Bevor wir uns den Resultaten der Abstimmungen vom letzten Oktoberwochenende zuwenden, müssen wir uns in Erinnerung rufen, um welche gesellschaftliche Variante es sich bei Chile handelt. Unsere Massenmedien sehen dort eine Linksregierung an der Macht. Das nd hält den Präsidenten Gabriel Boric für gemäßigt links, während die junge Welt ihm das Etikett “Sozialdemokrat” verpasst. Anscheinend wird Chile hierzulande als erträglicher Sozialstaat gesehen.
Dem ist nicht so! Das zeigte zuletzt die Revolte kurz vor der Coronapandemie. Leider hat sie nichts bewirkt. Noch immer gilt das Subsidiaritätsprinzip: Der Staat darf nur dann tätig werden, wenn kein privater Akteur darin eine Möglichkeit zur Gewinnerzielung sieht. Das betrifft fast alle Bereiche der Daseinsvorsorge und der Infrastruktur. Deshalb gehen viele Beobachter davon aus, dass es früher oder später wieder zu sozialen Explosionen kommen wird.
Dass Chile kein Sozialstaat auf der Basis eines Klassenkompromisses ist, zeigt auch die Bewunderung, die dem gegenwärtigen argentinischen Präsidenten zuteil wird. Bei einem Besuch war der Herr des ökonomischen Kettensägenmassakers voll des Lobes: “Chile war ein großes Beispiel dafür, was zu machen ist, um über die Zeit eine ökonomische Entwicklung [er meint Wachstum, EB] aufrecht zu erhalten, sowohl durch seine gesunden Beziehungen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten [Sektor] wie auch durch die nicht verhandelbare Wirtschaftspolitik, welche fortbestand trotz der Wechsel der politischen Zyklen.”1
Daher konnte man von der Regierung Boric nicht viel erwarten. Unabhängig von der Frage, inwieweit er sein Programm, wenn er denn die Möglichkeit dazu hätte, überhaupt umsetzen würde. Doch zu dieser Probe aufs Exempel ist es nicht gekommen. Er besitzt im Parlament keine Mehrheit. Das alles war von Anfang an bekannt. Doch wurde das sowohl in Chile als auch in der deutschen Berichterstattung ignoriert.2 Entsprechend ist bei seinen Anhängern der Katzenjammer groß. Man befürchtete deshalb bei diesen Wahlen einen rechten Durchmarsch, ähnlich der Wahl der Verfassungsräte. Verstärkt wurden diese Befürchtungen dadurch, dass es sich um den ersten regulären Urnengang nach Wiedereinführung der Wahlpflicht handelte. Das hatte letztes Jahr der Rechten genützt.
Ein direkter Vergleich beider Wahlgänge ist nur eingeschränkt möglich. Zum einen spielen bei Kommunalwahlen lokale Gründe eine große Rolle. Dazu kommt, dass hier auch alle Einwanderer wahlberechtigt sind. Daher finden sich im Datensatz der Wahlbehörde Servel3 fast alle Länder der UNO, von Afghanistan bis Simbabwe, das im Spanischen mit dem Buchstaben Z geschrieben wird. Deshalb lassen sich aus den Zahlen nur ungefähre Rückschlüsse auf politische Entwicklungen ziehen.
Was ist passiert?
Der angesehene Journalist Ascanio Cavallo kommentierte den Wahlausgang für die bürgerliche Tageszeitung La Tercera: “Die Wahlen von diesem Wochenende zeigten einige der Zweideutigkeiten, die für Kommunal- und Regionalwahlen charakteristisch sind, aber es gibt einen Punkt, bei dem das nicht der Fall ist: Das Regierungslager wurde massiv abgestraft.”4 Er begründet das bei den Bürgermeisterwahlen mit dem beträchtlichen Verlust strategisch wichtiger Kommunen wie Santiago oder Nuñoa. Innerhalb des Regierungslagers sieht er die Frente Amplio (FA) gestärkt, während der Zusammenschluss Socialismo Demokratico (Sozialisten, Radikale, Liberale und der Partei für die Demokratie) sowie die Kommunisten verloren.
Das Abschneiden der Rechten beurteilt Cavallo so: “Auf Seiten der Opposition gelang es der Republikanischen Partei (REP) (Die Rechtsradikalen, EB), Chile Vamos (Das traditionelle rechte Bündnis, EB) herauszufordern, aber ohne den überwältigenden Erfolg, den sie sich gewünscht hatte, aber auch ohne den Misserfolg, der zu ihrem vorzeitigen Ende geführt hätte. Aus symbolischer (nicht zahlenmäßiger) Sicht erreichten die Republikaner ein Unentschieden innerhalb der gesamten Opposition.”
