"Karuscheits Trilogie zur neueren deutschen Geschichte -Teil 1: Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs"

in Arbeiterstimme 229, Herbst 2025

Im Folgenden geht es mir neben den Kernpunkten des Arsti-Artikels auch um Positionen von Heiner Karuscheit, die ich aus "Deutschland 1914. Vom Klassenkompromiss zum Krieg" und anderen Schriften kenne, insbesondere "Aufsätze zur Diskussion - Kommunistische Debatte" (AzD), deren Mitherausgeber er ist. Zu denen, die ich in diesem Zusammenhang nicht teile, gehören m. E. folgende: 1. Seiner Ansicht nach sei das Kaiserreich von 1871 bis 1918 noch ein "vorbürgerlicher" Staat bzw. ebensolche Gesellschaftsordnung gewesen; 2. die damalige sozialistische/kommunistische Linke habe den strategischen Fehler gemacht, auf eine sozialistische Revolution zu drängen, anstatt sich mit dem zu begnügen, was auf der Tagesordnung gestanden habe, nämlich der Transformation in eine bürgerliche Republik, und habe dadurch das Bürgertum verprellt und gegen sich aufgebracht; 3. wer daran festhalte, dass es 1918/1919 eine Chance gegeben habe, um eine sozialistische Revolution zu kämpfen, verlängere vergangene Niederlagen der Arbeiterbewegung in die Gegenwart (damit meint er übrigens auch den Artikel "Eine Revolution der Arbeiterklasse, die in der bürgerlichen Konterrevolution endete" in der "Arbeiterstimme" Nr. 204, Sommer 2019).

Aus dem, was der Autor des genannten Artikels in der Arbeiterstimme 229 schreibt, ist zu schließen, dass er sich dieser Argumentation anschließt.

Der Vorspann der Redaktion bringt die Problematik bereits auf den Punkt, ohne eine definitive Aussage dazu zu machen. Es steht die Frage, ob das Kaiserreich ein bürgerlicher Staat gewesen ist. "Die Junker", so die Redaktion, "seien zwar überproportional einflussreich gewesen, aber nicht die herrschende Klasse in diesem Staat und zu dieser Zeit." Die Diskussion solle damit aber keineswegs abgeschlossen sein.

Warum eigentlich muss die Frage - "bürgerlich" oder "vorbürgerlich" - so apodiktisch entschieden werden? Karuscheit als Historiker möchte eine eindeutige Zäsur festlegen: Erst wenn das Bürgertum (d. h. der Kapitalismus) in Staat und Gesellschaft eindeutig bestimmt, ist es ein "bürgerlicher" Staat. Dem halte ich entgegen: Geschichte ist keine schematische Abfolge von Standbildern, sondern ein fließender Prozess. Sehen wir uns das bei Marx an: " In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. ... Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um."

Es ist also das Verhältnis von Basis und Überbau, dessen Prozess eine eindeutige Zäsur verhindert. Gesellschaftliche Modelle, die die marxistische Wissenschaft uns bereitstellt, müssen in der Praxis angewandt und verifiziert werden. Um das hier abzukürzen: Die ökonomische Basis des Kaiserreichs war weit überwiegend kapitalistisch. Im Überbau aber sah es nicht so glatt aus. Die Redaktion bezweifelt in ihrer Vorbemerkung, dass das Junkertum die herrschende Klasse gewesen sei. Ich sage dazu: Das Eine schließt das Andere nicht aus. Das Kaiserreich hatte zwei herrschende Klassen, die jeweils unterschiedliche Sozialstrukturen, Ausbeutungsweisen, Produktionsziele, Mentalitäten, Traditionen usw. hatten. Wer nun sagt, das seien nur Fraktionen einer herrschenden Klasse, hat meinetwegen auch Recht, wenn er/sie jedenfalls die Fakten gelten lässt.

