Zweite Friedenspolitische Gewerkschaftskonferenz in Stuttgart
Übernahme aus der Arbeiterpolitik Nr 4 2024
Im großen Saal des Stuttgarter Gewerkschaftshauses in der Willi-Bleicher-Straße fand am 14. und 15. Juni 2024 die Zweite Friedenspolitische Gewerkschaftskonferenz statt. Den Auftakt in sehr ähnlicher Weise hatte bekanntlich die Hanauer Friedenskonferenz am 23. und 24. Juni 2023 gegeben (vgl. Arbeiterpolitik 3/23). Sie wurde damals von der IG Metall Hanau/Fulda und der Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam organisiert, wobei die inhaltliche und wissenschaftliche Federführung in der Kompetenz der Stiftung lag. Aber die lokalen Gewerkschaften und Initiativen (darunter die Hanauer Friedensplattform) hatten vorgearbeitet und mobilisiert (auch über diese Vorgeschichte berichtet der hier genannte Artikel). Friedenspolitisch gestimmte Akteure und Organisationen hatten damit den Versuch unternommen, eine entsprechende Orientierung dagegen zu setzen, dass die Gewerkschaftsführungen und ihre Medien den Kurs der Bundesregierung unterstützen, also die Ukraine mit Waffen auszustatten und ihre Menschen in den Tod zu schicken. Das markanteste Beispiel hierzu war später im Februar 2024 ein „Aufrüstungskurs, der in Gestalt des gemeinsamen Positionspapiers des Hauptvorstandes der IG Metall, des SPD-Wirtschaftsforums und des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) Eingang in die offizielle Strategie der größten deutschen Gewerkschaft gefunden hat“ (s. Arbeiterpolitik 4/23).
In Hanau ging es also angesichts des Ukrainekrieges gegen Militarisierung, Sozialabbau und Burgfriedenspolitik der Gewerkschaften, und in Stuttgart wurde das fortgesetzt. Auch hier hieß es auf dem großen Plakat mit der Friedenstaube an der Stirnwand des Saales: „Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg!“. Eine personelle Kontinuität beider Konferenzen bestand in Ulrike Eifler von der IG Metall Würzburg, die nun gemeinsam mit der Geschäftsführerin von ver.di Stuttgart, Sidar Carman, durch das Programm der beiden Tage führte und sich auch gemeinsam mit ihr in einen der Themenschwerpunkte einbrachte.
Die Zusammensetzung der Stuttgarter Konferenz ähnelte der in Hanau; wir schrieben damals: „Die Konferenz wies natürlich eine Zusammensetzung auf, die sich stark von solcher der öffentlichen Kundgebungen (lokale Warnstreiks von IG Metall und ver.di, F/HU) unterschied. So weit in der Diskussion erkennbar, handelte es sich bei den Teilnehmenden weitgehend, vor allem bei denjenigen, die von außerhalb kamen, um Funktionär:innen, erfahrene Aktive, politikwissenschaftlich Gebildete, in linken Publikationen Tätige usw., die Mehrzahl im Rentenalter. Kolleg:innen von der ‚Basis‘ ohne solche Voraussetzungen gab es erfahrungsgemäß wenige. Jüngere Personen mögen einen Anteil von 20, 30 Prozent ausgemacht haben.“ So war es prinzipiell auch in Stuttgart; Unterschiede ergaben sich aus Organisation und Lokalität: Schwerpunktmäßig waren es eben Teilnehmende aus Stuttgart und Umgebung sowie gewerkschaftlich Mitglieder von ver.di, die sich zu Wort meldeten.
Die Zahl der Teilnehmenden laut Anmelderegister soll etwa 200 umfasst haben, dazu kamen 800 über Livestream Zugeschaltete. Damit lag die Stuttgarter Konferenz im selben Rahmen wie die Hanauer, ein Zugewinn hatte sich im online-Betrieb ergeben. Dies mag enttäuschen, aber wir wissen, in welchen Zeiten wir leben. Wichtig ist die Tatsache, dass auch hier die Aktiven ein Zeichen gesetzt haben, dass wir nicht aufgeben, um den Frieden in der Welt und konkret gegen die Gefahr eines Dritten, dazu nuklearen Weltkriegs zu kämpfen.
