Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiter selbst sein!

Arbeiterstimme

Zeitschrift für marxistische Theorie und Praxis

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  4. 2025
  5. Nr. 230

Literaturtipp

Der spanische Bürgerkrieg

Die Niederlage der spanischen Republik 1939 war eine Niederlage für die spanische und internationale Arbeiterbewegung und ist bis heute Thema ungezählter Bücher.

Die Aufsätze in dem vorliegenden Buch sind erstmalig in der Arbeiterstimme in den Ausgaben September 1986 bis Oktober 1987 veröffentlicht und später in einer Broschüre zusammengefasst worden.

Weiterlesen: Der spanische Bürgerkrieg

Deutschland nach der Zeitenwende (3)

Der Herbst der Reformen: Weniger Bürgergeld und mehr Soldaten

 

Nein, die Stimmung hat sich nicht gebessert. Selbst wenn beide Regierungsblöcke nichts sein wollten als konstruktiv und zusammenarbeitswillig, es kommt halt doch immer wieder was dazwischen. Mal ist es eine Richterin, die es auf dem SPD-Ticket zur Verfassungsrichterin schaffen will und dann unsanft von der CDU/CSU aus dem Rennen genommen wird, mal ist es der blöde Koalitionsvertrag, in dem kein Wort über mögliche Reichensteuern steht. Und die CDU, besonders aber die CSU lassen nicht mit sich reden, wer hätte das gedacht. Die SPD offenbar nicht.

Die politische Stimmung drückt sich zwischen den Wahlen meist in Umfragen aus. Sie stellen immer eine Momentaufnahme dar und geben eher Auskunft über die Befindlichkeit der Befragten als über das Regierungshandeln. Sie sind kein exakter Gratmesser, trotzdem wird aus ihren Ergebnissen manchmal, vor allem bei längerfristigen Trends, Politik. Das „Zeugnis“, das Kanzler Merz in der INSA-Umfrage Ende September 2025 ausgestellt wurde, ist weit weg von der Aufbruchsstimmung, die regierungsseitig so gerne beschworen wird. Seit dem relativen Tiefpunkt Anfang Juni mit 45% der Befragten steigt die Unzufriedenheit kontinuierlich auf inzwischen 65% an, die Entsprechung bei der Sonntagsfrage sieht die Union bei 25%, die SPD schneidet virtuell ebenfalls schlechter ab als bei den Wahlen im Februar. Was den politischen Druck erhöht, ist die Annahme, dass die AfD ihr Wählerpotenzial immer noch nicht ausgeschöpft hat. Die 26% der Umfrage liegen erkennbar deutlich über den knapp 21% bei der Bundestagswahl. Die Kommunalwahlen in NRW sprechen zumindest nicht gegen diesen Befund, auch wenn die AfD kein Oberbürgermeisteramt im Westen erreichen konnte. Die Partei kann warten, ihre WählerInnen bleiben ihr gewogen.

  • Inland

Weiterlesen: Deutschland nach der Zeitenwende (3)

In eigener Sache

Rekordausgaben des Staates für das Militär und Rekordschulden für fast alle gehören gegenwärtig untrennbar zusammen. Wer die Zeche zahlen soll, bleibt kein Geheimnis. Diese Verknüpfung ist Thema unseres Beitrags zum vielzitierten Herbst der Reformen.

So gehen jetzt Wochen zu Ende, die die Bürger, ob als Rentenbezieher oder als Steuer- und Beitragszahler, tief verunsicherten. Mit welchem Rentenniveau ist künftig noch zu rechnen? Wird der Renteneintritt demnächst nach hinten verschoben? Was sind die löchrigen Zusagen noch wert, wenn nächstes Jahr das Rentensystem auf den „Prüfstand“ kommt?

Anstatt die Bedeutung dieser Fragen für die Durchschnittsbezieher ernst zu nehmen und zur Grundlage zu machen, spielt die Regierung ihre Spielchen. Die „Junge Gruppe“ in der Union durfte erleben, was betreutes Abstimmen bedeutet, weil Merz seine Kanzlermehrheit wollte.

Erfreulich und unterstützenswert ist, dass die wirklich Jungen gegen die Zumutungen eines neuen Wehrdienstgesetzes protestieren, das nur mehr die Zukunftsaussicht Wehrdienst und Kriegsdiensteinsatz eröffnet.

Wie zu erwarten war, kommt die deutsche Regierung nicht zur Ruhe. Jede Entscheidung reißt neue Löcher auf. Die Verteidigung der gemeinsamen Werte versprechen sich die europäischen Regierungen mehrmals wöchentlich in die Hand. Und trotzdem, wenn der US-Präsident über Nacht seine Sicherheitsdoktrin modifiziert und den NATO-Partnern damit zum wiederholten Male zeigt, was er von ihnen hält, geht alles wieder von vorne los. Exemplarisch behandeln wir in diesem Zusammenhang das 5%-Rüstungsausgabenziel des Präsidenten, das er den Mitgliedsländern verordnete.

Selenskyi ist andauernd unterwegs und scheint doch immer zu spät zu kommen, wenn in Washington neue Pläne zum Kriegsende auftauchen. Dann halten die Europäer wieder das Händchen, versprechen wieder Waffen und Geld und Geld für Waffen und rücken wieder in Mannschaftsstärke beim US-Präsidenten an, um eben diese Pläne zu verhindern und nach allfälligen „Nachbesserungen“ scheitern zu sehen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: wir tragen solche „Friedenspläne“ weder inhaltlich mit noch lehnen wir sie ab. Das würde nur vorspiegeln, dass wir in irgendeiner Weise auf den Inhalt Einfluss hätten. Unser Standpunkt kann nur sein, dass dieser Krieg – und nicht nur dieser – aufhören muss, um das umfassende Töten zu beenden und das Ausbluten der Arbeiterklasse und ihrer Lebensbedingungen zu stoppen. Auf beiden Seiten.

Anfang Oktober fand unsere Jahreskonferenz statt, ein kurzer Bericht gibt Einblick in die inhaltliche Gestaltung der Tagung und das politische Selbstverständnis der Gruppe. Neben den oben genannten Themenbereichen bildet seit Jahren der Aufstieg der AfD einen Schwerpunkt unserer Arbeit. Wesentlich dabei ist die sich durchziehende Hypothese, dass die immer noch wachsenden Zustimmungsraten für diese Partei untrennbar mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise in Deutschland zusammenhängen. Dies unterscheidet uns von denjenigen, die aus dem millionenfachen Misstrauensantrag gegen die herrschende bürgerlich-demokratische, neoliberal grundierte Ordnung ein interessantes soziologisches Phänomen ableiten. Oder die ein Erziehungs- und Wertschätzungsproblem darin sehen. Ein Beispiel für unseren Ansatz findet sich im Anschluss an den Bericht von der Jahreskonferenz.

Ein weiterer Schwerpunkt, den wir durchgehend auf dem Schirm haben, ist der Bereich Friedenspolitik. Unserer Ansicht und Forderung nach, sind dabei allem voran die Gewerkschaften in die Pflicht zu nehmen. Eine Kernaufgabe für die organisierte Arbeiterbewegung besteht in ihrem permanenten Einsatz für politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Friedensbedingungen, zum Schutz der eigenen Klasse und zur Positionierung gegen ein System, das vom Krieg lebt und durch den Krieg profitiert. Zwei Beiträge befassen sich intensiver mit der Thematik.