Seine Berufung auf das Symbolische rührt daher, dass das landesweite Ergebnis die Republikaner bei den Regionalräten mit fast 16% zur stärksten politischen Kraft des Landes macht. Die traditionelle Rechte von Chile Vamos war mit drei Listen ins Rennen gegangen, die zusammen fast 27% erreichten. Addiert man die Ergebnisse von REP, Chile Vamos und der Sozialchristlichen Partei (PSC) kommt man für dieses Lager auf einen Anteil von 46,4 Prozent. Das sind 10 Prozentpunkte weniger als bei der Wahl der Verfassungsräte. Damals erreichten sie 56,5%, allein die REP steuerte 35,4% dazu bei.
Die PSC ist die Nachfolgepartei der Christlichkonservativen Partei (PCC), die in der Regel im Bündnis mit der REP kandidierte. Sie hatte wegen des zu geringen Zuspruchs ihre Parteieigenschaft verloren. Daraufhin haben ihre Aktiven die PSC gegründet.
Vergleicht man die heutigen Zahlen mit den Ergebnissen der letzten Wahl der Regionalräte, zeigt sich die Rechtsverschiebung. Im Vergleich zu 2021, damals lag die Beteiligung etwas unter 50%, haben die Rechtsradikalen um mehr als eine Million Stimmen zugelegt. Das ließ ihr Ergebnis von 7,7% auf 15,7% emporschnellen.
Vor dem Aufkommen der REP war die Unión Demócrata Independiente (UDI) die Heimstatt der harten Anhänger der Diktatur. Sie war als Teil des jeweiligen rechten Bündnisses zeitweilig die stärkste Partei Chiles. So bei den Parlamentswahlen von 2013, wo sie auf fast 19% gekommen war.
Diese Spitzenposition hat bei ihr den Wunsch erzeugt, auch einmal den Präsidenten zu stellen. Das funktioniert in Chile aber nicht mit ultrarechten Positionen. Das letzte Beispiel dafür ist die Niederlage des Anführers der REP gegen Boric. Daher hat sich die UDI etwas in die Mitte bewegt.
So beklagten sich sozialistische Veteranen in den Jahren vor der Pandemie, dass im Land niemand mehr über die Verbrechen der Diktatur sprechen wolle. Die Kommunisten kamen in ihrer Wahrnehmung gar nicht vor. Die Einzigen, die das noch tun, seien Vertreter der UDI. Von ihnen ist zu hören, dass sich so etwas wie der Putsch nicht wiederholen darf. Eine verrückte Situation! Die Einzigen, die ein Nie wieder! vertreten und von den Massenmedien wahrgenommen werden, waren die Rechtsradikalen.
Das hat der Partei ein nicht unbeträchtlicher Teil ihrer Basis übel genommen. Sie haben sich mit der REP eine neue politische Vertretung geschaffen. Es ist fragwürdig, Wahlen unterschiedlicher Ebenen miteinander zu vergleichen. Erst recht, wenn die Menschen einmal mittels Strafen zum Wählen gezwungen werden und das andere Mal nicht. Doch deutet die Veränderung des Zuspruchs für die UDI von der Parlamentswahl 2013 bis heute die Bewegung ihrer Anhänger an. Nicht in Stimmenzahlen, da hat sie nur leichte Verluste zu verzeichnen, aber in Prozenten. Da ist sie von 19% auf 10,2% abgestürzt.
Dass diesem Vergleich durchaus eine Aussagekraft innewohnt, zeigen die Zahlen für die zweite traditionelle Rechtspartei, die Renovación Nacional (RN). Bei allen Bedenken wegen der Rahmenbedingungen hat die RN zwischen diesen Abstimmungen fast 400.000 Stimmen dazu gewonnen, wegen des Effekts der Wahlpflicht aber 1,3 Prozentpunkte verloren. Daraus lässt sich schließen, dass an der Basis der Gesellschaft in den letzten zehn Jahren kaum Veränderungen stattfanden, nur die Rolle der UDI ist an die REP übergegangen.
Die Wahlbeteiligung
Wie nicht anders zu erwarten, hat die Wahlpflicht die Beteiligung nach oben getrieben. Mit fast 85% liegt sie in etwa auf dem aktuellen Niveau von Ländern mit vergleichbaren Regelungen. Doch bei den ersten freien Wahlen, als den Menschen noch die Schrecken der Diktatur in den Knochen steckten, lag sie bei fast 95%5. Auch damals galt in der Theorie eine Wahlpflicht, sie wurde aber nicht durchgesetzt.
