/ ,abgerufen am 12.09.24)
6 Tjahnybok spielte später eine entscheidende Rolle bei den Maidan-Protesten.
7 Zitat mit mehreren Referenzen in der Fußnote 90 auf Seite 114.
8 Dmytro Dontsow übernahm Ideen von Friedrich Nietzsche und Georges Sorel und übersetzte die Schriften von Mussolini und Hitler. Den NS-Staat betrachtete er als Vorbild für die künftige Ukraine. Er verstarb 1973 in Montreal, Kanada.