Seit einigen Jahren hat sich ein weiterer Schwerpunkt herausgebildet: Südamerika. Unser Zugang unterscheidet sich in mancher Weise von denjenigen anderer linker Publikationen, da er sich weitgehend auf südamerikanische Quellen selbst beziehen kann. Dieses Mal nimmt unser Autor die Lebensrealität in Peru unter die Lupe und gibt damit Einblick in die Situation vor Ort, die ansonsten, wenn überhaupt, nur sehr oberflächenhaft betrachtet wird.

Der Ausgang der Präsidentschaftswahl in Chile ist zum Redaktionsschluss nicht entschieden, in der nächsten Nummer wird näher darauf einzugehen sein.

Ein Leserbrief, der sich auf die Rezension der Karuscheit-Trilogie, hier die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, bezieht, schießt diese Ausgabe der Arbeiterstimme ab.

Aus Termingründen wird die Befassung mit Auernheimers Darlegung zum Antisemitismus auf die Frühjahrsnummer verschoben. Die dünne Personaldecke fordert ihren Tribut.

Wir wollten diesmal unsere Leserschaft darauf aufmerksam machen, dass unsere kleine Gruppe sehr wohl in der Lage ist, eigene Positionen zu wichtigen Themenbereichen zu erarbeiten und weiterzuentwickeln. Und wir sind davon überzeugt, dass diese Standpunkte in der weiten linken Landschaft ihre Berechtigung haben. Deshalb wollen wir sie weiterverbreiten.

Leserinnen und Leser, die ihr unsere Arbeit schätzt, helft uns politisch, aber halt auch finanziell, dass wir unser Projekt weiterverfolgen können.

Unterstützt uns, wir sind darauf angewiesen.

 

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Unsere Jahreskonferenz 2025

Die Jahreskonferenz der Gruppe fand heuer am 4. und 5. Oktober wie immer in Nürnberg statt. Die Genossinnen und Genossen kamen in der Hauptsache aus dem süddeutschen Raum, einer aus Sachsen.

Auch Genossen der uns verbundenen Gruppen der Arbeiterpolitik und der AGI Dorfen nahmen wieder teil. Die Genossen der Arpo hatten, wie so oft, einen weiten Weg auf sich genommen. Wir hatten uns auf die folgende Tagesordnung geeinigt:

  • Kurze Aussprache zur Lage der Gruppe und zur finanziellen Situation

  • Trump, die NATO und der 5%-Standard

  • Herbst der Reformen

  • Deindustrialisierung und das Erstarken reaktionärer Kräfte

  • Gewerkschaften und die Friedensfrage / Rüstung

Am Sonntag wollten wir Raum lassen, um offene Fragen zur aktuellen Lage in Deutschland, Europa und der Welt zu diskutieren.

 

Diese Jahreskonferenz war die erste nach dem Tod unseres Altgenossen Hans Steiger, der maßgeblich an der Gründung der Gruppe beteiligt war und sie über viele Jahres seines Lebens mit seinem Denken und Handeln geprägt hatte. Wir erinnerten mit einem kurzen Abschnitt aus der Winternummer 2024:

Am 15. November starb unser Genosse Hans Steiger in Nürnberg. Er war Mitgründer der Gruppe Arbeiterstimme und damit der letzte seiner Generation in unseren Reihen. Sein über viele Jahre gewonnenes Wissen, seine unschätzbare Erfahrung und sein nimmermüder Einsatz für eine bessere, eine sozialistische Zukunft prägten unsere Gruppe nicht nur über die Jahrzehnte, sondern halfen uns, Rückschläge und Enttäuschungen, die unsere Arbeit begleiteten, zu analysieren und in produktiver Weise umzusetzen. Seine Art, den Menschen zugewandt zu sein und zu bleiben, war für uns und unsere politische Reifung essenziell. Diskussionen und Auseinandersetzungen, die in der Sache auch hart sein konnten, führten nicht zur persönlichen Verletzung. Auch wenn sich die politischen Wege trennten, konnte man sich immer noch ins Gesicht sehen. Der tiefe, gelebte Humanismus, der so stark mit seinen Kindheits- und Jugenderfahrungen im und nach dem Krieg zu tun hatte, war uns Anschauung und Vorbild zur gleichen Zeit. Wir werden ihn nicht vergessen.

Danach gedachten wir Hans mit einer Gedenkminute.

Hans hatten die politischen Entwicklungen der letzten Zeit schwer zugesetzt, Entwicklungen, die diametral seinen Überzeugungen und Vorstellungen entgegen- standen.

Unsere Arbeit ist notwendiger denn je, wir haben die Verantwortung, unser Wissen und die Methode der KPO und der Arbeiterbewegung weiterzugeben und sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Unsere Einflussmöglichkeiten als kleine kommunistische Gruppe waren eh schon recht gering, aber die aktuellen politischen und medialen Entwicklungen, in die wir eingebettet sind, belasten unsere Arbeit zusätzlich. Trotzdem, unsere Antwort darauf heißt: „Wir machen weiter“!

So haben wir auch im vergangenen Jahr unsere Hauptaufgabe erfüllt und vier Ausgaben der ARSTI herausgebracht. Neben der Jahreskonferenz in Nürnberg konnten wir auch wieder das Frühjahrsseminar in München abhalten. Unser Internetauftritt mit unserer Homepage kann sich sehen lassen und wird auch genutzt.

Die finanzielle Lage der Gruppe ist als dramatisch zu bezeichnen. Obwohl einige unserer Abonnierenden mehr bezahlen, als sie müssen, können wir unsere Aufgaben nur durch große Zuschüsse einzelner Genossinnen und Genossen erfüllen. Wir sind dringend auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen!

Den ersten inhaltlichen Schwerpunkt setzte ein Genosse der AGI Dorfen. Er hatte sich mit seinem Referat „Trump, die NATO und der 5% Standard“ eine umfassende Darstellung und Analyse der aktuellen NATO-Politik vorgenommen und das zur vollen Zufriedenheit der Tagungsteilnehmenden gelöst.

Wie immer drucken wir die Referate in leicht überarbeiteter Form ab.

Auch auf dieser Jahreskonferenz setzten wir mit unserer Sammlung für Kuba ein Zeichen für die internationale Solidarität.

Kuba leidet immer mehr an dem nun seit über 60 Jahren andauernden Boykott durch die USA. Die Sanktionen wurden nicht nur über Jahrzehnte aufrechterhalten, sondern in jüngster Zeit erneut verschärft. So hat die US-Regierung unter Donald Trump unter anderem Artikel 3 des Helms-Burton-Gesetzes reaktiviert und Kuba erneut auf die Liste der »staatlichen Terrorismussponsoren« gesetzt.

Seit 1992 fordert die UN-Vollversammlung jedes Jahr die Aufhebung der völkerrechtswidrigen US-Blockade gegen Kuba. Am 29. Oktober 2025 hat sich die Völkergemeinschaft erneut klar gegen die seit über 60 Jahren bestehende Blockade positioniert: 165 Staaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland, stimmten für die kubanische Resolution zur Beendigung der Blockade. Dessen ungeachtet behalten die USA ihre Politik der Zermürbung und letztlich der Zerstörung der Revolution bei.

Den Erlös der Sammlung von 570 € werden wir über die Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba den richtigen Stellen zukommen lassen.

Auch in Anbetracht der Verwüstungen durch die Hurricanes, von denen Kuba immer wieder heimgesucht wird, ist das natürlich nur ein kleines Tröpfchen auf ein heißes Gebirge - aber trotzdem willkommen.