Wie bei allen Abstimmungen gab es schon damals ungültige Stimmen. Doch betrug ihr Anteil gerade einmal 5,3% der abgegebenen Stimmen. Dieser Wert ist bis heute, ähnlich wie bei der Wahl der Verfassungsräte, auf sagenhafte 21,5% gestiegen. Damit haben nur 2/3 der Wahlberechtigten den Wahlen die Bedeutung zugebilligt, die sie haben.
Die Zahlen verraten uns natürlich nicht, was 1/3 der Chilenen zu ihrem Verhalten bewogen hat. Einen Hinweis geben uns aber die Ergebnisse aus Puente Alto. Diese Kommune liegt im Südosten von Groß-Santiago und gilt als die bevölkerungsreichste Chiles. Dort sind fast 90% der Wahlberechtigten im Wahllokal erschienen. Einem Teil von ihnen ging es nur darum, den Unabhängigen Kandidaten Matias Toledo zu ihrem Bürgermeister zu küren. Das zeigt die Differenz der ungültigen Stimmen zwischen Bürgermeister- und Stadtratswahl. Während bei ersterer 10,6% der Menschen nur formal ihre Wahlpflicht erfüllen wollten, waren das bei letzterer 26,3%.
Grob gesagt, ist die um fünf Prozentpunkte höhere Wahlbeteiligung im Vergleich zum Landesdurchschnitt mit der Person des Bürgermeisterkandidaten zu erklären. An der Stadtratswahl war das Interesse schon wesentlich geringer und die Zahl der ungültigen Stimmen um ca. 5 Prozentpunkte höher als im Landesdurchschnitt.
Dieses Verhalten zeigt einmal mehr das mangelnde politische Bewusstsein vieler Chilenen. Man kürt eine Person zum Anführer, verweigert ihr aber ein loyales Team. In Puente Alto scheint das nicht passiert zu sein, aber bei den letzten landesweiten Wahlen war das so. Deshalb fehlt auch Boric die parlamentarische Mehrheit.
Die Überraschung von Puente Alto
Puente Alto sticht nicht nur wegen seiner Wahlbeteiligung aus der Masse der Ergebnisse heraus. Hier hat der als Unabhängiger kandidierende ehemalige Vorsitzende der linken Partei der Gleichheit der Rechten nach 24 Jahren das Bürgermeisteramt entrissen. Für seine Kandidatur musste er aus seiner Partei austreten. Doch das war die Voraussetzung, dass Matias Toledo 51,5% der Wähler hinter sich versammeln konnte. Karla Rubilar, eine ehemalige Familien- und Sozialministerin von Piñera, erhielt nur 37,3%.
Der Einstieg Toledos in die Politik erfolgte als Oberschüler in der Bewegung der Pinguine. Sie setzte sich 2006 für eine gute und kostenfreie Bildung ein. Die chilenische Schuluniform verleiht ihren Trägern eine gewisse Ähnlichkeit mit diesen Tieren, daher kommt der Name der Bewegung.
Der spanischen Tageszeitung El País erklärte er seinen Erfolg mit 18 Jahren Basisarbeit, die er für die Einwohner der Stadt geleistet hat. „Hier gibt es keine Zauberformel, es ist Arbeit. Es handelt sich nicht darum, drei Monate vor der Wahl aufzutauchen und etwas zu machen. Das mag bei den Schönen funktionieren, aber für ernsthafte Arbeit, die in der Gegend verankert ist, muss man mit den Füßen im Schlamm und auf dem Boden stehen. Der einzige Weg, sich in einem Gebiet zu verwurzeln, ist die Zeit. Es geht darum, da zu sein und Probleme zu lösen und nicht, um etwas zu versprechen. Die Nachbarn sind daran gewöhnt und desillusioniert von dieser Politik, die nur verspricht. Aber wenn sie sehen, dass jemand etwas tut, halten sie zu ihm.“6
Das wird auch von Manuel Ossandón (RN), er ist einer der Senatoren dieser Gegend, bestätigt. In einem Podcast mit La Tercera spricht er von Toledos 5- bis 6-jähriger Basisarbeit: “Der Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass er sich [den Sieg] verdient hat, man hat ihm den nicht geschenkt.”7
Laut EL Siglo, dem Onlineportal der Kommunisten, “zeigt [Puente Alto] die Stärke einer Kandidatur der sozialen Bewegung”.8 Dabei geht etwas unter, dass der Erfolg nur mit Unterstützung des Regierungslagers stattfinden konnte. Es war zwar mit einem sozialistischen Kandidaten vertreten. Als aber klar wurde, dass der keine Chance hat, wurde Richtung Toledo orientiert. Das ist in etwas der Inhalt einer gedrechselten Antwort von Lautaro Carmona, dem Präsidenten der KP, in einem Interview mit El Siglo.9
Daher ist die Einschätzung von Ascanio Cavallo hinsichtlich des Abschneidens des Regierungslagers etwas unvollständig. Denn ohne sein Agieren in Puente Alto wäre Toledo nicht Bürgermeister geworden. Unter Zugrundelegung der Stimmverteilung bei der Stadtratswahl ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er wie vor drei Jahren hinter der rechten Bewerberin nur auf dem 2. Platz gelandet wäre. Daher ist sein Erfolg auch ein Erfolg des Regierungslagers.