Dies bedeutet etwa: Die (industrielle) Bourgeoisie war etwa so kapitalistisch, wie wir das kennen. Das Junkertum beruhte teilweise auf feudalständischen Prinzipien (weniger juristisch als vielmehr traditionell), produzierte teilweise noch mit (semi-)feudalen Methoden in der großagrarischen Landwirtschaft, aber auch für den kapitalistischen Weltmarkt und auch mit Investitionen in die kapitalistische Industrieproduktion. In Staat und Gesellschaft beruhte sein Gewicht auf politischen Privilegien (Dreiklassenwahlrecht und adliges Oberhaus in Preußen, ähnliches in anderen Bundesstaaten), dominierenden Positionen in Militär, Verwaltung, Bildung, während das Bürgertum seine Domäne in der Justiz hatte und im Übrigen seinen Lebensstil nach den Gebräuchen des Junkertums auszurichten versuchte. Dennoch stellen Historiker:innen - marxistische wie bürgerliche - weitgehend übereinstimmend fest, dass das Junkertum sich ökonomisch auf dem absteigenden Ast befand (objektiv) und daraus eine große Sorge vor sozialem Abstieg und letzten Endes Verlust der sozialen Privilegien als politisch herrschende Klasse und Schicht (subjektiv) empfand.

Weshalb band sich das Bürgertum dennoch politisch an dieses historisch überlebte Junkertum? Auch hier nur eine kurze Antwort: Es war ein Klassenkompromiss, der in der 1848er Revolution geschlossen wurde aus Sorge vor der Arbeiterklasse, deren politische Organisierung damals begann. Daran schließt sich an, welche Interessen Junkertum und Bourgeoisie hatten, und diese Frage führt auch dahin, welche Interessen den Ersten Weltkrieg auslösten. Hier ist in Übereinstimmung mit Karuscheit die Antwort des Autors des Arsti-Artikels, dass die Lenin'sche Imperialismustheorie uns nicht weiterhilft. Das klassische, außenpolitische Motiv der Industriebourgeoisie, nämlich die imperialistische Aufteilung, sei nicht der Kriegsgrund gewesen, sondern die innen- und sozialpolitische Angst des Junkertums vor dem Abstieg bzw. dem Verlust der sozialen Existenz. Einmal mehr schüttet der Arsti-Autor (im Verbund mit Karuscheit) das Kind mit dem Bade aus. Auch hier gilt wieder: Das Eine schließt das Andere nicht aus. Die Industriebourgeoisie und das spätfeudale Junkertum - beide herrschenden Klassen hatten ihr jeweiliges Interesse, das sie voneinander unterschied, aber sie vereinigte in der Furcht vor der sozialen Revolte der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen in Partei und Gewerkschaften.

Der Erste Weltkrieg entstand aus beidem: dem Bestreben nach Neuaufteilung der Welt (man nehme als Beispiele die Verständigung mit Großbritannien über die - dann nicht erfolgte - Aufteilung der portugiesischen Kolonien, die Bagdadbahn durch das Gebiet des Osmanischen Reiches, beides kurz vor Ausbruch des Krieges) einerseits, die Angst vor innenpolitischen Veränderungen andererseits. Man nehme die Interessenkonflikte bzgl. der Finanzreform von 1909 oder beim verhinderten Ausbau des Mittellandkanals bis zur Nordseeküste bei Emden. Man nehme die seltsam getrennte Militärstruktur: Das Landheer war "feudal" strukturiert, besonders in den oberen Schichten der Generalität war der Adel absolut dominant; die Marine dagegen, mit der ein Anspruch auf weltweite Präsenz angestrebt wurde, war "bürgerlich". Beide Teilstreitkräfte machten ihre Kriegsplanungen so, dass die eine nichts von der anderen wahrnahm. Trotzdem hatten beide Klassen ein letztlich gleichgerichtetes Interessenbündnis. Typischerweise war der Anlass (nicht der wirklich zentrale Grund) des Weltkriegs ein "feudaler": der Mord an dem österreichischen Thronfolger.

Deutschland ging nicht, wie der Arsti-Autor im Anschluss an Karuscheit meint, "ohne Kriegsziele in den Kampf". Ziele im oben dargestellten Sinne gab es schon. Ein definitives Kriegszielprogramm wurde freilich erst (und nur auf West- und Mitteleuropa bezogen) im September 1914 formuliert, wie Fritz Fischer in den 1960er Jahren mit Hilfe der Sowjetunion und der DDR aufdecken konnte: das berühmte Septemberprogramm.