Die Vorträge sind hier abzurufen: Freitag bzw. Samstag.
Im Folgenden fassen wir einige Schwerpunkte zusammen, die uns zentral erscheinen.
Zur geopolitischen Lage
Ingar Solty von der Rosa-Luxemburg-Stiftung war schon in Hanau mit einer ähnlichen Thematik aufgetreten, die sich grob mit dem Stichwort „Multiple Krise“ umschreiben lässt. In Stuttgart hieß sein Vortrag: „Klima, Krise, Krieg – Dynamiken und Zusammenhänge in der Vielfachkrise„. Seinen Anspruch formulierte er damit, von der Analyse des globalen Kapitalismus zum Handeln zu kommen, und er nahm Bezug auf Arbeiterparteien und -organisationen. Sein Referat gliederte er in 16 Thesen. Auf einiges davon wollen wir eingehen, zur genaueren Kenntnisnahme verweisen wir auf die Aufzeichnung der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
„Das 21. Jahrhundert wird entscheidend sein für Fähigkeit der Menschheit, als Zivilisation zu überleben und innerhalb der Grenzen des Planeten nachhaltig zu sein“, formulierte er in seiner Eingangsthese und hatte damit den umfassenden Rahmen seines Vortrags gesetzt. Der Kapitalismus befinde sich in einer Krisenfolge, die mit Finanzkrise, Coronakrise und den aktuellen kriegerischen Konflikten in der Ukraine und im Nahen Osten zu umschreiben seien. Die „Vielfachkrise„, wie er sie sieht, beschrieb er mit sechs „Dimensionen„: Überakkumulationskrise, Krise der sozialen Reproduktion, Krise des sozialen Zusammenhalts in der vierten industriellen Umwälzung und unter geschwächter sozialer Abfederung, Krise der Repräsentation und der liberalen Demokratie, Krise der ökologischen Nachhaltigkeit und des Klimawandels, Krise der globalen Hegemonie des Westens, darin insbesondere der USA. Der Großkonflikt des 21. Jahrhunderts sei der zwischen den relativ absteigenden USA und dem aufsteigenden China. Soweit das, was wir aus dem Vortrag von Ingar Solty an zentralen Themen herausziehen.
Für historisch Gebildete ist dies grundsätzlich nichts Neues. In gewissen, sich über Jahrhunderte ziehenden Abständen kommt es immer wieder vor, dass die bisher im für die Menschen eines bestimmten geopolitischen Rahmens dominierende Hegemonialmacht an das Ende ihrer Möglichkeiten gelangt und abgelöst wird durch eine nachfolgende Macht. In der Geschichte des Kapitalismus werden nacheinander etwa Venedig und andere norditalienische Finanz- und Handelsmetropolen, Spanien, die Niederlande und schließlich das Britische Weltreich genannt, letzteres siegreich in den napoleonischen Kriegen, aber relativ abgestiegen im Verlauf des Ersten Weltkriegs. Seitdem, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg sind es die USA, welche über Jahrzehnte den Kapitalismus gegen eine gesellschaftspolitische Alternative in Gestalt der Sowjetunion und ihrer Verbündeten verteidigten, seit deren Untergang die „regelbasierte Ordnung“ gegen „Autokraten“ wie etwa China, Russland, Nordkorea, Iran zu stabilisieren versuchen, auch das im Gesamtinteresse des „liberalkapitalistischen Westens“. Mit dem Beginn des Ukraine- sowie des Gazakrieges scheinen sich der Großkonflikt zwischen alten und neuen Hegemonialmächten sowie der Widerstand des „globalen Südens“ gegen die aufgezwungene, postkoloniale Herrschaftsordnung zu verstärken.
