Der schnelle Zusammenbruch der Regierung Ashraf Ghanis in Afghanistan und die Besetzung Kabuls durch die Truppen der Taliban Mitte August 2021 ist eine schmerzliche Niederlage für das von den USA angeführte Bündnis der westlichen Länder. Besonders die chaotischen Umstände bei der Evakuierung der eigenen Staatsbürger und der flüchtenden bzw. ausreisewilligen Afghanen wurden allgemein als Desaster wahrgenommen. Ein Bündnis wichtiger imperialistischer Länder, allen voran die Weltmacht USA, musste vor den oft so genannten „Steinzeitislamisten“ zurückweichen. Das ist ohne Zweifel ein erheblicher Verlust an Prestige, Ansehen und eventuell auch Glaubwürdigkeit bei potentiellen Bündnispartnern. Welche Auswirkungen das längerfristig haben wird, wird sich zeigen.
Vor dem Zusammenbruch standen in dem hiesigen Medien bei der Berichterstattung über Afghanistan oft Themen wie das „nation building“, Frauenrechte, der Aufbau einer gewissen Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und ganz allgemein Entwicklung und Modernisierung des Landes im Vordergrund. Alles Dinge, die jetzt nicht mehr weitergeführt werden können, schon gar nicht unter der Regie der westlichen Staaten. Die Regierungen dieser Staaten haben sich deshalb dafür zu rechtfertigen, warum trotz der riesigen Summen, die aufgewendet wurden, am Ende praktisch nichts erreicht wurde. Allerdings liegt man nicht falsch, wenn man davon ausgeht, dass die Verbreitung der „westlichen Werte“ und die anderen großen Ziele nicht das zentrale Interesse dieses Militäreinsatzes waren. Sie spielten aber insofern eine Rolle, als man für die Rechtfertigung des Militäreinsatzes vorm heimischen Publikum und zu Propagandazwecken auch auf diesen Gebieten etwas vorweisen wollte und musste. In Wirklichkeit dürften sie aber nur eine zweitrangige Rolle gespielt haben.
Die Zweitrangigkeit wird ziemlich klar, wenn man sich die Ausgaben der Militärkoalition anschaut. Der ganz große Löwenanteil wurde direkt und indirekt für militärische Zwecke aufgewendet. Nur ein eher kleiner Rest war für die Unterstützung der zivilen Entwicklung vorgesehen. Davon ist dann noch etliches durch allerhand korrupte Machenschaften in dunkle Kanäle abgeflossen. Zum in Afghanistan betriebenen Aufwand kursieren verschiedene Zahlen aus unterschiedlichen Quellen. Im folgenden ein Beispiel, das die Diskrepanz zwischen Militär und Zivilbereich sichtbar macht. Laut einem Bericht der Aufsichtsbehörde der US-Regierung für den Wiederaufbau Afghanistans gaben die USA zwischen 2001 und 2021 insgesamt 946 Milliarden Dollar aus. Davon gingen 816 Milliarden an die US Truppen, 83 Milliarden an die afghanischen Sicherheitskräfte, 10 Milliarden wurden für die Drogenbekämpfung ausgegeben, 15 Milliarden für US Behörden in Afghanistan, nur 21 Milliarden für „Wirtschaftshilfe“. (Zitiert nach „Afghanistan: Blutiger Irrweg“ von Jeffrey D. Sachs in Blätter für deutsche und internationale Politik, 9, 2021) Die Folge dieser Zustände war, für einen sehr großen Teil der Bevölkerung waren keine Vorteile durch die nach 2001 entstehende neue Ordnung erkennbar. Es kam bei ihnen einfach nichts an. Es gab keine ökonomische Entwicklung an der Basis, die Armut wurde im Laufe der 20 Jahre des Einsatzes nicht verringert etc..
Die eigentlichen, harten Ziele dürften andere gewesen sein, einmal Vergeltung für 9/11. Es galt der Welt zu demonstrieren, man greift die USA nicht ungestraft an. Auch wenn die Beteiligung am Angriff wie bei den Taliban und Afghanistan höchstens von indirekter Art war. Al Quaida war zwar dort präsent, aber keineswegs ausschließlich in diesem Land. Und zweitens, die Installation eines mit den USA/Westen kooperierenden Regimes, das die grundsätzlichen weltpolitischen und sonstigen Interessen des Westens respektiert und eine gewisse Stabilität (bzw. was der Westen darunter versteht) in dieser Region gewährleisten sollte. Damit ist auch das Ausmaß der Niederlage beschrieben, denn auch diese zwei (Minimal-) Ziele sind gescheitert (bzw. sind von der prekären Zusicherung, keine islamistischen Angriffe aus Afghanistan heraus zu dulden, abhängig).