So weit, so gut. Dennoch war die Basis des Kaiserreiches "bürgerlich", während der Überbau weitgehend in "feudaler" Tradition verhaftet blieb. Die Novemberrevolution war tatsächlich (soweit ist Karuscheit zuzustimmen, aber anders, als er es versteht) keine soziale Revolution. Die bürgerlichen Revolutionäre übernahmen lediglich gewissermaßen das politische Management einer Gesellschaft, die ökonomisch bereits weitgehend nach ihren Maßstäben funktionierte.

Zu dem "Fehler", dass die spartakistische Linke auf die "falsche", nämlich sozialistische Revolution gedrängt habe, weiß Karuscheit in seiner rückblickenden "Weisheit" ihr das anzukreiden. Als Historiker müsste er wissen, dass es keinen Sinn macht, die Geschichte auf diese Weise revidieren zu wollen. Laut Marx machen die Menschen ihre Geschichte zwar selbst, aber nicht aus freien Stücken, sondern unter vorgefundenen Bedingungen. Rosa Luxemburg kehrte diese wahre Erkenntnis in ebenso richtiger Weise um: Wir machen sie unter vorgefundenen Bedingungen, aber wir machen sie selbst. Die damals Handelnden, von Liebknecht und Luxemburg bis zu den einfachen, uns namentlich unbekannten Kämpfer:innen, taten, was sie in ihrer durch die Politik der Herrschenden verursachten Lage für richtig hielten: Sie versuchten die Revolution. Was dabei herauskam, war nicht die Erfüllung ihrer Hoffnungen und Absichten einer neuen Gesellschaftsordnung, aber dieses: Sie sorgten für das zentrale Ergebnis der Novemberrevolution, das sie in der Hand hatten, nämlich die Verselbständigung der kommunistischen Bewegung.

Rosa Luxemburg sprach von der "Gluthitze der Revolution". Wie hätte sich in diesen hin- und herwogenden Kämpfen eine langfristig möglicherweise abstrakt logische Strategie (im Sinne des geruhsam am Schreibtisch philosophierenden Intellektuellen) durchsetzen können? Wie hätte die revolutionäre Linke mit einer begrenzten Losung der "demokratischen Volksrevolution" eine Mehrheit der Arbeiterklasse hinter sich versammeln können, ohne damit schlicht der USPD-Führung das Feld zu überlassen, die nichts tat, um die Forderung nach dem Rätesystem zu unterstützen, und die ihrerseits nach dem Reichsrätekongress vor der SPD kapitulierte? Selbst innerhalb der radikalen Linken war das schwierig: Dass Rosa Luxemburg mit ihrem Antrag, sich an den Wahlen zur Nationalversammlung zu beteiligen (nachdem sie nun mal beschlossen waren), auf dem Gründungsparteitag der KPD durchfiel, ist ein weiteres Schlaglicht auf die komplizierten Bedingungen dieser Revolutionszeit.

Was kann die Bücherweisheit eines heutigen Historikers daran ändern? Wie kommt Karuscheit dazu, dies für die Ursache der Niederlagen der Arbeiterbewegung zu halten, die wir mit dem "Festhalten an unserer Position bis in die Gegenwart verlängern"? Für uns lag eine entscheidende Voraussetzung für den Sieg der Konterrevolution im Bündnis der Sozialdemokratie mit dem preußischen Militär. Also in der Spaltung der Arbeiterbewegung, die sich aber schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts abgezeichnet hatte, markiert in Debatten wie die um den Reformismus/Revisionismus, den Massenstreik und die heraufziehende Kriegsgefahr. Ist der Versuch der Revolution die Ursache für den späteren Aufstieg des Faschismus (statt deren Niederschlagung durch die Konterrevolution)? Hat es noch Sinn, irgendetwas zu tun, weil wir nicht wissen, was daraus wird?

Es kann nicht unsere Perspektive sein, die Hände in den Schoß zu legen und den Verlauf der Geschichte einem "objektiv" verstandenen "Weltgeist" zu überlassen. Marx hat recht, dass die Menschen ihre Geschichte unter vorgefundenen Bedingungen machen, Rosa Luxemburg mit der Betonung der Subjektivität aber auch.

F/HU, 17.10.2025