Nach 20 Jahren „Antiterrorkrieg“:

Es zeichnete sich bereits schon seit April dieses Jahres ab, die Eroberung ganz Afghanistans samt der Hauptstadt Kabul durch Taliban-Milizen. Mitte August war es dann soweit. Einzig der Flughafen in Kabul blieb bzw. wurde wieder von Elitetruppen der USA und anderer Länder der ehemaligen ISAF-Koalition im „Antiterrorkrieg“ besetzt. Sie sicherten und organisierten Luftbrücken, über die sie eigenes Dienst- und Botschaftspersonal, sog. afghanische Ortskräfte mit ihren Familien und weitere Afghan*innen sowie westliche Staatsangehörige zu Zehntausenden außer Landes evakuierten. Deutschland entsandte dazu bis zu 500 Fallschirmjäger-Soldaten der „Division Schnelle Kräfte“, drei A400M-Militärtransporter und einen Airbus der Luftwaffe. Wodurch am Ende laut Verteidigungsministerium 4.587 Menschen über ein Drehkreuz in Taschkent ausgeflogen und in Charter-Maschinen nach Deutschland gebracht werden konnten, darunter 3.849 Afghanen und 403 Deutsche. Die Linkspartei verhielt sich als Fraktion zu dem nachträglich vom Bundestag beschlossenen „robusten“ Mandat überwiegend enthaltend, einige Abgeordnete stimmten mit Ja oder Nein. Die Enthaltung wandte sich wie Fraktionschef Bartsch betonte gegen Form und Inhalt der Mandatierung, nicht gegen die Hilfe für die Ausreise gefährdeter Menschen. Die versammelte Journaille von „Welt“, „FAZ“ bis „Bild“ warf ihr darauf hin verweigerte Hilfeleistung vor. Am 26. August stellte die Bundeswehr ihre Evakuierungsflüge ein. Am gleichen Tag verübte die Terrorsplittergruppe ISIS-K an einem der Flughafen-Tore ein fast schon erwartetes Sprengstoff-attentat, wodurch weit über 100 Zivilist*innen und 13 US-Soldaten getötet wurden und es viele Schwerverletzte gab. Am 30. August verließen die letzten US-Truppen um Mitternacht Kabul. Taliban und Afghanen feierten ihren „Sieg“ mit Feuerwerk und Gewehrschüssen in die Luft. Taliban-Spezialeinheiten des Kommandos „Badri 313“ übernahmen den Flughafen.

Laut Medien-Agenturen hatte die offizielle afghanische Regierung mit den Taliban eine „friedliche Machtübergabe“ verabredet, Diese sicherten zu, dass es keine gewaltsame Eroberung der Hauptstadt geben werde und offerierten umgehend eine Generalamnestie. Der als korrupt geltende Präsident und Karzai-Nachfolger, Aschraf Ghani, ergriff mit Anhang und offenbar Koffern voller Geld die Flucht in die Vereinten Arabischen Emirate, die ihn aufnahmen. Die zentrale Taliban-Führung, deren „Politisches Komitee“ in Doha/Qatar seinen Sitz hat, sucht verstärkt den Dialog mit einheimischen Politikern wie Ex-Präsident Karzai. Sie präsentiert sich betont moderat und verkündete, man werde Frauen nicht an Ausbildung und Berufsausübung hindern, wenn dies der Scharia („Islamisches Gesetz“) entspreche. Eine religionsideologisch freilich willkürlich dehn- und auslegbare Zusicherung.

 

Falsch eingeschätzte“ Lage?

Heftige Kritik vor allem aus den Reihen der Partei Die Linke bis hin zu Rücktrittsforderungen an die Regierung wurde laut, warum die deutsche Evakuierung erst so spät eingeleitet wurde. Der Linke-Abgeordnete Jan Korte sprach von einem schweren Versäumnis der Merkel-Regierung und Versagen des Auswärtigen Amtes. Früh schon hatte die Linke darauf hingewiesen, Deutsche und bedrohte Afghan*innen aus dem Land herauszuholen, als dies ohne Einsatz der Bundeswehr möglich gewesen wäre, die jetzt wieder in Dankesreden allseits als Retterin hingestellt wurde. Sowohl Kanzlerin Merkel als auch SPD-Außenminister Maas räumten indessen eine „falsche Lageeinschätzung“ ein, was bei so vielen kompetenten militärischen Kennern und politischen Beratern des Think-Tanks „Stiftung für Wissenschaft und Politik“ (SWP) im engeren Umfeld nur verwundern kann. „Nichts ist gut in Afghanistan“ lautete schon vor Jahren der Einwand der Theologin und Repräsentantin der Evangelischen Kirche, Margot Käßmann, was ihr maßgebliche Politiker*innen negativ ankreideten. Frühzeitige Hinweise der deutschen Botschaft vor Ort, Vorkehrungen zu treffen, wurden anscheinend „überhört“ und übergangen. Seit der „Flüchtlingskrise“ ab 2015 kam es zu einer deutlich rigideren, bürokratisch reglementierten Aufnahme-, besser gesagt Abweisungspraxis für Flüchtende und Asylsuchende aus Afghanistan. Man redete offiziell die Sicherheitslage im Land schön, um Menschen leichter abschieben zu können. Noch vor kurzem wollte man wieder vermehrt afghanische Flüchtlinge aus Deutschland ausfliegen und zurück nach Afghanistan bringen, doch stoppte man dies unter dem Eindruck der dramatischen Entwicklung. Ihnen droht jedoch weiter die Abschiebung. Gebets-mühlenartig wurde der Satz, „2015 darf sich nicht wiederholen“, vor allem von Unionspolitiker*innen jüngst heruntergeleiert. Der SPD-Außenminister Heiko Maas bereiste in den letzten August-Tagen eiligst angrenzende Länder wie Usbekistan, Tadschikistan und Pakistan und stellte ihnen Hunderte von Millionenbeträgen in Aussicht, wenn sie dafür Flüchtlinge aus Afghanistan aufnähmen. Die Innenminister der EU-Länder sind sichtlich bemüht, sich eine neue afghanische „Flüchtlingswelle“ vom Hals zu halten, wohingegen der Luxemburger Außen- und Migrationsminister Jean Asselborn die Meinung vertrat, man könne und müsse allein schon aus Werte- und Humanitätsgründen 40 bis 50.000 Geflüchtete sofort aufnehmen. Die, die die Kriegsschäden nicht unwesentlich mit anrichteten, drücken sich jetzt davor, für die Folgen gerade zu stehen.