Den Nachmittag widmeten wir der Innenpolitik. Der Einstieg dazu war das Referat eines Genossen über den „Herbst der Reformen“.

Mit den Gewerkschaften, der Wirtschaftslage und den politischen Folgen setzte sich unser Genosse aus Sachsen in seinem Referat „Deindustrialisierung und das Erstarken rechter Kräfte“ auseinander.

In der Frage von Krieg und Frieden sind die Gewerkschaften, die sich in ihrer Tradition als Teil der Friedensbewegung verstehen, gespalten. Aus ihren Führungsetagen kommt keine deutliche Stellungnahme gegen die Militarisierung der Gesellschaft.

Widerstand gegen Kriegstüchtigkeit und Militarisierung der Gesellschaft durch die Bundesregierung kommt in den Gewerkschaften nur von unten. Hervorzuheben ist hier Ulrike Eifler, die schier unermüdlich gegen die Militarisierung und die Hinwendung zur Kriegstüchtigkeit ankämpft. Sie gehörte federführend zum Veranstalterkreis, der die drei Friedenpolitischen Konferenzen der Gewerkschaften organisierte. Im Herbst brachte sie im VSA-Verlag zu dem Thema ein Buch mit dem Titel „Gewerkschaften in der Zeitenwende“ heraus. Mit dieser Thematik befassen sich zwei Beiträge in diesem Heft.

 

Den Sonntag hatten wir diesmal als offene Diskussionsrunde geplant, um Fragen vom Samstag vertiefen zu können. Der Ansatz, ohne strukturierenden Input auskommen zu wollen, blieb unter unseren Möglichkeiten und wird nicht wiederholt werden.

 

Die Jahreskonferenz hat den Zusammenhalt der Gruppe gestärkt, der für ein Weiterarbeiten in dieser Zeit eine wichtige Voraussetzung ist; einer Zeit, die gekennzeichnet ist von Klimakrise sowie Militarisierung und Kriegstüchtigkeit mit rasant fortschreitenden Eingriffen in den „Sozialstaat“ auf Kosten der Lohnabhängigen. In der sich abzeichnenden Krise kommen von Seiten der Wirtschaft und des Kapitals sowie ihrer Sachwalter in Berlin immer lautere Forderungen, Errungenschaften, die die Arbeiterbewegung in harten, zähen Auseinandersetzungen erkämpft hat, zu schleifen, wie zum Beispiel den 8-Stunden-Tag.

Das kapitalistische Wirtschaftssystem hat nichts anderes anzubieten als den immergleichen Dreiklang: Aufschwung – Krise – Krieg. Die alte Parole „Sozialismus oder Barbarei“ ist leider so aktuell wie immer.

Trump, die NATO und der 5-Prozent-Standard

In diesem Beitrag geht es nicht um den Anspruch, die Außenpolitik der neuen US-Administration in ihrer Gesamtheit darzustellen. Das wäre auch verwegen. Schließlich ist seit der zweiten Amtszeit von Donald Trump viel Bewegung entstanden, wobei noch kaum erkennbar ist, wohin diese führen wird. Was sich jedoch schon deutlich abzeichnet, sind Veränderungen der US-Politik gegenüber den anderen NATO-Staaten. In der Winterausgabe der ARSTI von 2024 ist ein Artikel überschrieben mit „Vor der zweiten Amtszeit von Donald Trump“. Darin wird auch kurz auf zu erwartende Schwerpunktsetzungen der neuen Administration in der Außenpolitik hingewiesen: „Außenpolitisch wird die Konfrontation mit China weitergehen und eher noch an Schärfe zunehmen. Ebenfalls wird die Unterstützung Israels fortgesetzt werden, noch bedingungsloser als jetzt. Die europäischen NATO-Verbündeten werden größerem Druck ausgesetzt sein, sich bei Militär und Rüstung finanziell stärker zu engagieren.“ Leider scheinen sich alle Befürchtungen zu bestätigen. Trumps Vorgehen im Nahen Osten im Zusammenhang mit dem Agieren Israels ist ein eigenes Thema, das einer gesonderten Einschätzung bedarf. Hier nur soviel: Die israelische Luftwaffe darf Nachbarländer mit und ohne Unterstützung durch die USA nach Belieben angreifen: Gaza, Libanon, Syrien, Irak, Jemen, Iran, Katar. Wer glaubt, dies geschieht vorwiegend ohne Zustimmung der US-Administration, liegt falsch. Der Schwanz wedelt nicht mit dem Hund. Skrupellos kann die israelische Regierung die Vertreibung der Palästinenser propagieren, und die genozidalen Verbrechen in Gaza können ernsthaft von niemandem mehr bestritten werden. Auch wenn in Gaza das aktuelle Waffenstillstandsabkommen etwas Entspannung gebracht hat, ist die Situation der palästinensischen Bevölkerung dort weiterhin desaströs und perspektivlos. Der deutschen Regierung fällt nach wie vor nichts Besseres ein, als auf die Staatsräson zu verweisen und die kurzzeitig gestoppten Waffenlieferungen an Israel wieder aufzunehmen. Mit dieser Haltung hat sich die deutsche Regierung international isoliert. Was den Russland–Ukraine–Krieg betrifft, ist Trumps Verhalten schwankend. Jederzeit ist eine Kehrtwende möglich. Ob der sog. 28 bzw. inzwischen 19-Punkte-Plan der USA ein Schritt zur Beilegung des Konflikts sein kann, werden die nächsten Wochen zeigen. Die europäischen NATO-Staaten wollen sich dafür nicht begeistern. Schon zu Beginn seiner zweiten Amtszeit ließ Donald Trump keinen Zweifel darüber aufkommen, in welche Richtung sich seine Außenpolitik unter MAGA-Vorzeichen entwickeln wird. Drohungen in alle Richtungen gehören dabei zum Geschäftsmodell. Manche davon haben eine kurze Halbwertszeit. Auch das muss man wissen. Unbestritten dürfte sein: Die Konfrontation mit China hat oberste Priorität. So drohte er bereits in den ersten Amtstagen Panama die gewaltsame Übernahme des Kanals an, falls der Einfluss chinesischer Firmen nicht eingedämmt werde. Die Monroe-Doktrin lässt grüßen! Warum gerade das kleine Panama? Panama war das erste lateinamerikanische Land, das der Belt and Road Initiative (BRI) bzw. Neuen Seidenstraße im Jahr 2017 beigetreten war. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Panama nach einem Besuch des US-Außenministers Marco Rubio im Februar dieses Jahres die Teilnahme kündigte, d.h. kündigen musste. Besonders aggressiv verhält sich die US-Administration gegenüber den beiden südamerikanischen Staaten Venezuela und Kolumbien. Vor der Küste werden regelmäßig Boote samt Insassen versenkt. Die Begründung, es handle sich um Drogenboote, greift nicht, da es sich um extralegale Hinrichtungen handelt. Venezuela bereitet sich auf eine Invasion vor und kann sich dabei auf Aussagen des US-Präsidenten beziehen, die dieser bereits mit einem entsprechenden Truppenaufmarsch unterfüttert hat. Kolumbiens Präsident Gustavo Petro haben die USA das US-Visum entzogen. Immerhin ist Kolumbien als einziges lateinamerikanisches Land mit der NATO assoziiert. Auch Trumps Äußerungen zu Grönland und Kanada sorgten für internationale Aufmerksamkeit. Zu Grönland, das immer noch völkerrechtlich Teil Dänemarks ist, bemerkte er vor dem US-Kongress unverblümt: „Ich denke, wir werden es so oder so bekommen, wir werden es bekommen.“ Im Gegensatz zu Grönland schloss er bei Kanada militärische Gewalt aus. Dass beide Staaten Gründungsmitglieder der NATO sind, stört Trump offensichtlich nicht. Vielleicht weiß er es auch nicht. Man darf US-amerikanische Präsidenten intellektuell nicht überschätzen. Wer Trumps einstündige Rede vor der UNO-Vollversammlung aufmerksam verfolgt hat, wird mir Recht geben. Jeffrey Sachs bezeichnete sie „von Anfang bis Ende ein wirres, lügenhaftes Geschwafel zu allen nur erdenklichen Themen“. Womit wir bei der NATO, der Nordatlantischen Vertragsorganisation, sind.