Die Sitze des Stadtrats von Puente Alto verteilen sich so: Auf der Rechten drei für Chile Vamos und einen für die REP, auf der Linken je ein Mandat für Sozialisten, Kommunisten und Frente Amplio, dazu eines für eine Linke Ökologische Volksliste und zwei weitere für Ökologische Tierschützer. Damit haben Sozialisten und Kommunisten jeweils ein Mandat verloren, während die Rechte um einen Sitz zugelegt hat.
Das Abschneiden der Mitte
Hier muss man definieren, was in Chile überhaupt die Mitte ist. Wie schwer politische Organisationen einzuordnen sind, sieht man bei der Liberalen Partei (PL). Sie gehört zur Regierungskoalition und damit im chilenischen Kontext zur Linken. Gleichzeitig ist das eine Bruderpartei der deutschen FDP. Beide Organisationen werden also politische Übereinstimmungen aufweisen, doch die FDP würde niemand links verorten.
Gleichzeitig ist die PL Teil des Socialismo Democrático (Demokratischer Sozialismus). Sein Name legt eine linke Tendenz nahe. Doch da eine Mehrheit der Sozialisten ihren Frieden mit dem Neoliberalismus gemacht hat, gehören sie eigentlich zur Mitte, auch wenn sie sich nicht so fühlen mögen.
Im Folgenden sollen daher nur die Kräfte zur Mitte gezählt werden, die weder Teil des Regierungslagers sind noch zur Rechten gehören wollen. Dabei handelt es sich um Organisationen wie die Christdemokratische Partei (DC) und ihre Spaltprodukte. Um die Probleme der DC zu verstehen, muss man in der Geschichte etwas zurückgehen.
Die DC wurde in den 50er Jahren von Kadern der Falange Nacional aufgebaut. Sie behauptete, eine Partei der Mitte zu sein. In gewisser Weise war sie das auch. Als es aber 1973 zum Schwur kam, gehörte sie zu den Kräften, die das Militär zum Eingreifen aufforderten. Die Linke war von ihrer Niederlage 1973 so mitgenommen, dass sie in den 1990er Jahren christdemokratische Politiker zu Präsidenten Chiles wählte. In dieser Zeit war die DC mit über 20% die stärkste Partei des Landes. Doch die Concertación, die damalige Regierungskoalition, beschäftigte sich hauptsächlich mit der Optimierung des Neoliberalismus. Deshalb verlor sie an Rückhalt. Zum Ausgleich begann man mit der KP zusammenzuarbeiten. Nur so konnte sie weiterhin Präsidentschaftswahlen gewinnen. Für viele Christdemokraten war das die Überschreitung einer roten Linie. Es gehört zu ihren Dogmen, niemals zusammen mit Kommunisten auf einer Liste zu stehen. Daher hat der rechte Flügel in den letzten Jahren die Partei verlassen. Seine Aktiven haben sich neuen Organisationen wie den Amarillos oder den Demócratas angeschlossen.
Daher war die Wahl der Regionalräte für dieses Milieu auch ein Kräftemessen dahingehend, wie sich der gesellschaftliche Einfluss nun zwischen ihnen aufteilt. Amarillos und Demócratas bildeten das Wahlbündnis Demokratisches Zentrum, dessen Kandidaten fast im ganzen Land auf den Stimmzetteln zu finden waren. Zusammen erreichten sie 3,1%, was ihnen, bzw. nur den Demócratas, 6 Mandate einbrachte.
Die Liste der DC kam auf 7,1% und 29 gewählte Vertreter. Vor drei Jahren, unter ganz anderen Bedingungen, erhielt sie 8,5%, was damals 36 Sitze bedeutete. Man kann sagen, dass dieses Lager durch seine Aufspaltung und die Wahlpflicht zwar um ca. 450.000 Wähler und 1,7 Prozentpunkte zulegte, ihm aber ein Mandat verloren ging. Jetzt bleibt abzuwarten, welche Schlüsse die neuen Parteien aus diesem Ergebnis ziehen werden.