Rückschau: Königreich Afghanistan wird „westlich“

Um die Entwicklung in Afghanistan der letzten 20 Jahre zu verstehen, muss man weit bis in die 1960er Jahre zurückgehen, als Afghanistan noch eine Monarchie war. König Zahir Schah war dabei, in einer Phase des Friedens das Land in Richtung Westen, Demokratie und modernen Lebensstil zu orientieren und öffnen. Besonders Frauen genossen große Freizügigkeit und nahmen ungehindert offen am gesellschaftlichen Leben teil. Es gab in Kabul, dem „Paris Vorderasiens“ Restaurants, Pop-Discotheken, Kinos, verrauchte Jazz-Kneipen, freie Presse, Modeschauen und sogar eine Wahl zur „Miss Afghanistan“ fand statt. Westlicher Lebens- und Konsumstil wurde kopiert. Zumindest in der Hauptstadt Kabul, dem geistigen und kulturellen Zentrum des Landes, war dies neben wenigen anderen großen Städten so. Doch 80 Prozent der Bevölkerung lebte auf dem Land ohne direkten Anschluss an städtisches Leben und zum Teil in wirtschaftlicher Not, großer Armut und Analphabetismus. Dort in den Provinzen hatten patriarchale Stammesfürsten das Sagen und herrschten neben spätfeudalen Verhältnissen strenge islamische Glaubenssitten. Frauen waren „Menschen zweiter Klasse“ und Männern in jeder Hinsicht unterworfen. An der Kabuler Universität diskutierte man, erfasst vom Impuls der 68er-Proteste im Westen, über Emanzipation und las die Schriften von Karl Marx und anderen Sozialisten. Auf dem Land und in den Hinterstuben der Städte war für die, die lesen konnten, der Koran und die Scharia die Richtschnur für eine grundlegend religiöse Orientierung in traditioneller Lebensweise. Dort brodelten religiös geschürter Unmut und wuchs militanter Widerstandswille.

Diese, wenn man so will, tiefe kulturelle Kluft, wurde seit den späten 1950er Jahren latent bestimmend im Land. Sie nahm im Lauf der Jahrzehnte deutlich an Schärfe zu und dabei verschiedene Ausdrucksformen an, in denen sie sich jeweils auch politisch widerspiegelte.

 

Ideologisch-religiöser „Klassenkonflikt“

Ein „Klassenkonflikt“ im Land fand und findet mehr im Bereich des ideologisch-religiösen Überbaus mit ethnischer Dimension als aufgrund ausgeprägter wirtschaftlicher Kräfte- und Klassenverhältnisse statt. Ein für sich politisch handlungsfähiges „Proletariat“ gibt es bis heute in Afghanistan nicht. Die wirtschaftliche Basis hierfür ist mit nur wenig vorhandener Industrie und kaum genutzten Bodenschätzen viel zu schmal und kaum ausgeprägt. Es gibt Eisen- und Kupfererzbergbau in Minen und in den Großstädten Kabul und Herat Textil- und Lederindustrie. Wichtigste Ausfuhrgüter sind neben Erdgas (im Norden) Früchte, medizinische Pflanzen, Häute und Teppiche (Import zu Export 2013: 6,2 zu 0,4 Mrd. Dollar). Wertvolle Mineralien, insbesondere Edelmetalle sowie Lithium in einer Größenordnung der Vorkommen in Bolivien werden sicher vermutet, was Afghanistan neuerdings für den E-Mobil-Weltmarkt interessant macht. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrug 2013 20,7 Mrd. US-Dollar, der reale Zuwachs 3,6 Prozent (z. Vgl. BRD: 2.737,6 Mrd. Dollar). Daran war der Anteil der Landwirtschaft (6 % der Fläche) 24, der Industrie 21 und der Dienstleistungen 55 Prozent. Diese Zahlen sind nur als ungefähre Orientierung zu betrachten. Die wichtigste Industrie dürfte das Bauwesen (Häuser, Straßen) sein und vermutlich werden bereits größere Handwerksbetriebe zur Industrie gerechnet. Wegen der ständigen Kriegshandlungen und menschlichen Verluste gab und gibt es keine zuverlässigen Angaben über Einwohnerzahl und Anteil der Beschäftigten daran. Folgende Angaben sind lediglich ungefähre Richtwerte: 37 Mio. Einwohner, davon 8,5 Mio. Beschäftigte mit einem Frauenanteil von 17,3 % (2017). Davon entfallen auf die Landwirtschaft 44,3, die Industrie 18,1 und Dienstleistungen 37,6 Prozent.

Überwiegend leben die Menschen von einigen städtischen Zentren abgesehen von bescheidener landwirtschaftlicher Selbstversorgung ergänzt durch Subsistenzerwerb aus eigener Viehzucht (Schafe, Ziegen, Rinder). Dazu kommen noch Klein- und Markthandel, Handwerk, Lasten- und Bustransport (es gibt kein Schienennetz). Es gibt wenige Großgrundbesitzer, weil es in dem kargen Wüsten- und Gebirgsland außer in fruchtbaren grünen Flusstälern nicht viele bebau- und nutzbare große Flächen gibt. Intensive Landwirtschaft findet vornehmlich in mehreren Bewässerungszonen nahe größerer Städte statt. Zu erwähnen sind Baumwoll-Anbaufelder im äußersten Nordwesten. Der offiziell illegale Anbau von Schlafmohn und Hanf für die Gewinnung von Rohopium und Haschisch macht nach wie vor den Löwenanteil der nicht der Subsistenz dienenden Landwirtschaft aus, worin Afghanistan jeweils weltführender Produzent und Exporteur ist. Das kommt gewinnbringend nur wenigen Drogenbaronen, Warlords und korrupten Regierungsbeamten zugute. Auch die Taliban verdienen kräftig an diesem Geschäft mit und bestreiten daraus neben Wegzöllen und Warensteuern einen erheblichen Anteil ihrer finanziellen Einnahmen. Hauptverkehrsader in dem Binnenland ohne Zugang zum Meer als Welthandelsanschluss ist ein ringförmig verlaufender Highway („Ring-Road“) von Osten in weitem Bogen über den Süden und Westen nach Norden, an dem alle wichtigen Städte wie Kabul, Ghazni, Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Kunduz und Baghlan wie an einer Perlenschnur aufgereiht gelegen sind. Vom Straßennetz (2017: 35.000 km) ist nur etwa die Hälfte asphaltiert, der Rest sind mehr oder weniger befestigte Schotterpisten und teils gefährliche, schmale Gebirgs- und Passfahrwege. In den Jahren des Königreiches beherrschten etwa 40 Familien das Land und teilten sich den Kuchen auf.