Ist die NATO ein Verteidigungsbündnis?

Gegründet wurde die NATO im Jahr 1949 mit 12 Staaten. Heute gibt es 32 Mitgliedsstaaten. Es hat also fast eine Verdreifachung der Mitgliedsstaaten stattgefunden. Die BRD ist am 6. Mai 1955 dem Bündnis beigetreten und komplettierte damit ihre Westbindung. Wer könnte diese Frage, ob die NATO ein Verteidigungsbündnis ist, besser beantworten als ihr Generalsekretär Mark Rutte. Er sieht das so: „Die NATO ist das mächtigste Militärbündnis in der Geschichte der Menschheit. Es ist sogar mächtiger als das Römische Reich. Und mächtiger als Napoleons Reich.“ Wer wollte ihm da widersprechen? Die Fakten geben ihm Recht. Das Zitat geht aber noch weiter. Und darin steckt ein Widerspruch, der meistens nicht zur Kenntnis genommen wird: „Wir sind das mächtigste Verteidigungsbündnis der Welt.“ Was nun, Herr Rutte? Militärbündnis oder Verteidigungsbündnis? Weder das Römische Reich noch Napoleons Reich waren Verteidigungsbündnisse. Oder vielleicht doch? Immerhin ging es auch zu damaligen Zeiten um die Verteidigung der Interessen der herrschenden Klassen. Noch eine gewichtige Stimme zum Thema. Christian Badia, bis vor kurzem ranghöchster NATO - General der Bundeswehr stellte klar: „Die NATO ist kein defensives Verteidigungsbündnis und hat nur defensive Waffen. Wir müssen offensiv gehen.“ Natürlich alles für die Sicherung des Friedens. Dafür werden die NATO und ihr Generalsekretär Mark Rutte den hochdotierten Westfälischen Friedenspreis 2026 erhalten. Halten wir also fest: Die NATO ist ein Militärbündnis, und der Feind der europäischen NATO-Staaten ist Russland. Eine Meldung der Berliner Zeitung vom 25. August ließ aufhorchen. Unter der Überschrift „Trump will Pentagon in Kriegsministerium umbenennen“, wurde von Plänen berichtet, das Verteidigungsministerium in „Department of War“ umzubenennen. So hieß es auch schon bis 1949. Damals wollte Präsident Harry S. Truman die militärische Ausrichtung weniger aggressiv erscheinen lassen. Seitdem heißt es „Department of Defense.“ Am 5. September unterzeichnete Donald Trump ein Dekret, das dem Verteidigungsministerium erlaubt, den Zweittitel Department of War zu verwenden. Für eine formelle Umbenennung ist noch ein Beschluss des Kongresses erforderlich. Pete Hegseth, dem aktuellen Fachminister, scheint es auch ein persönliches Anliegen zu sein, sich als Kriegsminister bezeichnen zu dürfen. Apropos Pete Hegseth. Er ist ein hochdekorierter Militär mit Einsätzen in Guantanamo, im Irakkrieg und in Afghanistan. Er ist ein anderes Kaliber als sein Chef Donald Trump, der sich zur Zeit des Vietnamkrieges mit fünf fadenscheinigen Wehrdienstbefreiungen der Einberufung entzogen hatte. Er war auch auf keiner Militärakademie, wie manchmal behauptet wird. Pete Hegseth stellte am 31.Mai klar; „Präsident Trump hat mir einen klaren Auftrag gegeben: Frieden durch Stärke zu erreichen. Um diese Mission zu erfüllen, waren unsere übergeordneten Ziele klar: das Ethos der Krieger wiederherzustellen, unser Militär wieder aufzubauen und die Abschreckung wiederherzustellen.“ Was meint er damit? „Wir rüsten amerikanische Jäger so aus, dass wir die stärkste und tödlichste Kampftruppe der Welt haben.“ Wobei nach Hiroshima und Nagasaki an dieser Absicht schon bisher nie ein Zweifel bestand. Nicht zu vergessen: Hegseth ist Chef von 3,4 Millionen Soldaten und verfügt über ein Jahresbudget von ca. 850 Milliarden Dollar. Und spätestens seit dem Krieg gegen den Terror, wie sie es nennen, halten sich die US-Streitkräfte mit ihrem Drohnenkrieg noch weniger an das Völkerrecht gebunden als bisher. Zwar hatte sich die NATO im Artikel 1 des NATO-Atlantikvertrages verpflichtet, „nach Maßgabe der Charta der Vereinten Nationen alle internationalen Streitigkeiten, an denen sie beteiligt sein könnte(n), mit friedlichen Mitteln beizulegen“, aber Papier ist geduldig, und die Geschichte der NATO hat damit nichts zu tun. Um es an einem Beispiel festzumachen. Portugal war Gründungsmitglied und bis 1975 eine faschistische Diktatur. Als Kolonialmacht führte das Land einen blutigen Krieg in Angola, Moçambique und Guinea-Bissau. Fast die Hälfte der Gründungsmitglieder waren Kolonialmächte ( fünf von sechs). Ein Problem für die NATO? Keineswegs.

Kommen wir zurück zur aktuellen Geopolitik. Die USA ist ein Imperium im Niedergang. Man hat sich offensichtlich übernommen. Darüber wurde schon viel geschrieben. Eine gefährliche Baustelle ist die Staatsverschuldung. Und auch die neue US-Administration hat sich diesem Problem zu stellen. Betrachtet man die Entwicklung der Staatsverschuldung, ist eine klare Tendenz festzustellen: Sie wurde seit den 1980er Jahren kontinuierlich ausgeweitet. Vor allem seit 2008 stieg das Defizit sprunghaft an und erreichte im Jahr 2009 erstmals einen Wert von fast zwei Billionen USD. Hier spielten neben der Finanzkrise auch die Irakkriege und der 20 Jahre dauernde Afghanistankrieg eine wichtige Rolle. In der Coronapandemie kam es zu einem historischen Spitzenwert von über drei Billionen USD. Die Gesamtschulden beliefen sich im Jahr 2024 auf 35,25 Billionen USD. Das Verhältnis von Staatsschulden zum Bruttoinlandsprodukt betrug 120,8 Prozent. Angesichts dieser desaströsen Entwicklung müsste jeder US-Präsident, egal ob Republikaner oder Demokrat, Maßnahmen ergreifen. Ob nun die Fixierung auf die Zölle und die stärkere Belastung der NATO-Partner zum gewünschten Ergebnis führen, wird die Zukunft zeigen. Der Sprung von zwei auf fünf Prozent ist reine Willkür mit Ansage