Das Abschneiden der Parteien der Regierungskoalition
Die Regierungskoalition ist mit fünf Listen ins Rennen gegangen. Zwei Organisationen, die PR und die Frente Amplio, haben Alleinkandidaturen eingereicht. Dazu muss man sagen, dass die Frente Amplio inzwischen den Schritt vom Wahlbündnis zur Partei gegangen ist. Die Liberalen haben sich dem verweigert. Für diese Abstimmung sind sie eine Allianz mit der Federación Regionalista Verde Social (FRVS) eingegangen. Das ist bemerkenswert, da letztere über viele Jahre immer im Bündnis mit der KP agierte. Die Kommunisten wiederum haben jetzt eine Liste mit der Acción Humanista (AH) gebildet. Die AH ist eine Abspaltung des Partido Humanista (PH). Das ist eine Reaktion darauf, dass die PH von der umstrittenen Abgeordneten Pamela Jiles mehr oder weniger gekapert worden ist. Tomás Hirsch, einer der Gründungsmitglieder der PH, ist jetzt der Parteivorsitzende der AH.
Fehlen noch die Sozialisten und die PPD. Sie sind unter dem Namen Lo Mejor Para Chile (Das Beste für Chile) angetreten. Die Frage liegt nahe, warum sich nicht zumindest die Parteien des Socialismo Democrático auf eine gemeinsame Liste verständigen konnten.
Zusammen haben diese fünf Bewerbungen 3.342.212 Stimmen erhalten, das entspricht 25,4% und 100 Mandaten. Das ist nicht viel. Erst recht, wenn man bedenkt, dass sie die Regierung tragen. Das schlechte Abschneiden ist aber auch eine Folge unabhängiger Kandidaturen wie der in Puente Alto.
Es ist sehr aufwändig, Vergleiche mit den Ergebnissen der letzten Kommunal- und Regionalwahl anzustellen. Das liegt an der Unübersichtlichkeit der Wahlvorschläge sowohl hinsichtlich der Namen wie auch der politischen Zusammensetzung. Sie ändert sich von Wahl zu Wahl. Im Rahmen der Wahlbündnisse ist es für den Wähler aber immer noch möglich, die von ihm favorisierte Partei anzukreuzen. Daher sollen im Folgenden die Ergebnisse einiger bekannter Organisationen verglichen werden. Daraus lassen sich zumindest Tendenzen ableiten.
Die Sozialisten erreichten 6,4% (2021: 5,9%), was ihnen 30 (2021: 23) Mandate bescherte. Ihr Partner PPD brachte es auf 4,1% (3,8%), was trotz des prozentualen Zuwachses den Verlust eines Mandats auf jetzt 18 Sitze bedeutete. Das ist eine Folge des Wahlsystems. Sie können sich damit im Vergleich mit dem Partido de la Gente (PDG) sogar noch glücklich schätzen. Die vor einigen Jahren hoch gejubelte populistische Partei stürzte von 7,7% auf 3,8% ab, was ihr nicht nur eine Halbierung der Sitze bescherte, sondern den freien Fall von 22 auf drei Mandate.
Die stärkste Kraft im Regierungslager wurde die Frente Amplio mit 8,6% (9,2%). Sie legte trotz des geringeren Prozentergebnisses um drei Mandate auf jetzt 19 zu. Aus dem alten Ergebnis sind die 0,16% der PL schon herausgerechnet. Wie schon erwähnt, gehörten die Liberalen damals noch zum Wahlbündnis FA. Sie verbesserten sich jetzt auf 0,55%, was ihnen ein Mandat sicherte.
Zur Regierungskoalition gehört auch die FRVS. Sie erreichte diesmal 1,6% und vier Mandate. Dabei sind die Unabhängigen (2,1% und drei Mandate) auf ihrer Bündnisliste mit der PL noch gar nicht eingerechnet. Bei der letzten Wahl erreichte sie als Partei 1% und zusammen mit ihren unabhängigen Kandidaten 3,8%. Addiert man die heutigen Zahlen, sieht das nicht nach großen Veränderungen aus. Trotzdem hat das Ergebnis bei der Parteivorsitzenden zu einem gewissen Größenwahn geführt. Es gibt zwar keinen bekannten Politiker dieser Organisation, aber Flavia Torrealba erklärt: “Wir streben danach, an einer Vorwahl des Präsidentschaftskandidaten des fortschrittlichen Lagers teilzunehmen”.10 Das begründet sie damit, dass ihre Organisation bequem die Marke von einer Million Stimmen übersprungen habe. Doch sagt sie nicht, bei welchem der vier Wahlgänge dies der Fall gewesen sein soll. Bei keinem ist sie, selbst bei großzügigster Auslegung der Ergebnisse, auch nur über eine halbe Million gekommen.