 

Daoud-Putsch

1973 putschte sich Mohammed Daoud, Vetter und Schwager des Königs, der bereits früher als eher linksliberal orientierter Ministerpräsident fungierte, aber vom König entlassen wurde, mit Hilfe des Militärs zurück an die politische Macht und zwang den König in Abwesenheit zum Abdanken und ins Exil. Seit 1965 hatte Afghanistan sein erstes frei gewähltes Parlament. Es wurde vor allem zur Bühne für Auseinandersetzungen zwischen progressiven „Modernisierern“, Liberalen und Kommunisten auf der einen und Stammesvertretern und Islamisten auf der anderen Seite, was von da an für längere Zeit einen Grundkonflikt markierte. Daoud hob, inzwischen wesentlich konservativer als noch in den fünfziger Jahren, die Verfassung auf, löste das Parlament auf, proklamierte eine Republik und wurde Staatschef und zugleich Ministerpräsident. In gewisser Hinsicht setzte er die eingeleitete „Modernisierung“ und kulturelle Öffnung zunächst fort. Er initiierte eine Landreform und verstaatlichte die Banken, aber viele Reformvorhaben blieben auch in der Planung stecken. Daoud regierte zunehmend autokratisch mit harter Hand und führte ab 1977 eine neue Verfassung mit Einparteien-System und ihm als Präsidenten ein. Es existierten Pläne für den Aufbau einer National-Revolutionären Partei, der sich verzögerte. Indem er die aus der Kolonialzeit geerbte Grenze von 1893 (die sogenannte Durand Linie, auf beiden Seiten leben Paschtunen) in Frage stellte, ging Daoud auf Konfrontation mit Pakistan und er näherte sich dem Iran und Irak an. Kredite flossen daraufhin vom Iran und aus Saudi-Arabien. Daoud ging innenpolitisch sowohl gegen Kommunisten, die in der „Demokratischen Volkspartei Afghanistans“ (DVPA) organisiert waren, als auch Islamisten vor, es kam zu politischer Verfolgung und Repressionen gegen Kritiker und Oppositionelle. Im Jahr 1978 nahmen Teile der Armee die Verhaftung wichtiger kommunistischer Führer zum Anlass gemeinsam mit dem Khalk (=Volk) Flügel der DVPA unter Taraki mit einem Staatsstreich („Aprilrevolution“) gegen Daoud vorzugehen. Man ermordete ihn mitsamt seines königlichen Anhang.

 

Regime Taraki-Amin

Es war die Stunde des Mohammed Taraki, der Daouds Stelle als Ministerpräsident der Republik Afghanistan einnahm und Vorsitzender des Revolutionsrates wurde. Die Revolutionsregierung begann einschneidende gesellschaftliche Änderungen durchzusetzen, teilweise auch mit Gewalt Obwohl er die Bündnisfreiheit seines Landes betonte, kooperierte er eng mit dem Nachbarn Sowjetunion. Ein 20-Jahres-Freundschaftspakt zur Zusammenarbeit mit der Sowjetunion sowie weitere Kooperationsabkommen kamen zustande. Die islamistischen Gegenkräfte blieben indessen nicht untätig und organisierten ihren Widerstand gegen das antiislamische Taraki-Regime. Größere bewaffnete Stammeserhebungen formierten sich in den Bergen, zeitweilig kontrollierten die Aufständischen viele Regionen des Landes, da sich auch Teile der Armee der religiös motivierten Rebellion anschlossen. Innerhalb der DVPA gab es heftige Fraktionskämpfe, die auch blutig ausgefochten wurden. Zunehmend gewann in dieser Lage ein früherer Weggefährte an Tarakis Seite an Einfluss, Hafisollah Amin, der Taraki mehr und mehr verdrängte und schließlich als Ministerpräsidenten ablöste und ermorden ließ. Doch auch Amin vermochte trotz Terrormethoden des islamistisch geführten Aufstands und der sich weiter ausbreitenden Unruhen nicht Herr zu werden. Es ist der Zeitpunkt 1979 für die sowjetische Militärintervention in Afghanistan. Die Invasoren setzten Amin ab, den sie hinrichteten und an seine Stelle den aus dem sowjetischen Exil zurückkehrenden Politiker Babrak Karmal für die nächsten Jahre als Vorsitzenden des Revolutionsrates. Unter Karmal mäßigte die Kabuler Regierung die revolutionären Umwälzungen und steuerte einen vorsichtigeren Kurs, in der Hoffnung eine breitere gesellschaftliche Abstützung zu erreichen. (Daten u. Faktendarstellung ab Abschnitt „1960er Jahre:…“ z. T. nach „Der Große Ploetz“, S. 1.626/27 und „Der Neue Fischer Weltalmanach“ 2015).

 

Sowjetische Militärintervention

In der Sowjetunion lebten zu der Zeit 50 Millionen Muslime, viele davon in den tadschikischen und usbekischen Südrepubliken. Es galt aus Moskauer Sicht einem überspringenden Funken entgegenzuwirken. Das war vermutlich, neben der Hilfe für ein in Bedrängnis geratenes revolutionäres Regime, ein weiteres Motiv für den Einmarsch. Die UdSSR entsandte ein zu Land und in der Luft hochgerüstetes Expeditionsheer von über 100.000 Soldaten nach Afghanistan, die das Kabuler Regime Karmals stützten und sicherten. Afghanistan entwickelte sich damals wegen seiner geostrategischen Lage zu einem „Epizentrum“ im Ost-West-Konflikt. Beträchtliche Summen und Anstrengungen steckte die Sowjetunion zugleich in den Ausbau von Infrastruktur (Straßen, Krankenhäuser), den Kampf gegen Analphabetismus und in die Bildung für Frauen. Vor allem die von Pakistan, aber auch aus dem arabisch-islamischen Ausland finanzierten und mit Waffen ausgerüsteten Mudjahedin (dschihadistische „Glaubenskämpfer“) begannen gegen die sowjetischen Truppen, die sich im Land als Besatzer einrichteten, einen über die Provinzen hinweg angelegten bewaffneten Guerilla-Aufstand. Ihre verschiedenen, teils verfeindeten Fraktionen vereinten sich zu dem Zweck, den Preis dieser Besatzung durch nadelstichartige Überfälle, Hinterhalte, Bombenanschläge und empfindliche Verluste an Soldaten und Material so hoch wie möglich zu schrauben. Ab etwa Mitte der 1980er Jahre steuerte die sowjetische Militärpräsenz immer mehr auf eine Sackgasse zu. Die „Russenarmee“ war bei der Bevölkerung weithin verhasst, die Verluste nahmen weiter stark zu und betrugen am Ende über 15.000 gefallene Soldaten. Große Flüchtlingsströme Hunderttausender Menschen bewegten sich auf der Flucht vor den Invasoren und heftigen Kämpfen Richtung Iran und Pakistan in dort grenznahe Lager rund um die westpakistanische, vor 1800 noch afghanische Stadt Peschawar. Die angeschlagenen, kampfesmüden und gegenüber den sehr mobilen, ortskundigen Aufständischen schwerfälligen Sowjettruppen konnten sich trotz großer Waffenüberlegenheit und „Manpower“ immer weniger noch im Land halten. Die Rebellen kämpften hingegen fanatisch für eine religiöse Idee und stammespatriotische Überzeugung.