Kaum war Donald Trump zum zweiten Mal ins Weiße Haus eingezogen, setzte er eine Zahl in die Welt, die aufhorchen ließ: fünf Prozent für‘s Militär. Es hätten auch vier oder sechs Prozent sein können. Nein, Trump hatte sich für die Zahl fünf entschieden. Bei welcher Gelegenheit setzte Trump diese Zahl in die Welt? Es war der 23. Januar 2025, der dritte Tag seiner neuen Amtszeit. Ein Journalist wies ihn darauf hin, dass die Vereinigten Staaten selbst keine fünf Prozent des BIP für Verteidigung ausgeben. Trump, um keine Antwort verlegen, erwiderte: „Ich bin nicht einmal davon überzeugt, dass wir irgendetwas ausgeben sollten, aber wir sollten ihnen helfen.“ Dann kam von ihm noch eine klare Ansage: „Sie müssen ihren Standard von zwei auf fünf Prozent anheben, ja.“ Generalsekretär Mark Rutte, vormals langjähriger niederländischer Ministerpräsident, konnte sich für das Diktum des US-Präsidenten durchaus erwärmen. Noch mehr Geld für die Rüstungshaushalte? Warum nicht. Noch vor dem NATO-Gipfel tat er der Öffentlichkeit kund: „Ich erwarte, dass sich die Staats- und Regierungschefs der Alliierten (!) auf dem Gipfel in Den Haag darauf einigen, fünf Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben. Es wird eine NATO-weite Verpflichtung und ein entscheidender Moment für das Bündnis sein.“ Eine Verpflichtung? Eine rechtlich zwingende gibt es nicht. Der Nordatlantikvertrag von 1949 enthält keine bindenden Vorgaben. Von daher entscheidet jeder Mitgliedsstaat autonom. Man geht allerdings vom Konsensprinzip aus, zumindest auf dem Papier, und hofft auf eine Umsetzung durch die Mitgliedsstaaten. Vorreiter will die deutsche Bundesregierung sein, die den Beschluss bereits bis 2029 umzusetzen gedenkt. Spanien z.B. wird den 5-Prozent-Standard nicht umsetzen. Ministerpräsident Pedro Sanchez lehnte in einem Brief an Rutte die Unterschrift als „unangemessen“ und „kontraproduktiv“ ab. Trump reagierte auf die Unbotmäßigkeit in gewohnter Art mit Beschimpfungen und Drohungen in Richtung höherer Zölle. Das war‘s dann aber auch. Was die Zolldrohungen betrifft, sind die einzelnen EU-Staaten nicht die Verhandlungspartner der USA. Das wird und wurde bereits auf EU-Ebene ausgehandelt. Das Ergebnis ist bekannt. Donald Trump ist mit Drohungen großzügig. Im Februar 2024 drohte er bei einer Wahlkampfveranstaltung seiner Partei damit, NATO-Staaten, die das zwei-Prozent-Ziel nicht einhielten, nicht mehr vor Russland zu schützen. Er hat schon während seiner ersten Amtszeit gelegentlich Äußerungen getätigt, er könne sich aus Europa zurückziehen. Das hat zu öffentlichen Spekulationen geführt und diente zur Beschleunigung der Aufrüstungseuphorie in den europäischen NATO-Staaten.

Was wurde auf dem NATO-Gipfel in Den Haag am 24./25. Juni beschlossen?

Das 5-Prozent-Ziel wurde in aufgesplitterter Form beschlossen. Man sprach jetzt von Kernverteidigungsaufgaben, auf die 3,5 Prozent entfallen sollten und von verteidigungsrelevanten Investitionen, für die 1,5 Prozent vorzusehen seien. Außerdem verpflichteten sich die europäischen Staaten und Kanada, künftig über 60 Prozent der konventionellen NATO-Fähigkeiten zu stellen, wobei Deutschland das zweitgrößte Paket hinter den USA übernimmt. Unter NATO-Fähigkeiten versteht man alles, was für den militärischen Einsatz notwendig ist: Kampf- und Cyberfähigkeiten, Logistik und Infrastruktur, Sanitätsdienste, Kommunikation und Führung, Spezialkräfte und Resilienz. Und wenn Deutschland schon das zweitgrößte Paket übernimmt, ist es nur logisch, dass die Bundeswehr eine besondere Stellung innerhalb der NATO bekommt. Sie ist ja auch zentrales Element der NATO-Ostflankenstrategie. Wie sagte doch Friedrich Merz am 14. Mai im Bundestag: „Die Bundeswehr muss die stärkste Armee in Europa werden.“ Um das Realität werden zu lassen, soll ein „Personalaufwuchs“ auf 460 000 Soldatinnen und Soldaten (einschließlich Reserve) erfolgen. Ebenso der Aufbau industrieller Kapazitäten im Rüstungsbereich, sprich eine starke Rüstungsindustrie. Als Beispiel dient das neue Werk der Firma Rheinmetall im niedersächsischen Unterlüß, das ab 2027 jährlich 350 000 Granaten produzieren soll. Das sind Geschosse mit einer Reichweite von bis zu 40 km. Mit dem Anspruch, stärkste Armee Europas zu werden, steht Deutschland allerdings nicht allein. Auch die polnische Regierung hat diesen Anspruch und unterfüttert ihn mit dem massiven Ankauf von US-amerikanischen und südkoreanischen Panzern.

Europäische Rüstungsindustrie: Theorie und Praxis

Widerspricht dieser Ankauf nicht der Absicht der europäischen NATO-Staaten, eine eigene gesamt-EU-europäische Rüstungsindustrie zu entwickeln und damit auch die Wirtschaftskrise im Rahmen eines Rüstungskeynesianismus in den Griff zu bekommen? Ja und nein. Die gemeinsame europäische Rüstungsindustrie steckt noch in den Anfängen und kämpft mit diversen Schwierigkeiten. Außerdem sind Rüstungsgüter seit dem Russland-Ukraine-Krieg Mangelware. Der Markt kann derzeit nicht genügend Rüstungsgüter liefern. Am besten aufgestellt ist der militärisch-industrielle Komplex der USA mit den fünf größten Rüstungsfirmen der Welt. 78 Prozent der neuen Rüstungskäufe erfolgen außerhalb der EU, schwerpunktmäßig in den USA. Diese Abhängigkeit von den US-amerikanischen Rüstungsfirmen wird sich nicht so schnell verringern. Dafür spricht auch die Erfahrung mit europäischen Projekten, die nur langsam vorankommen. Einige Beispiele: Ein Projekt, das die europäische Rüstungsintegration voranbringen sollte, ist der Kampfhubschrauber Tiger, ein Joint Venture der französischen Firma Aerospatiale und der deutschen MBB. Der aktuelle Stand beim Tiger ist für Rüstungsfetischisten unerfreulich. Technische Probleme wie undichte Treibstofftanks führen zu niedriger Einsatzbereitschaft. Im Jahresdurchschnitt sollen von den 53 vorhandenen Tigern 11,6 einsatzbereit gewesen sein. Man hätte sich auch weiterhin auf den weltweit bewährten Boeing AH-64 Apache verlassen können. Sein Anschaffungspreis beträgt ca. 20 Millionen USD, während der Tiger ca. 31 Millionen USD kostet. Ähnlich desaströs gestalten sich die Vorhaben bei der Marine. Auch hier ist von Pannenprojekten die Rede. Insgesamt sieben neue Fregatten F 126 harren der Produktion. Sie sind mit über acht Milliarden Euro veranschlagt. Von Softwareproblemen ist beim niederländischen Konsortium die Rede. Keines der Schiffe ist bisher ausgeliefert. Beim Future Combat Air System (FCAS), einem überaus ambitionierten, integrierten Luftkampfsystem, an dem Firmen aus verschiedenen europäischen Ländern, vor allem Deutschland, Frankreich und Spanien, arbeiten, gibt es ein Gerangel um die Führungsrolle und um die prozentuale Aufteilung der Industrieanteile. FCAS soll das Leuchtturmprojekt der europäischen militärischen Zukunftstechnologie werden. Greenpeace schätzt die Kosten auf etwa zwei Billionen, wobei man mit Zahlen vorsichtig sein sollte. Ein Projekt wie dieses kann niemand kostenmäßig realistisch einschätzen. Einig sind sich alle nur, dass es sich hier um irrsinnig hohe Ausgaben handeln wird. Seit einem Vierteljahrhundert wird am Konzept gearbeitet. Aber es hakt regelmäßig. Noch kaufen NATO-Staaten Kampfflugzeuge in den USA. Wenn die Truppe von Herrn Pistorius möglichst schnell „kriegstüchtig“ werden will, wird das mit FCAS nicht zu machen sein.