Das Abkommen zum Abzug der US Truppen wurde von der Trump-Administration ausgehandelt, ohne die inneren Verhältnisse in Afghanistan in das Abkommen einzubeziehen. Damit war im Prinzip auch klar, dass ein Ende der Regierung Ghani in Kauf genommen wurde. Sicher hat man sich das Ende nicht mit dieser Geschwindigkeit vorgestellt und vielleicht auch noch bis zuletzt auf eine gewisse Machtteilung gehofft. Aber ob die Taliban, nach dem vollendeten Abzug der USA, sofort die Macht übernehmen, oder nach 90 Tagen oder eventuell „erst“ nach 6 Monaten (beide Fristen wurden angeblich in internen Reports prognostiziert) ändert an den realen machtpolitischen Folgen relativ wenig, dazu sind die Zeitunterschiede viel zu gering.
Es gab anscheinend in den USA eine Entscheidung, sich aus Afghanistan zurückzuziehen, ohne für den Bestand der Regierung Ghani eine wirksame Garantie abzugeben. Das wurde in der Trump Administration offensichtlich so entschieden (egal ob es eine gut vorbereitete Entscheidung war oder eventuell das Ergebnis eines chaotischen Entscheidungsprozess, de facto gab es eine solche Entscheidung) und Biden hat diese Entscheidung nicht umgestoßen (im Gegensatz zu etlichen anderen Entscheidungen seines Vorgängers). Auch von dem am Einsatz beteiligten Europäern einschließlich Großbritanniens hat man dazu keine klare Gegenposition vernommen (ebenfalls im Unterschied zu anderen Themen wie etwa bei „Nord Stream 2“ für die beim Übergang Trump zu Biden zumindest eine neue Sprachregelung gefunden werden musste).
Es gab und gibt also eine Neubewertung der Rolle Afghanistans, das Land wurde sozusagen in seiner weltpolitischen Bedeutung herabgestuft, der Militäreinsatz sollte beendet werden, die dort eingesetzten Mittel für andere Zwecke frei werden. Aber klar, der konkreten Ablauf des Rückzugs aus dem Land ist aus Sicht des Westens gründlich missraten.
Bei nüchterner Betrachtung kann man feststellen der Schaden ist hauptsächlich bezüglich Image, und Ansehen entstanden, eventuell ist bei potentiellen Bündnispartnern das Vertrauen in die Verlässlichkeit angeknackst, die Substanz der Macht und der militärischen Möglichkeiten ist davon weit weniger betroffen.
Gesiegt hat eine reaktionäre Bewegung.
Die Taliban haben zwar gegen die imperialistischen Länder gekämpft und konnten das Ende der militärische Einmischung erzwingen aber aus einer zutiefst konservativen-reaktionären Einstellung heraus. Die Niederlage für den Imperialismus ist damit ganz gewiss nicht mit einer Stärkung von wie auch immer definierten Progressiven oder gar Linken verbunden. Die Niederlage der linken / kommunistischen Kräfte, die es in Afghanistan einmal gegeben hat, erfolgte bereits in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts. (Siehe dazu den nebenstehenden Artikel).
Die sogenannte April Revolution von 1978 hatte ihre Basis vor allem in Kabul und einigen anderen Städten (und in der Armee, ein Umstand der die Machtergreifung erst ermöglichte). Der bewaffnete Widerstand gegen die gesellschaftlichen Veränderungen formierte sich vor allem auf dem Land. Die Mudschahedin bekämpften, unterstützt durch die USA, Pakistan usw., die aufeinanderfolgenden linken Regierungen und die Sowjetunion. Gleichzeitig war es auch ein Kampf Stadt gegen Land. Die in den Städten konzentrierten modernen Teile der Gesellschaft unterlagen gegen die große Übermacht der traditionellen und extrem konservativen Provinzen. Mit dem Sieg der Mudschahedin und später der Taliban, wurden auch die Ansätze für eine moderne Entwicklung in Afghanistan zerstört.