Insgesamt gesehen hat das Regierungslager etwas verloren. Aber es ist strittig, wie man das einordnen soll. Das reicht von der Ansicht Cavallos, dass es massiv abgestraft wurde, bis zur Einschätzung von Tomás Hirsch (AH), der erklärt: “Wir bleiben in perfekter Verfassung, um nächstes Jahr die Präsidentschaftswahl zu gewinnen.”11 Dem widerspricht die KP: “Also, wie wir bereits betont haben, wenn es den Kräften der Opposition gelingt, sich zu vereinen, besteht real das Risiko, die nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu verlieren.”12
Die Angriffe gegen die Kommunisten
Die KP ist Teil der Regierung und stellt einige Minister. Das gefällt auch im progressiven Lager nicht allen. So gab es im Zusammenhang mit den Wahlen in Venezuela den Versuch, die Partei aus der Koalition zu drängen. Den dortigen Abstimmungen hatte Boric “Wahlfälschung” unterstellt und das Land als “Diktatur” bezeichnet.
Vertreter wichtiger Parteien des Regierungsbündnisses forderten ihre Kollegen von der KP auf, sich der Position des Präsidenten anzuschließen. So der Abgeordnete Raul Soto von der PPD: “Es ist weder konsequent noch kohärent, wenn sie Teil einer demokratischen Regierung wie der unseren sind, dass sie eine Diktatur … wie die in Venezuela unterstützen. Daher muss die Kommunistische Partei ihren Standpunkt überdenken … und die Position von Präsident Gabriel Boric unterstützen. In dieser Angelegenheit ist das mitschuldige Schweigen der Kommunistischen Partei unhaltbar.”13
Im gleichen Beitrag zitiert El Desconcierto den Vorsitzenden der PS-Fraktion Daniel Melo: “Ohne Zweifel ist es ein Problem, dass es nicht bei allen die gleiche Wertschätzung der Demokratie und die uneingeschränkte Verteidigung der Menschenrechte gibt. Ich hoffe, dass die KP ohne Zweideutigkeiten über diesen Umstand nachdenkt.”
Diese Debatte beendete der Präsident mit einem Machtwort: “Ich kenne keine andere Partei, die ad hominem so viele Angriffe und Lügen erfährt. Ich zumindest habe keinen Zweifel am demokratischen und sozialen Engagement der chilenischen KP.14
Doch die Angriffe auf die KP waren damit nicht vorbei. Mitte des Jahres wurde eines ihrer bekanntesten Mitglieder, Daniel Jadue, in Untersuchungshaft genommen. Laut der Untersuchungsrichterin stellt der Bürgermeister von Recoleta, einer Kommune von Groß-Santiago, “eine Gefahr für die Sicherheit der Gesellschaft dar”15. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Betrug, Untreue, Bestechung und Insolvenzvergehen vor. Von hier aus kann das nicht beurteilt werden. Doch sollte man bedenken, dass die KP Solidaritätsarbeit für ihn macht.
Nach der Wahl sind Chats bekannt geworden, die zeigen, dass es eine Verschwörung gegen ihn gegeben hat.16 Das Ziel war, ihn zu diskreditieren. Darauf reagierte der Beschuldigte aus dem Hausarrest, in den er inzwischen überstellt worden war, auf X: “Wie schön das bestätigt wird, wie die Konstruktion der Vorwürfe gegen mich startete, und wie schlimm, dass die Staatsanwaltschaft kein Interesse daran hat, den im Gesetz … enthaltenen Grundsatz der Objektivität einzuhalten.”17 El Ciudadano bezeichnete diese Vorgänge als “juristischen Krieg gegen Jadue”18 und das Nationale und Internationale Komitee “Gerechtigkeit und Freiheit für Daniel Jadue” verlangte seine sofortige Freilassung.19
Die Folgen solcher Anschuldigungen beschreibt der Historiker und ehemalige Sozialist Luis Mesina: “Der Antikommunismus greift diejenigen hart an, die sich nicht anpassen. Daniel Jadue ist dafür ein Beispiel. Der von der antikommunistischen Propaganda ausgeübte Druck ist so groß, dass dies zu guter Letzt dazu führt, dass die Kommunisten ihre eigenen Aussagen selbst abmildern und manchmal sogar für nichtig erklären. Am offensichtlichsten ist das bei den wichtigen Ministerinnen Camila Vallejo und Jeannette Jara sowie der Parlamentspräsidentin Karol Cariola. Sie haben sich von ihrem eigenen Genossen Jadue distanziert und damit das völlig rechtswidrige Gerichtsverfahren legitimiert.”20
Damit deutet Mesina die Zwangslage der Ministerinnen an. Sie müssen sich sowohl mit ihrem Genossen solidarisieren als auch als Repräsentanten des Staates hinter seinen Institutionen stehen. Sie haben das so gelöst, dass sie sich nicht hinter Jadue gestellt haben. Bei Fragen zu diesem Thema haben sie keine Stellung bezogen und auf die Unabhängigkeit der Justiz verwiesen. Das führt zu der von Mesina beklagten Legitimierung der Strafverfolgung. Da er in seinem Aufsatz diese Zwickmühle aber nicht klar benennt und damit den Genossinnen ein unsolidarisches Verhalten unterstellt, agiert auch er antikommunistisch. Aus der Partei selbst gab es keine Kritik am Verhalten ihrer Ministerinnen. Wahrscheinlich war das so mit den Gremien vereinbart.