Aufgaben der bzw. in den Gewerkschaften
Wie sich der relative Niedergang der Hegemonie des „Westens“, darin insbesondere der USA in der Perspektive und im konkreten Verlauf vollziehen wird und wann sein Ende erreicht sein könnte, ist jedoch unklar. Konkretisierende Prognosen dazu verbieten sich. Es gibt auch keinen Grund, zuversichtlich zu sein, nur weil mit China, anderen BRICS-Staaten und vielen Ländern des globalen Südens sich andere Mehrheiten in der UNO herstellen und globalpolitische Machtzentren sich verschieben. China, Russland, Indien, Brasilien u. a. kämpfen nicht für unsere Interessen als Lohnabhängige aller Länder, sondern für ihre eigenen als kapitalistische Staaten mit eigenständiger Entwicklung, die neue Perspektiven für sich sehen. Für uns als linke Gewerkschafter:innen und als Friedensaktivist:innen in den Gewerkschaften stellt sich aber die Frage, was das mit uns als Lohnabhängigen, Rentner:innen, Sozialeinkommensbeziehenden usw. macht. Die klassische Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ stellt sich schärfer denn je, und unter gegenwärtigen, absehbaren Verhältnissen scheint die zweite Option die drängendere zu sein.
Im folgenden Schwerpunkt ging es daher um Positionen und Aufgaben von Gewerkschaften: „Milliarden für die Rüstung – was bleibt dann noch für Sozialstaat, Transformation und Beschäftigung?“ Hier sprach der Moderator das berüchtigte gemeinsame Positionspapier von IG Metall-Hauptvorstand, SPD-Wirtschaftsforum und BDSV (Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie) vom 9. Februar 2024 an . Die IG Metall-Führung erhob quasi den Aufrüstungskurs der Ampel-Regierung, die Erlangung von „Kriegstüchtigkeit“ für Deutschland, die Propagierung des Jahres 2024 zu einem entscheidenden Jahr für die Rüstungsindustrie zur offiziellen Strategie ihres sozialpartnerschaftlichen Co-Managements. Das soll die basisorientierte Friedensarbeit in Betrieben und gewerkschaftlichen Gremien noch mehr belasten, als es in diesen Zeiten ohnehin der Fall ist.
Ulrike Eifler als eine der Teilnehmenden am Podium dieses Themenschwerpunkts griff das auf. Sie schilderte ihre Befürchtungen bei der Aufgabenstellung, den Kolleg:innen in den Betrieben und Kundgebungen immer wieder die Bedeutung von Friedensarbeit klarzumachen. Diese würden vielleicht stöhnen: Lasst uns bitte damit in Ruhe. Sie meinte dann aber doch feststellen zu dürfen, dass in den Betrieben, Gremien und Kundgebungen ein großes Bedürfnis nach Orientierung bestehe. Daraus ergebe sich ein politisches Mandat für die Gewerkschaften, um das die Gewerkschaftslinke und die Friedensaktivist:innen kämpfen müssten.
Krieg und Aufrüstungskurs bestimmen die Tarifpolitik mit. Daraus folgt die Notwendigkeit, Gewerkschaften und Friedensbewegung in einem Bündnis zusammenzuführen. Der Hanauer Weg in den Warnstreiks vom 17. November 2022 und 23. März 2023, die zur Vorgängerkonferenz führten, lässt grüßen. Die Diskussionsleitung bat nun um Wortbeiträge zu der generellen Fragestellung, wie die doch weitgehend abstrakten geostrategischen Überlegungen und daraus resultierenden Aufgaben für Gewerkschaften und Friedensbewegung so in eine Sprache des gewerkschaftlichen und betrieblichen Alltags übersetzt werden können, dass sie von den Kolleg:innen aufgenommen und umgesetzt werden können. Dies ist nichts weniger als die Kernfrage der Konferenz. Diskussionsbeiträge aus dem Publikum, die zu dieser Problematik aus den unterschiedlichsten lokalen Voraussetzungen berichteten, begleiteten dann auch die beiden Tage der Konferenz zu den Podiumsvorträgen und in den Arbeitsgruppen am Samstag. Wir können in diesem Rahmen nur auf die Aufzeichnungen im bereits genannten Livestream verweisen. Deutlich wurden die Schwierigkeiten in der gegenwärtigen Phase, in der die Friedensbewegung keine Massenerscheinung ist. Aber jeder Versuch, im Sinne des Mottos „Global denken, lokal handeln!“ im verfügbaren Rahmen etwas umzusetzen, ist wertvoll.