Wie reagierte die NATO auf die Annexion der Krim durch Russland?

Am 18. März 2014 hatte Wladimir Putin offiziell den Anschluss der Halbinsel an die russische Föderation verkündet. Das war eine Steilvorlage für die NATO, der Öffentlichkeit eine neue Runde der Aufrüstung schmackhaft zu machen. Im September desselben Jahres trafen sich die NATO-Vertreter auf ihrem Gipfel in Wales und verabschiedeten die Wales Summit Declaration mit dem Schwerpunkt, mindestens zwei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Verteidigung auszugeben. Staaten, die dieses Ziel noch nicht erreichten, sollten sich innerhalb von zehn Jahren darauf zubewegen. 2014 hatten nur die USA, Griechenland und Großbritannien die zwei Prozent bereits erfüllt. Zehn Jahre später erreichten lt. NATO-Angaben 23 von 32 Mitgliedsstaaten das Ziel. Spitzenreiter war Polen mit vier Prozent. Es folgten Estland mit 3,43 Prozent, die USA mit 3,38 Prozent, Lettland mit 3,15 Prozent, Griechenland mit 3,08 Prozent und Litauen mit 2,54 Prozent. Deutschland erreichte mit 2,1 Prozent den 10. Platz. Die hinteren Plätze belegten Spanien mit 1,4 Prozent, Belgien mit 1,3 Prozent und Luxemburg mit 0,96 Prozent. In Spanien sind linke Parteien an der Regierung beteiligt. So z.B. die Izquierda Unida (IU), die den Austritt aus der Regierungskoalition androhte, sollte sich die Regierung dem 5-Prozent-Ziel verpflichten. Auch Podemos und Sumar lehnen den Aufrüstungskurs ab. In Belgien ist die Mitte-Rechts-Regierung in der Aufrüstungsfrage gespalten. Teile der Regierung befürchten eine Verschärfung der Haushaltsprobleme. Die EU hat 2024 gegen Belgien ein Defizitverfahren eingeleitet, weil es gegen die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts verstößt. Erlaubt ist ein Haushaltsdefizit von 3 Prozent, Belgien hat 4,4 Prozent. Außerdem ist die Staatsverschuldung zu hoch. Die Schuldenquote liegt bei ca. 106,1 Prozent des BIP, erlaubt ist ein Grenzwert von 60 Prozent. Belgien muss jetzt bis November einen Haushaltsplan vorlegen, der belegt, wie eine Defizitreduzierung erreicht werden kann. Und das bei massiver Steigerung der Rüstungsausgaben? Eine Rechnung, die nicht aufgehen kann, außer man nimmt eine Anleihe in kreativer Haushaltsführung beim Nachbarn Deutschland. Belgien ist zwar eines der kleinen Länder, aber Brüssel ist die Zentrale der NATO. Seit 1967 befindet sich das Hauptquartier der NATO in der belgischen Hauptstadt. Ebenso ist hier der Sitz des Nordatlantikrats, des höchsten politischen Entscheidungsgremiums mit dem Generalsekretär. Jeder Mitgliedstaat unterhält eine nationale Delegation mit einem Botschafter, der seinen Staat im Nordatlantikrat vertritt. Mit diesen Institutionen nimmt Belgien eine Sonderstellung ein.

Wie soll nun die neue Arbeitsteilung im NATO-Bündnis aussehen?

877 Militärstützpunkte (Stand Mitte 2025) in 95 Ländern mit etwa 190 000 Soldaten bringen den US-Haushalt in immer größere Schieflage. Um hier Abhilfe zu schaffen, sollen die übrigen NATO-Staaten in die Pflicht genommen werden. Pete Hegseth, Trumps Verteidigungs- bzw. Kriegsminister, machte dazu eine aufschlussreiche Bemerkung: „Wir glauben immer noch, dass das „N“ für Nordatlantik steht und dass unsere europäischen Verbündeten ihren komparativen Vorteil auf dem Kontinent maximieren müssen. Und dank Präsident Trump tun sie das. Und weil unsere Verbündeten die Last teilen, können wir uns verstärkt auf den Indopazifik konzentrieren, denn das ist unser vorrangiger Schauplatz“. Was heißt das? Die USA werden sich – und das ist bereits erkennbar – peu a peu vom ukrainischen Kriegsschauplatz verabschieden, nachdem die Wirtschaftsverträge für die Nachkriegszeit unter Dach und Fach sind. Natürlich liefert man weiterhin Kriegsgerät, das von den europäischen „Freunden“ zu bezahlen ist. Die weitere Finanzierung des Krieges - sollte er nicht zeitnah zu beenden sein - wird den europäischen NATO-Staaten überantwortet. Diese nehmen ihre Rolle ohne großes Murren an, wie den Worten von Generalsekretär Rutte zu entnehmen war: „Also geben wir mehr aus, damit die USA sich Schritt für Schritt zum Beispiel dem Indopazifik zuwenden können“. Noch vor dem NATO-Gipfel in Den Haag ließ Rutte den US-Präsidenten wissen:“Du wirst etwas erreichen, was kein amerikanischer Präsident in Jahrzehnten geschafft hat.“ Aber Trump wäre nicht Trump, wenn er mit diesem sehr vorteilhaften Ergebnis vollends zufrieden wäre. Wenn schon die europäischen NATO-Staaten plus Kanada (außer Spanien) dem Fünf-Prozent- Standard beipflichten, warum nicht auch die anderen Verbündeten der USA? Elbridge Colby ist Hegseths Stellvertreter, darf sich also jetzt stolz stellvertretender Kriegsminister nennen. Auf X führte er dazu aus: „Es gibt eine sehr starke Verpflichtung der NATO, das Ziel des US-Präsidenten von fünf Prozent der Verteidigungsausgaben zu erreichen. Dies ist der neue Standard für unsere Verbündeten auf der ganzen Welt, insbesondere in Asien.“ (31.Mai, also vor dem NATO-Gipfel). Man mag sich wundern. Gibt es da nicht Regierungen, die man erst befragen müsste, ob die einen so weitreichenden Einschnitt in ihren jeweiligen Haushalt akzeptieren wollen? Oder betrachtet man die Verbündeten als Vasallen, die das zu tun haben, was ihnen das Weiße Haus und das Pentagon vorschreiben? Die Staaten, um die es geht, sind von dem Fünf-Prozent-Standard weit entfernt. Am weitesten Japan und die Philippinen mit 0,93 bzw. 1,0 Prozent. Aber auch Neuseeland mit 1,5 Prozent und Australien mit 1,9 Prozent liegen unter der Zwei-Prozent- Marke. Nur Südkorea leistet sich mit 2,7 Prozent deutlich mehr für‘s Militär. Mit der Insel Taiwan meint es Trump besonders gut und fordert gleich das Doppelte, nämlich 10 Prozent des BIP. Nach aktuellem Stand wären das etwa 78 Milliarden USD bei einem Haushalt von etwa 97 Milliarden. Setzen sich die USA mit diesen Vorstellungen durch – und vieles spricht dafür - rollt in den nächsten Jahren eine ungeheure Aufrüstungswelle, manche sprechen auch von einem Tsunami, über die nationalen Haushalte aller am globalen Konflikt beteiligten Staaten hinweg. Im Jahr 2024 gaben die NATO-Staaten zusammen 1506 Milliarden US-Dollar für Rüstung aus. Wenn das Fünf-Prozent-Ziel umgesetzt ist, verdoppelt sich diese Zahl in etwa. Zahlen dieser Größenordnung übersteigen unsere Vorstellungskraft. Vieles spricht dafür, dass dieser Wahnsinn in einem großen Krieg enden wird, wie es der Historiker Eric Hobsbawm (1917-2012) vor 16 Jahren schon befürchtete: „Meine geschichtliche Erfahrung sagt mir, dass wir uns...auf eine Tragödie zubewegen. Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut, das Leid der Menschen wird zunehmen, auch die Zahl der Flüchtlinge. Und noch etwas möchte ich nicht ausschließen: einen Krieg, der dann zum Weltkrieg werden würde.“ Kein erfreulicher Ausblick, aber es hat keinen Sinn, die Augen vor der bitteren Realität zu verschließen. Trotz alledem ist Resignation nicht angesagt. Noch besteht die Möglichkeit, das Ruder herumzureißen. Wie realistisch es ist, sei dahingestellt.