 

Hekmatyar und Massoud

Als wichtigste Führer der Rebellen-Truppen galten die Kommandanten Gulbuddin Hekmatyar, ein extremer, von Pakistan gestützter Paschtune und islamistischer Dschihadist, und der Tadschike und Sunnit Ahmad Schah Massoud aus dem nordöstlichen Pandschir-Tal. Anders als der fundamentalistische Hekmatyar war Massoud ein gebildeter, auch Französisch sprechender Anführer und ein eher moderat-gemäßigter Islamvertreter, der auch für die Rechte von Frauen eintrat und sich für eine „Loja Dschirga“ (Große Ratsversammlung) im ganzen Land einsetzte. Westliche Journalisten stilisierten ihn manchmal zu einem afghanischen „Che Guevara“. Teile der Bevölkerung brachten ihm großen Respekt und Achtung entgegen. Eine Aura von religiösem Charisma und Hoffnung umgab den „Löwen von Pandschir“ und Kommandanten der sog. Nordallianz (Vereinte Front), der verschiedene Gruppierungen unter einem halben Dutzend Kommandeuren angehörten. Es heißt, 60 Prozent der Verluste der Sowjetarmee gingen auf das Konto von Massouds „Nordallianz“. Hekmatyar und Massoud, wurden gleichwohl Kriegsverbrechen angelastet. Das hielt aber die USA unter Präsident Reagan nicht davon ab, die kampfstarke „Nordallianz“ in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre über den Geheimdienst CIA massiv mit Waffen und Material aufzurüsten, logistisch zu beraten und verdeckt mit kämpfenden US-Marines zu unterstützen. Von den USA gelieferte, einfach zu bedienende Boden-Luft-Raketen der Marke „Stinger“ erwiesen sich für die Aufständischen als sehr effektiv, tieffliegende sowjetische Kampfjets und Kampfhubschrauber vom Himmel zu holen. 5 bis 6 Milliarden Dollar pumpten nach Angaben des damaligen CIA-Führungsoffiziers Milton Bearden die USA in die Ausrüstung der Mudjahedin-Nordallianz (lt. Aussage in: „Afghanistan – Das verwundete Land“).

 

Sowjetische Niederlage, Fraktionen-Krieg, Auftreten der „Taliban“

1988/89 leitete der KPdSU-Generalssekretär und Perestroika-Reformer Michael Gorbatschow das Ende des verlustreichen und kostspieligen Afghanistan-Kriegs der Sowjetunion ein und verfügte wie im Genfer Abkommen (von 1988, formal zwischen Afghanistan und Pakistan) vereinbart den Rückzug. Das Moskau-gestützte Regime in Kabul von Präsident Najibullah (der 1987 Babrak Karmal ablöste) konnte sich gegen den Ansturm der Rebellen allein nicht mehr lange halten. Najibullah setzte zwar den Kurs der Mäßigung fort, nahm einige der verkündeten revolutionären Veränderungen wieder zurück, betonte den Islam als Fundament der Gesellschaft und bemühte sich um Vermittlung und Versöhnung mit Teilen der oppositionellen Kräften, zuerst mit einigen Erfolg letztlich aber vergeblich. Nachdem die Sowjetunion 1991 auch ihre materielle Unterstützung auslaufen ließ, brach die Najibullah-Regierung 1992 endgültig zusammen und Kabul wurde von den Mudjahedin erobert. Die bis aufs Blut zerstrittenen Mudjahedin-Fraktionen hatten weder eine einigende Staatsidee noch ein abgestimmtes Politikkonzept. Das Land stürzte in einen militärisch ausgetragenen blutigen Machtkampf um die Vorherrschaft. Erneut flüchteten viele Menschen ins nahe Ausland, ihre Zahl ging inzwischen schon weit in die Millionen. Im folgenden Bürgerkrieg war Massoud Verteidigungsminister der provisorischen Mudjahedin-Regierung, die Hekmatyar nicht anerkannte. Massoud ging im tödlichen „Bruderkampf“ um Kabul gegen seinen Rivalen Hekmatyar vor, der sich im Süden des Stadtgebiets verschanzt hatte und beendete dessen verheerende Raketen- und Granat-Beschießung der Stadt, die teilweise bereits in Schutt und Asche lag.