Zur Perspektive gewerkschaftlicher Friedenspolitik
Im einleitenden Teil dieses Kurzberichtes haben wir die intellektuelle „Kopflastigkeit“ dieser Konferenz festgestellt. Die Zahl der Teilnehmenden war ebenfalls mehr als ernüchternd (200 physisch Anwesende, 800 online zugeschaltet bei einer Gesamtzahl von 5.655.671 Mitgliedern im Jahr 2023). Abschließend müssen wir also fragen, was ein solches Zusammentreffen für die Gesamtheit der Gewerkschafts- und Friedensbewegung sowie für die Kolleg:innen in den Betrieben, die Rentner:innen, die erwerbslosen Menschen usw. bringt. Anders als zum Schluss der Hanauer Konferenz wurde am Ende kein Papier einer „Steuerungsgruppe“ oder ein damit vergleichbarer Ausblick vorgelegt (hierzu muss allerdings gesagt werden, dass dieses Verfahren seinerzeit als „übergestülpt“ kritisiert worden war).
Solche Konferenzen sind dazu da, strategische Diskussionen auf intellektuell-abstraktem Niveau zu führen. Dies ist unabdingbar notwendig für die politische Orientierung. Man darf nur nicht erwarten, dass solche Einsichten und Ergebnisse, wenn sie denn richtig sind, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse unmittelbar verändern. Dies geht nur in konkreten sozialen Kämpfen und Klassenauseinandersetzungen. Dafür müssen – wie in der Konferenz angesprochen – die gewonnenen Erkenntnisse in die Alltagssprache übersetzt und mit den Interessen der Lohnabhängigen verbunden werden.
Gewerkschaften sind nicht einfach „Friedensbewegung“, das wissen wir seit dem Ersten Weltkrieg. Sie sind aber von zentraler Bedeutung für die Mobilisierung und dafür auch zugänglich. Auch dafür bot der Erste Weltkrieg Beispiele, etwa den Munitionsarbeiterstreik im Januar 1918. Es kommt darauf an und es ist zwingend notwendig, in den Gewerkschaften für die Friedensarbeit einzutreten.
Aber was heißt das angesichts der Tatsache, dass die Basis der Gewerkschaften eben nicht – wie etwa bei Parteien – eine einheitliche politische Positionierung ist, sondern die objektive Klasseneigenschaft, dass die Lohnabhängigen nichts besitzen als ihre Arbeitskraft und um die Lohnhöhe und sonstigen Arbeitsbedingungen gegen Kapital und Staat kämpfen müssen? In ihren Schlussreden sprachen Sidar Carman und Ulrike Eifler diese Problematik an. Demnach geht es nicht um abstrakte Ideale in der Friedenspolitik. „Gewerkschaften müssen gestärkt werden, um ihre Kernaufgaben zu erfüllen, also Tarifverträge, Löhne, Sozialpolitik usw.“ (Eifler). Jeder Euro, der in die Rüstung oder direkt in Kriegshandlungen geht, fehlt in Löhnen und sozialen Bereichen. Unter Kriegsbedingungen werden gewerkschaftliche Kampfmöglichkeiten radikal geschwächt. Das bedeutet eben, aus gewerkschaftlicher Sicht für Entspannungspolitik einzutreten (und nicht – wie der Hauptvorstand der IG Metall in dem schon erwähnten Rüstungspapier – für „Kriegstüchtigkeit“ und Interessen der Rüstungsindustrie zu werben). An diesen Zusammenhängen kann praktische Politik anknüpfen (wie etwa die Hanauer Warnstreikaktionen 2022/23 gezeigt haben).
Gewerkschaften brauchen wir für die täglichen Umverteilungskämpfe, für Bildungs-, Gesundheits-, Struktur-, Klimapolitik. Über den gewerkschaftlichen Kernbereich hinaus müssen Bündnisse gegründet werden. Sie sind möglich mit Gruppen der Friedensbewegung, der Klimabewegung (z. B. Fridays for Future, ver.di und das Bündnis „Wir fahren zusammen“), Verbraucherschutzinitiativen u. v. m. In Kriegszeiten ist all das in Gefahr, einschließlich des Streikrechts, der bürgerlichen Demokratie, in der die Organisationsfreiheit der Gewerkschaften ausgefochten wird. Der Rechtsruck droht. „Wir müssen alles im Zusammenhang sehen, wir müssen uns breit aufstellen und das politische Mandat der Gewerkschaften stärken.“ Die Arbeit dafür beginnt jetzt. Mit diesem Ausblick endete das Schlusswort der Konferenz.
F/HU, 25. Juni 2024