Die Resultate der Kommunisten
Mitte des Jahres hoffte die KP ihren Stimmanteil bei den Regionalräten von großzügig geschätzten 8%, tatsächlich 7,3%, auf 10% verbessern zu können.21 Das ist leider nicht eingetreten. Am Ende hatte sie mit 7% leichte Verluste zu verbuchen. Die Zahl ihrer Regionalräte sank um vier auf jetzt 15 Mandate.
Bei den Gemeinderäten sieht es ähnlich aus. Da sind die Prozentzahlen von 9,2% auf 6,2% gefallen. Das hat einen Rückgang der Mandate von 129 auf 105 bewirkt. Aber heute stehen bei beiden Abstimmungen mehr Wähler als vor drei Jahren hinter den Prozentzahlen. Wahrscheinlich ist der Rückgang der kommunistischen Prozentanteile eine Folge der Wahlpflicht in Kombination mit den Angriffen. Jetzt gehen auch völlig unpolitische Menschen zur Wahl. Sie lassen sich leichter von den Propagandakampagnen der Konzernmedien beeinflussen, besonders wenn sich auch staatliche Institutionen daran beteiligen.
Besonders schmerzlich ist der Verlust des Bürgermeisteramtes der Kommune Santiago. Doch das war zu erwarten. Santiago ist das Flaggschiff der Gemeinden Chiles. Den Ort will jede Partei regieren bzw. alles dafür tun, dass er nicht in die Hand von Kommunisten fällt. Schon bei der Kandidatenaufstellung mäkelten einige Kräfte der Regierungskoalition herum, warum Irací Hassler ohne Vorwahlen aufs Schild gehoben wird.
Auf der rechten Seite verzichtete die REP auf eine Kandidatur, während auf der anderen Seite Linke Ökologen der Kandidatin Stimmen weggenommen haben. Es standen auch noch die Bewerber der Ökologischen Tierschützer und der PDG auf dem Stimmzettel. Doch auch die Stimmen dieser Kandidaten hätten Hassler nichts genützt. Der Kandidat von Chile Vamos setzte sich mit 51% durch.
Eigentlich kann sich Hasslers Ergebnis sehen lassen. Es stieg von ca. 45.000 auf 62.000 Stimmen an, eine Zunahme um mehr als 25%! Doch die Wahlbeteiligung ist um ca. 100.000 Stimmen gestiegen. Daher hatte das einen Rückgang des Prozentergebnisses von 38,6% auf 28,7% zur Folge. An ihrer Arbeit in der Stadtverwaltung wird das nicht gelegen haben. Sie wird im Großen und Ganzen gelobt.
Was gute Arbeit von Kommunisten bewirken kann, zeigt Lo Espejo. Das ist einer der beiden Orte, in denen die KP ihre Bürgermeister verteidigen konnten. Hier steigerte Javiera Reyes ihr Ergebnis von 23,5% auf 57,5%. Für diese Verdoppelung des Prozentergebnisses waren viermal mehr Stimmen notwendig als beim letzten Mal. Im acht Köpfe zählenden Gemeinderat sitzen nur zwei Rechte. Von den sechs Mandaten des Regierungslagers sind drei kommunistisch besetzt. Sie haben ein Mandat dazugewonnen. Dieses tolle Ergebnis ist wahrscheinlich nur möglich gewesen, weil sich die Rechte noch nicht auf Reyes eingeschossen hatte. Im Gegensatz zu Daniel Jadue.
Wegen seiner Festnahme musste er sein Bürgermeisteramt abgeben. Der Gemeinderat wählte aus seiner Mitte Fares Jadue als neuen Ortsvorsteher. Er ist mit Daniel Jadue weder verwandt noch verschwägert, gilt aber als sein Strohmann. Wobei diese Charakterisierung wahrscheinlich Teil der antikommunistischen Propaganda ist, die auch im progressiven Lager ihre Förderer hat. Dieser Wechsel von einem zu einem anderen Kommunisten war nur möglich, weil die KP die Mehrheit der Gemeinderäte stellte. Fares Jadue hat jetzt die Bürgermeisterwahl mit 35,8% gewonnen, aber sein Namensvetter lag bei 64%. Ein deutlicher Absturz. Hätte sich Chile Vamos mit der PSC verbündet, wäre ihr Kandidat jetzt mit 38,3% Bürgermeister. Auch in realen Zahlen ist das kommunistische Ergebnis ein Desaster. Trotz Wahlpflicht verringerte es sich von 35.305 auf 33.107 Stimmen.