Die blutigen Fraktionskämpfe der Mudjahedin bildeten auch den Hintergrund für den Aufstieg der „Taliban“. Ab 1994 traten diese in der Süd-Provinz Helmand um die Stadt Kandahar als eigenständig operierende Kriegspartei auf. Sie wurden im Wesentlichen von Pakistan mit Waffen ausgestattet und von saudischen Geldgebern finanziert und entfachten ihren eigenen Kampf für die Errichtung eines „Islamischen Emirats Afghanistan“. Bei den Taliban hatten sich in Koran-Schulen (Haqqania-Seminar) im benachbarten Pakistan vor allem viele tausend Waisen und Vertriebene des Krieges mit der Sowjetunion gesammelt und wurden religiös-doktrinär einer Art Gehirnwäsche und Hass-Schulung unterzogen. Mit ihrer streng antiwestlich-antikommunistischen Orientierung gewannen sie schnell an Zulauf und hatten einen um den anderen militärischen Erfolg gegen eine uneinige, gespaltene Mudjahedin-Front zu verbuchen. Sie standen in dem herrschenden Chaos für Sicherheit, streng religiöses Gesetz und Ordnung, wie sie es drakonisch nach dem Koran auslegten und sicherten sich damit vor allem den Zuspruch und die Unterstützung der Stammesführer in den Provinzen und vieler erzreaktionärer, einflussreicher afghanischer Würdenträger. Bis 1996 errangen sie die Oberhand, eroberten Kabul und begannen damit, ihre autokratische religiöse Herrschaft zu errichten. Zugleich richteten sie den bis 1992 letzten afghanischen Präsidenten und Vorsitzenden der Demokratischen Volkspartei, Mohammed Najibullah, öffentlich hin, der sich davor für vier Jahre in die UN-Vertretung geflüchtet hatte. Die Taliban verboten Musik, Tanzen, Fernsehen, Filme, Korruption, Alkohol, Unterhaltung, Sport, Mädchenschulen, Frauen an Universitäten, Frauen allein auf Reisen u. v. m. Die heute im Asyl in Spanien lebende afghanische Menschenrechtsaktivistin Nadia Ghulum, deren Familie im Bürgerkrieg arg gelitten hat und verfolgt wurde, sieht einen wesentlichen psychologischen Grund für die fanatische Grausamkeit vieler Taliban gegenüber Frauen darin, dass sie entwurzelte Kriegswaisen sind. Oft mussten sie als Kinder erleben und mitansehen, wie ihre Eltern grausam umgebracht wurden. Sie kannten häufig keine stabilen Familienverhältnisse und ihre Biografien wiesen nicht selten gestörte Mutterbeziehungen auf, wofür sie nun unbewusst Rache üben würden (laut TV-Doku-mentation „Afghanistan. Unser verwundetes Land“, ein Zusammenschnitt aus vier Einzelfolgen).

 

Der 11. September 2001

Am 9. September 2001 fiel Massoud, dessen im Norden verschanzte Milizen mit starker US-Unterstützung nun gegen die Taliban kämpften, einem Mordanschlag durch zwei Al-Qaida-Verschwörer zum Opfer, die sich unter dem Vorwand, Journalisten zu sein Zugang in sein Hauptquartier verschafft hatten. Ein weiterer Akteur trat in Erscheinung: der reiche saudische Bauunternehmer Osama Bin Laden. Er war schon in den 1980er Jahren als Entwicklungshelfer in Afghanistan aktiv und genoss als Geldgeber einiges Ansehen. Daher protegierten ihn die Taliban zunächst und nahmen ihn als Flüchtling auf, nachdem er aus dem Sudan ausgewiesen worden war, später ließen sie ihn auf Druck der USA fallen. Im Schatten der Fraktions-Konflikte konnte Bin Laden in den südöstlichen Gebirgen Afghanistans im Grenzgebiet zu Pakistan ungestört seine eigenen, international agierenden Al-Qaida-Terrorkommandos aus Freiwilligen arabisch-islamischer Länder rekrutieren, finanzieren und ausbilden. Von denen dann einige Auslands-Zellen, zu denen kein einziger Afghane gehörte, am 11. September 2001 die Luftangriffe mit gekaperten Passagier-flugzeugen auf das World-Trade-Zentrum in New York und das US-Pentagon in Washington verübten mit mehr als 3.000 Toten. Mit dem Tod Massouds, der so nah am 11. September wohl kein Zufall war und den Kamikaze-Abstürzen änderte sich die strategische Ausgangslage für die US-Regierung. Präsident George W. Bush rief daraufhin den NATO-Bündnisfall aus und konnte mit „uneingeschränkter Solidarität“ (SPD-Kanzler Schröder) westlicher Verbündeter in einem „Antiter-rorkrieg“ rechnen. Dieser würde laut Präsident Bush als „Kreuzzug der freien Welt“ lange dauern und dauert in einigen Nah-/Mittelost-Regionen noch immer an. Bush jr. machte der Welt ultimativ klar, eine Entscheidung zu treffen: entweder sei man an der Seite und mit den USA oder den Terroristen. 51 Länder traten darauf der West-Koalition bei.

 

Schröder-Fischer-Regierung beteiligt sich an US-Kriegskoalition

Bundeskanzler Schröders blinder atlantischer Treueversicherung entsprach die propagandistische Bekenntnis-Formel „Deutschlands Sicherheit“ werde „auch am Hindukusch verteidigt“ des SPD-Verteidigungsministers Peter Struck. Eine ebenso absurde wie unhaltbare ideologische Verbrämung mit grüner Rückendeckung für eine „Parlaments-Armee“ an den eigenen Grenzen, deren rechtlich umstrittenen Auslands-Einsätzen man deshalb seither imperialistischen Charakter attestieren muss. Mehr als zwei Drittel aller Deutschen war politisch gegen den Afghanistan-Einsatz. Deutschland wurde ungeachtet dessen zur aktiven Kriegspartei und übernahm im Rahmen von ISAF (International Security Assistance Force) bald als Statthalter arbeitsteilig die militärische Kontrolle des Nordens und Nordostens Afghanistans mit befestigten Feldlager-Stützpunkten in Faizabad, Kunduz und Mazar-e Sharif. Man entsandte neben Pionier- und Unterstützungs-Einheiten vor allem Kontingente der neuen Krisen-Spezialkräfte (KSK), wo sie sich erstmals auch im Auslands-Kampfeinsatz praktisch bewähren sollten und ihre „Feuertaufe“ erfolgreich bestanden. Sie waren aus verbündeter NATO-Sicht von da an „Willkommen im Club“. Freilich am Ende zum Preis von 59 getöteten Soldaten bei Kämpfen und Bombenanschlägen, weit mehr Schwerverletzten und Kriegsversehrten und vermutlich weit über 1.200 Soldaten mit teils schweren traumatisierten Erfahrungen sog. psychischer „Posttraumatischer Belastungs-Störungen (PTBS)“.