hd (aktualisierte Fassung: 27.11.2025)



Wirtschaftskrise und das Erstarken reaktionärer Kräfte

Wenn wir das Erstarken der AfD analysieren wollen, müssen wir zuerst die Entwicklung der Wirtschaft in den vergangenen Jahren und Monaten betrachten und untersuchen.

Dabei stellen wir fest, dass sich die deutsche Industrie in der Krise befindet. Die Konzerne wälzen ihre Probleme auf die Belegschaften ab und setzen auf Massenentlassungen und Werksschließung. In den letzten Wochen verging kaum ein Tag, an dem nicht darüber berichtet wurde. Bei Konzernen, wie VW, Ford, Schäffler, Bosch, Thyssen-Krupp oder Continental; überall wird der Rotstift angesetzt und Arbeitsplätze werden vernichtet. Neben den großen Konzernen gibt es unzählige kleine und mittlere Unternehmen, über die weniger in den Medien zu finden ist, die aber parallel zur Entwicklung in der Großindustrie ebenfalls in großem Umfang Arbeitsplätze abbauen wollen. Das gilt überdurchschnittlich für ostdeutsche Betriebe.

Aber nicht nur in der Metallindustrie kriselt es. Auch andere Branchen, wie Chemie und Stahl, sind von der Krise betroffen.

Die Gründe der Krise sind vielfältig. Fast alle Branchen der industriellen Fertigung befinden sich in einem anhaltenden Transformationsprozess.

Ausgelöst wurde die Transformation durch die Klimakrise. Mithilfe einer umfassenden Dekarbonisierung soll diese nun abgemildert werden. Weitere Punkte sind die Digitalisierung der Produkte und Produktionsweisen (KI), sowie internationale Verwerfungen, hervorgerufen durch die Trump'sche Zollpolitik und die Kriege in der Ukraine und Israel. Auch die aktuelle Politik der Bundesregierung und der EU trägt nicht gerade dazu bei, dass sich die Krisensituation beruhigt.

Besonders stark von der Krise betroffen sind die Automobilindustrie und ihre Zulieferer. Der Absatz von deutschen E-Autos stagniert derzeit. Die Konkurrenz – insbesondere aus Asien und den USA – macht Volkswagen, BMW und Mercedes-Benz auf den Weltmärkten Anteile streitig. Die Branche kämpft mit sinkenden Profiten und einem hohen Investitionsbedarf, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Lösen wollen die Vorstände der Konzerne die Probleme – wie immer – auf dem Rücken der Belegschaften.

So berichtete Ende des vergangenen Jahres der VW-Gesamtbetriebsrat, dass Volkswagen die Schließung von mindestens drei Werken in Deutschland plant und dass dadurch zehntausende Stellen wegfallen. Bei den verbleibenden Belegschaften soll außerdem der Lohn deutlich gekürzt werden.

Im Gespräch war auch das VW-Werk in Zwickau mit mehr als 10.000 Beschäftigten. In dem Werk werden heute ausschließlich E-Autos produziert. Aber selbst bei einem Fortbestand des Werkes würde den Plänen der Geschäftsführung zufolge in Zwickau künftig nur noch auf einer, statt auf zwei Fertigungslinien produziert. Entsprechend groß war die Empörung der KollegInnen. Und deren Mobilisierung. Die IG Metall rief zu Warnstreiks und Verhandlungen auf, die an allen Standorten massiv befolgt wurden.

Dadurch konnten unmittelbare Werksschließungen erst einmal abgewendet werden. Die Gewerkschaft erreichte das in Verhandlungen kurz vor Weihnachten im vergangenen Jahr.

Außerdem sind betriebsbedingte Kündigungen bis Ende 2030 ausgeschlossen. Die seit drei Jahrzehnten geltende Beschäftigungssicherung - die der Konzern im September 2024 aufgekündigt hatte - wird wieder in Kraft gesetzt und gilt nun bis 2030.

Gleichwohl soll in zwei VW-Werken die Produktion, so wie sie jetzt gestaltet ist, auf längere Sicht eingestellt werden: Dem Kompromiss zufolge ist vorgesehen, dass in Dresden Ende kommenden Jahres die Fahrzeugfertigung endet. Für die Zeit ab 2026 soll „ein alternatives Gesamtkonzept“ erarbeitet werden.

Zwar sollen alle Werke erhalten bleiben, aber bis 2030 werden insgesamt 35.000 Arbeitsplätze abgebaut.

Ein wirklicher Erfolg sieht anders aus .

So wie bei Volkswagen geht in vielen Betrieben bei den Beschäftigten die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust um. Das gilt besonders für die ostdeutschen Bundesländer. Hier fand in den 1990er Jahren eine von den Menschen traumatisch erlebte Deindustrialisierung statt, die sich nun zu wiederholen scheint.

Es waren die Hersteller und Zulieferer der Automobilindustrie, die sich qualifizierte Beschäftigte in den ehemaligen Werken der DDR-Autoindustrie sicherten. Der Schwerpunkt lag dabei in Sachsen. Allerdings haben alle dieser Unternehmen ihren Hauptsitz (eine Ausnahme bilden wenige Zulieferer) in Westdeutschland. In den ostdeutschen Betrieben findet nur die Produktion statt und im Westen fallen die Entscheidungen. Damit sind die Ostbetriebe die “verlängerten Werkbänke” der Konzerne.