Was ist der Grund dafür? Lag es am neuen Kandidaten oder an der Kampagne gegen Daniel Jadue? Es spricht viel für letzteres. Fares Jadue ist den Bürgern Recoletas schon länger durch seine Arbeit in der Stadtverwaltung bekannt. Vor drei Jahren hat er bei seiner Wahl in den Gemeinderat von allen Bewerbern die höchste Zahl an persönlichen Stimmen erhalten. Das zeigt seine lokale Verankerung. Die Verluste bei der Bürgermeister- und Gemeinderatswahl, dort sind die Mandate von fünf auf drei gesunken, können daher nur die Folge der Korruptionsvorwürfe gegen Daniel Jadue sein.
Für politisch weniger interessierte Zeitgenossen ist der Fall Jadue nur einer von vielen. In Chile sollen gegenwärtig ein paar hundert Ermittlungsverfahren wegen Korruption, sexueller Übergriffe und häuslicher Gewalt anhängig sein, in die mehr oder weniger bekannte Personen der Zeitgeschichte verwickelt sind. Handelt es sich um Rechte, werden sie von den Institutionen mit Nachsicht behandelt. So der Bürgermeister von Linares. Gegen Mario Meza (RN) wird wegen wiederholten Betrugs am Fiskus ermittelt. Damit wurde der Haushalt seiner Gemeinde gravierend geschädigt.22 Trotzdem wurde gegen ihn, im Gegensatz zu Jadue, dem gerade keine Schädigung der Gemeindekasse vorgeworfen wird, nur ein nächtlicher Hausarrest verhängt. Daher konnte Meza sein Amt behalten. Die Massenmedien haben über diesen Fall nur am Rande berichtet, so dass er mit 44,8% in seinem Amt bestätigt wurde.
Vor einiger Zeit wurde auch Präsident Boric angezeigt. Er soll private Bilder weiterverbreitet und sich damit einer sexuellen Belästigung schuldig gemacht haben.23 Alles spricht dafür, dass hier aus der rechtsradikalen Ecke etwas gegen Boric fingiert worden ist. Aber selbst, wenn es zu keiner Anklage kommt, wird das bei vielen so aufgenommen: “Die Großen lässt man laufen.”
Resümee
Der durch die Wahlpflicht hervorgerufene Stimmenzuwachs für fast alle politischen Kräfte ist, wie erwartet, besonders der Rechten zugutegekommen. Das geschah aber nicht im befürchteten Ausmaß. Dem Regierungslager hat das, ganz besonders den Kommunisten, politischen Einfluss gekostet. Zugelegt haben auch unabhängige Kandidaturen wie die in Puente Alto. Das gleiche gilt für Listen, die die Worte Ökologie und/oder Tierschutz im Namen tragen. Wo sie politisch einzuordnen sind, ist noch offen.
Gleichzeitig hat sich 1/3 der Wahlberechtigten der Abstimmung entzogen. Hier sollte eigentlich ein Potenzial für linke Kräfte liegen. Es ist aber zu befürchten, dass es auf absehbare Zeit nicht gehoben werden kann, solange der Neoliberalismus den Menschen individualistisches Denken in die Köpfe hämmert. Linke Organisationen müssen, wenn sie denn links sein wollen, auf einem gewissen Kollektivismus bestehen. Dieser steht aber im Gegensatz zum neoliberalen “Jeder kann machen, was er will”.
Emil Berger
-
Siehe der Bericht Ein linker Erfolg? in der ARSTI Nr. 215 vom Frühjahr 2022
-
Alle Zahlen stammen, wenn nicht anders angegeben, von https://www.servel.cl/
-
https://es.wikipedia.org/wiki/Elecciones_parlamentarias_de_Chile_de_1989
-
https://elsiglo.cl/26-27-o-sincerando-datos-de-elecciones-municipales-y-regionales/
-
https://elsiglo.cl/26-27-o-el-resultado-abre-expectativas-de-estimular-mas-trabajo-lautaro-carmona/
-
https://www.elciudadano.com/chile/la-ofensiva-del-anticomunismo-en-chile/07/21/
-
https://elsiglo.cl/pc-buscara-llegar-a-dos-digitos-en-su-votacion-en-eleccion-municipal/