 

160.000 deutsche Soldaten

Insgesamt sind nach Aussagen von hohen Bundeswehr-Offizieren etwa 160.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten im Lauf der Jahre durch den Bundeswehr-Einsatz am Hindukusch geschleust worden. Etwa zwei Drittel der gesamten deutschen Armee wurde auf diese Weise „kriegssozialisiert“ und zum Teil auch kriegstraumatisiert. Der Afghanistan-Kampfeinsatz war zugleich Manöver unter realen Kriegs- und Besatzungsbedingungen. Zu Hochzeiten zwischen 2008 und 2014 der heftigsten Kämpfe mit den meisten Kriegstoten befanden sich ständig etwa 3.300 bis 3.500 Bundeswehr-Soldat*innen an der Kriegsfront im fernen Land am Hindukusch. Die für Leib und Leben hoch riskanten freiwilligen Einsätze waren dennoch in der Truppe beliebt. Es gab anfangs 90 Euro Sonderzuschlag pro Tag zusätzlich zum Sold bei „freier Kost und Logis“, mit dem man mit der Zeit zuhause ein kleines Vermögen ansparen konnte. Dazu kamen AWACS-Luftaufklärungs-Einheiten sowie an Material schweres Transport- und Pioniergerät, Panzerhaubitze 2000, Schützenpanzer, neue robuste Geländejeeps, gepanzerte MG-bewaffnete Mannschaftswagen "Dingo", neue robuste Gelände-Jeeps, Transporthubschrauber, Transportflieger und neue Mehrzweck-Kampfhubschrauber des Typs „Tiger“. Wenn man so will bis auf Marine und Luftwaffen-Kampfjets fast das ganze „schwere Besteck“. Alles wurde auf Kriegstauglichkeit unter harter Klimabelastung und scharfem Beschuss getestet.

 

Kunduz-Massaker

Als Fehlschlag bekannt und heftig kritisiert wurde das sog. Massaker von Kunduz vom September 2009. Bei dem zwei Tankzüge der Bundeswehr, in deren Besitz sich lokale Taliban-Rebellen gebracht hatten, auf Befehl des Bundeswehr-Obersts Klein (ein US-Befehlshaber riet davon ab) von US-Kampfjets bombardiert und zerstört wurden. Just als sich viele Zivilpersonen und auch Kinder aus der näheren Umgebung „bewaffnet“ mit Kanistern aus den Tanks der beiden Trucks, die in einem Flussbett stecken geblieben waren, mit Benzin versorgen wollten. Ein Flammen-Inferno. Mehr als 100 Menschen (genaue Zahl unbekannt), die meisten Zivilisten, starben dabei. Im April 2010 sprach der damalige CSU-Verteidigungsminister und Wehrpflicht-Abschaffer, Theodor von und zu Guttenberg, erstmals „umgangssprachlich“ von der Bundeswehr im Krieg in Afghanistan und musste außer wegen der Plagiatsaffäre wohl auch deshalb den Hut nehmen.

 

Die militärische Situation nach 2001

NATO und ISAF konnten ab Ende 2001 die etablierten Taliban von der Zentralmacht im Land vertreiben und sie vor allem aus den Städtezonen zurückdrängen, die sich dann jedoch rasch in den südöstlichen Bergen, im südlichen Landesteil (Provinz Helmand) und von Pakistan aus neu formierten und wieder kriegsaktiv wurden. Von 2002 bis 2007 kam es zu teils schweren verlustreichen Gefechten in den genannten afghanischen Regionen zwischen amerikanischen, britischen und kanadischen ISAF-Einheiten und auch regulären afghanischen Streitkräften und den Taliban. Es existierten vier ISAF-Kontrollzonen: Ost (zuständig USA), Süd (Frankreich), West (Italien) und Nord (Deutschland).

Insgesamt soll die US-Truppenpräsenz in den 20 Jahren bis zu 800.000 Soldat*innen betragen haben. Die Anzahl der Koalitions-Truppen belief sich auf dem Höhepunkt der Kämpfe auf 200.000 Mann/Frau, davon stellten die USA 130.000 Soldat*innen. Insgesamt waren es bis 2014 etwa 13.500 ständig operierende ausländische Soldaten im Verbund mit einer nominell 300.000 (realistisch anzunehmen sind etwa 50.000) Mann starken afghanischen Armee, die sich trotz Unterstützung am Ende allein gegen die Taliban mit geschätzt 80 bis 100.000 Kämpfern nicht behaupten konnte. So war es auch ein erklärtes vorrangiges Kriegsziel, die afghanischen Streit- und Polizeikräfte zu stärken, personell aufzustocken und auszubilden.

Italien zog sich ähnlich wie Frankreich und die Niederlande bereits ab 2010/11 aus der kämpfenden West-Koalition zurück. 2014 wurde der ISAF-Einsatz „Operation Enduring Freedom“ beendet und zogen die meisten Auslands-Koalitionäre ab. Deutschland reduzierte seine militärisch-polizeiliche Präsenz auf etwa noch 1.100 Mann (und Frau), die USA beließen noch ungefähr 6 bis 9.000 Soldaten im Land. Beide Parteien betrieben mehr Eigensicherung als sich noch am Boden aktiv an Kampfhandlungen der afghanischen Armee zu beteiligen. Bundeswehr und Bundespolizei verlegten sich im Rahmen von „Resolute Support“ aufs militär-polizeiliche Ausbilden und Instruieren. Die Kämpfe gegen die Taliban, jetzt vor allem getragen von der afghanischen Armee, gingen weiter.

 

Krieg um westliche Werte?

Der Antiterrorkrieg in Afghanistan wurde groteskerweise offiziell ideologisch auch als Krieg um westliche Werte wie Freiheit und Demokratie geführt. Auch wenn diese Propaganda von Anfang an nicht sehr glaubwürdig war, müssen die beteiligten Regierungen jetzt vor der Öffentlichkeit in dieser Hinsicht ihr völliges Scheitern eingestehen. Die Ereignisse in Afghanistan zeigen die praktische Unmöglichkeit solche Werte von Außen aufzuoktroyieren, in einer zutiefst islamisch-patriarchalen Clan- und Sippen-Gesellschaft, in der traditionell die Uhren anders gestellt sind (ein Taliban-Spruch besagt: Ihr habt die Uhr, wir die Zeit). In der jeder Mann zuhause sein Gewehr oder heute eine Kalaschnikow-MP stehen hat. Nicht wenige Dörfer haben eigene Büchsenmacher-Läden. Das ganze Land ist an seinen Grenzen Waffen- und Drogen-schmuggel-Region. Seit jeher waren die Afghanen ein kriegerisches Volk, was früher die zeitweiligen britischen Besatzer davon abhielt, das Land wie Indien zu kolonialisieren. Das herrschaftlich dezentralisierte Land bot sich später geradezu dafür an, von islamistischen Befreiungskriegern usurpiert zu werden.