Das Fehlen solcher Strukturen mussten nach 2001 auch die USA mit ihren Verbündeten erfahren, bei dem Versuch einen Staat nach ihren Vorstellungen zu etablieren. Darin ist auch ein Teil der Ursachen für das Scheitern dieses Versuches zu finden.
Der reale Macht- und Einflussbereich der afghanischen Regierungen nach 2001 beschränkte sich nach der Reorganisation und dem Wiedererstarken der Taliban immer mehr auf die Städte. Dort lebte auch der Teil der Bevölkerung, der mit der Regierung kooperierte (bzw. aus Sicht der Taliban kollaborierte). Die Taliban sind vor allem auf dem Land verwurzelt. Dort haben sich die traditionellen Strukturen und Verhältnisse weitgehend erhalten. In den Städten konzentrieren sich die, sowieso nur partiell, erreichten Fortschritte z.B. im Bildungswesen. Deren Erhalt jetzt wieder äußerst fraglich ist. Damit sind die Städte (etwa 20% der Bevölkerung) zum zweiten mal, wenn auch unter etwas anderen Umständen, Verlierer im innerafghanischen Kampf.
Über die weitere, längerfristige Entwicklung in Afghanistan lässt sich zur Zeit nur spekulieren, besonders gilt das für die städtischen und moderneren Sektoren der Gesellschaft.
Gibt es Lehren aus Afghanistan ?
Jetzt ist allenthalben von den Lehren die Rede, die aus den Ereignissen in Afghanistan zu ziehen seien. Bei solchen Fragen sollte man klar differenzieren, denn die Diskussion verläuft auf ganz verschiedenen Ebenen. Es kommt immer darauf an, wer Lehren zieht (bzw. ziehen sollte) und zu welchen Zweck dies geschieht.
Eine Ebene ist z.B. die Sphäre der professionellen Politik mit Schuldzuweisungen an Regierungen, Geheimdiensten etc. bzw. deren Verteidigungsstrategien.
Eine andere Ebene wird von durchaus nachvollziehbaren, aber letztlich technokratischen Argumenten bestimmt (z.B. Forderung nach genauerer Zieldefinition, gründlichere Analyse der örtlichen Gegebenheiten, bessere Kontrolle der Mittel usw.). Solche Diskussionen bringen nichts, solange sie nicht die Frage in den Mittelpunkt stellen warum und wozu kapitalistische, imperialistische Länder Krieg und militärische Interventionen ins Auge fassen.
Es mag sein, dass diejenigen politischen Kräfte einen Dämpfer erhalten haben, die bisher die Militärinterventionen zur Umgestaltung von ganzen Ländern propagierten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, im Zeichen des Sieges des Kapitalismus und der einzig verbleibenden Weltmacht USA, hatten solche Vorstellungen ja Konjunktur. Inzwischen gibt es aber, neben Afghanistan, auch eine Reihe von anderen Ländern, erinnert sei nur an Libyen und Irak, bei denen westliche Militärinterventionen, auch aus der Sicht von ursprünglichen Befürwortern, nur zweifelhafte Erfolge ausweisen. Insbesondere anspruchsvolle Ziele wie „nation building“ oder Demokratisierung sind völlig gescheitert.
Verfehlt wäre es aber, deswegen anzunehmen, dass der Imperialismus in Zukunft auf militärische Einsätze und Gewalt zur Durchsetzung seiner Ziele verzichten würde. Das ist auch an der seitdem geführten öffentlichen Diskussion zu erkennen, z.B. durch die Wortmeldungen des EU Kommissar Thierry Breton und des EVP Chefs Manfred Weber (CSU), denen nichts dringenderes einfiel, als die Forderung nach einer EU weiten schnellen Eingreiftruppe, um eigenständiger agieren zu können und die militärische Abhängigkeit von den USA zu reduzieren.
Auch die Herrschenden werden Lehren aus den Ereignissen ziehen. Es ist zu befürchten, dass sie sich hauptsächlich auf Bemühungen konzentrieren werden, bei zukünftigen Einsätzen besser, effizienter und damit auch erfolgreicher bei der Durchsetzung ihrer Interessen zu sein. Ob das dann in der Realität wirklich so funktionieren wird, steht natürlich auf einen anderen Blatt.
siehe auch: Der Westen gibt in Afghanistan auf