2003 wurde eine Verfassunggebende Versammlung abgehalten und der zuvor 2001 per Interim als solcher eingesetzte Sohn eines paschtunischen Stammesführers, Hamid Karzai, zum neuen Präsidenten gewählt. 2009 wurde Hamid Karzei wiedergewählt. 2014 und 2019 wurde dann Ashraf Ghani zum Präsidenten gewählt. Bei beiden Wahlen hat der unterlegene Gegenkandidat, Abdullah Abdullah, über massive Wahlmanipulationen geklagt. In beiden Fällen kam eine, zumindest oberflächliche, Einigung erst nach intensiven „Vermittlungen“ der USA zustande. Beim ersten mal wurde Abdullah zu einer Art Ministerpräsident ernannt, ein in der Verfassung nicht vorgesehenes Amt. Nach der zweiten Wahl wurde er der Vorsitzende des „Hohen Rats für nationale Versöhnung“, der die Verhandlungen mit den Taliban führen sollte. Beiden Präsidenten und ihren Regierungen wird eine heftige Verstrickung in korrupte Machenschaften nachgesagt.

 

Korruption weit verbreitet

Die traditionelle afghanische Männergesellschaft hat kein gesteigertes Interesse an parlamentarisch-demokratischen Prozessen, an Gleichberechtigung von Mann und Frau oder Zugang zu Bildung über die einfache Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, hinaus. Wobei inzwischen vor allem Frauen in akademischen Berufen und Funktionen wie Ärztinnen, Anwältinnen, Lehrerinnen, Journalistinnen, Politikerinnen eine Vorhut bilden, die sich zum Teil am Westen orientiert, was sie zu vorrangigen Zielobjekten der Taliban-Unterdrückung machte und macht. Verschiedene Geberkonferenzen westlicher Industrieländer sollten mit Hunderten Millionen bis Milliarden Dollar im Rahmen von „nation building“ dem Land helfen, mehr eigene Infrastruktur aufzubauen, einen industriellen Sektor zu schaffen, Löhne anzuheben und das Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen zu fördern. Die unentwegten Kämpfe und Kriegshandlungen erschwerten diese Bestrebungen jedoch erheblich. Das meiste der internationalen Entwicklungshilfe kam kaum oder gar nicht zur Wirkung, dürfte dafür in dunklen bürokratischen und Korruptions-Kanälen der privaten Bereicherung versickert sein. Der Aufbau einer afghanischen Polizei (Monatsgehalt: 160 Euro), ein Hauptbetätigungsfeld zuletzt vor allem deutscher ziviler Unterstützer und Berater, scheint völlig fehlgeschlagen. Afghanische Polizeivorgesetzte behielten auszuzahlende Gehälter einfach ein und steckten sie in die eigene Tasche. Die afghanischen Streitkräfte waren trotz hoher eigener Verluste als aufgeblasene Chimäre nicht in der Lage, eine eigenständige militärische Kraft darzustellen. Ihre Loyalität galt oft mehr lokalen Warlords als der Regierung. Viele Mannschaften desertierten oder quittierten den Dienst. Sie überließen ohne entschlossene Führung und mangels Orientierung immer mehr den vorrückenden Taliban kampflos das Feld und sogar schweres militärisches Gerät vom Westen. Viele Afghan*innen fürchten, unter den Taliban könnte das Land erneut „in die Steinzeit“ zurückfallen. Erinnert sei nur an die verheerende Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan durch Taliban-Sprengkommandos, an deren Rekonstruktion man bereits wieder arbeitete. Auch das ist jetzt alles obsolet.

 

Kosten des Antiterrorkrieges

Allein der deutsche Militäreinsatz soll offiziell 12,5 Milliarden Euro gekostet haben. Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsfragen (DIW) könnte der Betrag jedoch locker um bis das Doppelte höher liegen, je nachdem, was man an Kosten für Personal, Infrastruktur, Material usw. einrechnet. Steuergeld, das buchstäblich in den Sand gesetzt wurde. Dafür verantwortlich zu machen sind die verschiedenen Bundesregierungen seit 2001, Rot-Grün, Schwarz-Rot, Schwarz-Gelb und wieder Schwarz-Rot. Wann immer es darum ging, das Bundeswehr-Mandat für Afghanistan im Bundestag routinemäßig zu verlängern, waren sich alle diese demokratischen Parteien einig mit Ausnahme der PDS/Die Linke, die grundsätzlich dagegen stimmte. Am 31. August 2021 nannten deutsche Nachrichtenportale die Zahl von 2,3 Billionen US-Dollar als Kosten des US-Afghanistan-Einsatzes. Die USA haben, nachdem sie Osama Bin Laden (Kopfgeld: 5 Millionen Dollar) 2011 in seiner pakistanischen Rückzugsfestung in Abbotabad liquidieren konnten, mehr und mehr das Interesse an dem Wüstenland ohne großen „materiellen Wert“ verloren. Ex-Präsident Barack Obama leitete ab da den schrittweisen Truppenrückzug ein. Hinzu kommt, dass die geostrategische Bedeutung Afghanistans merklich nachgelassen hat, seit für die USA der indo-pazifische Raum für die wirtschaftliche (und bald vielleicht militärische) Auseinandersetzung mit China wesentlich wichtiger geworden ist und man Indien inzwischen sicher als Verbündeten an der Seite des Westens gegen China und Russland gewonnen hat. Doch die beiden eurasischen Großmächte werben schon um die Gunst einer neuen Taliban-Regierung. China als enger Verbündeter Pakistans will überdies Afghanistan, mit dem es eine 65 km lange Grenze hat, in seine Handelsstrategie einer „Neuen Seidenstraße“ integrieren. Hier zeichnen sich womöglich neue militärisch-wirtschaftliche Allianzen ab.

 

Kriegsopfer

Erschreckend ist die Bilanz der Opfer der letzten 20 Kriegsjahre, die man mit mindestens 43.000 Zivil-Toten angeben muss. Schon während des Kampfes gegen die Sowjet-Invasion und dann in der Bürgerkriegsphase muss von mindestens 1 Million Toten, Soldaten, Kämpfer und Zivilisten auf allen Seiten, darunter viele Frauen und Kinder, ausgegangen werden. Das Land ist weithin gefährlich vermint. Etwa fünf Millionen Binnen- und Auslandsflüchtlinge sind seit den 1980er Jahren zu verzeichnen. Die NATO-/ISAF-Koalition hat etwa 3.500 (davon die USA 2.461), die afghanischen Streitkräfte haben ungefähr 64.000 und die Taliban 68 bis 72.000 gefallene Soldaten und Kämpfer zu beklagen (Angaben teils nach wikipedia). Doch sind alle diese Zahlen nur ungesicherte Angaben und mit Vorsicht zu behandeln.

 

Was bringt eine neue Taliban-Herrschaft?

Afghanistans Menschen leiden enorm unter den Folgen eines über 40-jährigen Krieges. Ungefähr 80 Prozent von ihnen zeigten Symptome von Kriegspsychose und Depressionen, stellt die Ärztin Nilofar Ibrahimi fest (laut TV-Dokumentation „Afghanistan. Unser verwundetes Land“). Die erheblichen Menschen- und Infrastrukturverluste, Zerstörung von Städten und Dörfern, Tausende durch Minen und Bombenattentate Verstümmelte sowie Hunderttausende Waisen stellen eine schwere gesell-schaftliche und demographische Belastung dar. Das Land bräuchte dringend einen dauerhaften Frieden, um zur Ruhe zu kommen und sich zu regenerieren. So aber rangiert es weit abgeschlagen unter den ärmsten der Erde. Ist solches unter neuer Taliban-Herrschaft zu erwarten? Eine Einschätzung von Simar Samar, Frauenrechtlerin und unter Ex-Präsident Karzai die erste afghanische Ministerin für Frauenangelegenheiten, geht dahin, dass es mit den heutigen Taliban keine Rückkehr in die ganz finstere Zeit der 1990er Jahre geben wird, aber um welchen Preis vermag auch sie nicht anzugeben (laut „Afghanistan. Unser verwundetes Land“). Der Entwicklungshelfer Reinhard Erös von der Kinderhilfe Afghanistan will im Land seine langjährige Aufbauarbeit auch unter den Taliban fortsetzen. 30 Schulen konnten errichtet, eingerichtet und 70.000 Schüler*innen unterrichtet werden. Das alles, betont er, sei auch in Gesprächen mit Dorfältesten und Taliban-Vertretern erreicht worden und soll jetzt nicht einfach aufgegeben werden. Aber dazu bedürfe es auch der Sprach- und Kulturkompetenz und des Vertrauens, Fähigkeiten, die viele „West-Helfer“ bisher kaum oder gar nicht mitgebracht hätten (zit. nach Phoenix-Runde vom 25.8.2021). Teile der vor allem städtischen Bevölkerung, darunter viele Frauen, setzten große Hoffnung auf die westliche „Befreiungs-propaganda“. Nicht wenige fürchten nun unter einem erneuten Taliban-Regime um ihre Unversehrtheit, dass ihnen wieder demütigende Unterjochung, die Schmach der Ganzkör-perverhüllung (Burka) und allgemeine Verfolgung droht. Das sog. Friedensabkommen – man muss wohl eher von einem schlechten „Deal“ sprechen – zwischen Ex-US-Präsident Trump und den Taliban (ohne afghanische Regierungsbeteiligung) von 2020, beinhaltete vor allem Vereinbarungen über einen schrittweisen Abzug der US-Truppen und die wohl eher opportune Zusage der Taliban, dem Terrorismus abzuschwören und sich an Friedensgesprächen mit der Regierung zu beteiligen. Diese treten jedoch seit ihrem Beginn im Jahr 2018 auf der Stelle. Präsident Ghani (seit 2015) bot den Taliban die Anerkennung als politische Partei an.

Der Westen hat schon länger das Interesse an dem zerstörten und ausgebluteten Land verloren und was noch schlimmer wiegt und die Kriegs-Politiker hierzulande beschämen muss, sich aus der Verantwortung für den angerichteten Schaden gestohlen. Die sog. westlichen Werte erwiesen sich für das afghanische Volk kaum als tragfähige Substanz. Viel Kredit wurde dadurch für lange Zeit verspielt. Es mag sogar so sein, dass Taliban und Bevölkerung sich absehbar irgendwann miteinander arrangieren. Die „Gotteskrieger“ werden, um es sich mit dem Gros der Bevölkerung nicht völlig zu verscherzen, ihr drakonisches religiöses Regime lockern und schon aus Gründen der ökonomischen, sanitären und Lebensmittel-Versorgung zu Zugeständnissen und mehr Freiheiten bereit sein müssen. Darum dürften auch ihre Führer besorgt wissen. Denn dies nicht zu berücksichtigen, könnte sogar längerfristig zum Anfang vom Ende ihrer zweiten Herrschaft führen. Historische Prozesse, das ist eine Binsenweisheit, erzeugen immer auch Gegenkräfte. Die Verständigung darüber ist jetzt vor allem eine Sache der Afghaninnen und Afghanen selbst. Die studierte Archäologin, Lehrerin und Politikerin Shukria Barakzai drückt es im Film „Afghanistan. Unser verwundetes Land“ so aus: „Ich habe einen Traum, ich möchte mein Land zurück, … ist das zu viel?“

EK/HB, 2. September 2021.

 

Quellen + Literatur: „Ghosts of Afghanistan – Die Macht der Taliban“ (TV-Reportage), „Afghanistan – das verwundete Land“ (4 Folgen: Das Königreich – Die Sowjetarmee – Mudjahedin und Taliban – Die NATO-Truppen). TV-Dokumentation. Regie: Mayte Carrasco und Marcel Mettelsiefen. D 2019 - Hans Ulrich Rudolf und Vadim Oswalt (Hg.): Atlas Weltgeschichte. Stuttgart 2009 - Der Große Ploetz. Die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten – Fakten – Zusammenhänge. Freiburg i. Br. 1998 (32. neubearb. Aufl.) - Der Neue Fischer Weltalmanach 2015, Schwerpunkt Minderheiten. Zahlen – Daten – Fakten. Frankfurt/M. 2014 - Diercke Weltatlas (m. polit., physischen und wirtschaftlichen Karten). Braunschweig 2008 - Imanuel Geiss: Geschichte griffbereit in 6 Bänden. Gütersloh/München 2002 - Bernhard Chiari (Hg.): Afghanistan (Wegweiser zur Geschichte), i. A. des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. Paderborn/München 2007 (2., durchges. u. erw. Aufl.) -.Peter Scholl-Latour: Die Welt aus den Fugen. Betrachtungen zu den Wirren der Gegenwart. Berlin 2014 - ders.: Kampf dem Terror – Kampf dem Islam? Chronik eines unbegrenzten Krieges. Berlin 2004 - Emran Feroz: Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror. Frankfurt/M. 2021

 

siehe auch: Afghanistan: eine erste Bilanz