Jeder vierte Arbeitsplatz in der Ost-Industrie hängt an der Branche der Automobilfertigung und ihrer Zulieferer. So kommt derzeit jedes zweite E-Auto aus dem Osten. Daher sind bei schrumpfenden Verkaufszahlen dort die Auswirkungen größer als im Westen.

Aber auch in anderen Branchen kriselt es heftig. Ein besonderer Fall ist die Stahlindustrie. Sie steckt tief in der Krise. Diese könnte sich noch verschärfen, wenn die exorbitanten US-Zölle die entsprechende Wirkung auf die Arbeitsplätze zeigen.

Nach Einschätzung der IG Metall ist die deutsche Stahlindustrie in ihrer Existenz bedroht. Als Grund wird die Billig-Konkurrenz aus China genannt, dazu kommen Belastungen aus dem EU-weiten Handel mit CO2-Zertifikaten.

Sollte die Stahlindustrie aufhören zu existieren, wären direkt 85.000 Arbeitsplätze bedroht. Auch für die weiterverarbeitende Industrie hätte das Folgen. Studien gehen von einer halben Million gefährdeter Arbeitsplätze aus.

Die zuständige Gewerkschaft IG Metall zeigt sich ratlos. So hat sie jetzt einem Lohnabschluss zugestimmt, der ab Januar 2026, bei einer Laufzeit von 15 Monaten, eine Lohnerhöhung von gerade einmal 1,5 Prozent bringt. Bei einer Inflationsrate von aktuell 2,4 Prozent bedeutet dieser Abschluss einen starken Reallohnverlust. Lohnverzicht sichert keine Arbeitsplätze. Das war in der Vergangenheit so und wird auch in der Zukunft so sein. Diese Erkenntnis wurde in der Vergangenheit von der IG Metall richtigerweise so propagiert. Nur scheint diese Erkenntnis an den führenden Köpfen der Gewerkschaft vorbeigegangen zu sein.

Aber nicht überall wütet die Krise. Bei manchen Konzernen besteht geradezu eine Goldgräberstimmung. Einer dieser Konzerne ist Rheinmetall. Dort wissen die Bosse geradezu nicht mehr “wohin mit den Profiten”. Der Waffenproduzent expandiert daher in allen Bereichen, die mit dem Krieg zu tun haben.

Es verwundert daher nicht, dass immer mehr Firmen Interesse am Rüstungsgeschäft zeigen und in diese Branche einsteigen wollen. Beratung und Vernetzungsangebote gibt es beim Bundesverband der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV). Die “junge Welt” berichtet, dass dieser Verband innerhalb eines Jahres seine Mitgliederzahl um ein Drittel, auf fast 400, erhöht hat. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.

Auch zu dieser Entwicklung gibt es keine oppositionelle Haltung seitens der Gewerkschaften. Im Gegenteil!

Der DGB begreift die Aufrüstung und Kriegsinfrastruktur als Chance. Mit “konsumptiven Milliardeninvestitionen zur Stärkung der Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit” würden

“gute Arbeit und faire Löhne” (UZ, 10.10.2025) einhergehen.

Die Situation in vielen Betrieben ist also geprägt von der Angst der Menschen, möglicherweise den Arbeitsplatz zu verlieren. Aber das ist nur ein Teil der Stimmungslage. Hinzu kommen Wut und Enttäuschungen. Diese resultieren oft aus niedrigen Löhnen und Gehältern, aus Abstiegs- und Existenzängsten, sowie aus willkürlicher Behandlung und üblen Umgangsformen von und durch Vorgesetzte und Kapitaleignern. Ein Gefühl des “Abgehängtseins” macht sich breit und eine Wut auf “die da oben”.

Der Grund, warum in vielen Betrieben kaum mehr als der Mindestlohn – und manchmal nicht einmal der – bezahlt wird, liegt meist an der fehlenden Tarifbindung.

Schlechte Behandlung und Willkür gegenüber den Beschäftigten dagegen ist möglich, weil es keinen Betriebsrat gibt, der dagegen interveniert.

Bei der Tarifsituation sieht es folgendermaßen aus: Für rund 49 % der abhängig Beschäftigten war das Beschäftigungsverhältnis 2024 durch einen Tarifvertrag geregelt.

Allerdings gibt es Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern.

Für 43 % der. Beschäftigten in den alten Bundesländern war das Beschäftigungsverhältnis 2024 durch einen Branchentarifvertrag geregelt. Für 7 % dieser Beschäftigten galten Firmentarifverträge.

In den neuen Ländern war die Tarifvertragsbindung deutlich niedriger. Hier galten für 31 % der Beschäftigten Branchentarifverträge. 11 % arbeiteten in Unternehmen mit Firmentarifverträgen. (Statistisches Bundesamt)

Für 50% der Beschäftigten im Westen und 58 % der Arbeiter und Angestellten im Osten gab es keinen Tarifvertrag.

Neben der Tarifbindung verliert auch die betriebliche Mitbestimmung an Bedeutung. Immer weniger abhängig Beschäftigte arbeiten in Betrieben mit einem Betriebsrat.

 

Waren es im Westen Mitte der 1990er Jahre noch 51 Prozent der Beschäftigten, so sank der Wert auf heute 40 Prozent, im Osten sank er von 43 auf 33 Prozent.

Das ist eine dramatische Entwicklung. Die Mehrheit der abhängig Beschäftigten ist alleine und einzig der Unternehmermacht ausgesetzt und hat kaum Möglichkeiten, ihr Arbeitsumfeld im eigenen Interesse zu beeinflussen. So eingeschränkt die Möglichkeiten eines Betriebsrats auch sind, die Unternehmenspolitik mitzubestimmen, so hat er doch Arbeitsfelder, in denen er für seine KollegInnen etwas bewirken kann:

So bestimmt der Betriebsrat mit bei der Arbeitszeitgestaltung und den Entlohnungsgrundsätzen. Er kümmert sich um soziale Themen im Betrieb, um personelle Angelegenheiten, die Berufsbildung, den Gesundheitsschutz, die Arbeitsplatzgestaltung und um wirtschaftliche Angelegenheiten.

Über den Betriebsrat haben außerdem die Gewerkschaften Zugang in die Betriebe. Und alleine das ist schon fast die wichtigste Voraussetzung, dass sich eine Belegschaft die Tarifbindung erkämpfen kann.

Leider gibt es keine Anzeichen, dass die negative Entwicklung endet. Im Gegenteil. Es sind die Gewerkschaften, die mit ihrer Mitgliedschaft eine Veränderung zum Positiven erzwingen müssten. Aber auch sie werden schwächer. Die Mitgliederzahlen bei den Gewerkschaften sinken.

Die IG Metall zum Beispiel zählte 2.096.511 Mitglieder zum Jahreswechsel 2024/2025. Das entspricht einem Rückgang von 1,9 Prozent zum Vorjahr. Im Jahr 2018 hatte die IG Metall noch mehr als 2,27 Millionen Mitglieder. Seither sind die Zahlen stetig zurückgegangen.

 

An dem Punkt kommt die AfD ins Spiel. Von keiner Personengruppe wird die Partei stärker unterstützt als von der der Arbeiter. In Sachsen, Brandenburg und Thüringen wählten fast 50 Prozent der Arbeiterschaft die AfD.

Die Partei habe “sich als Arbeiterpartei etabliert”, heißt es in den Medien. Und tatsächlich wurden SPD und Die Linke von ihr abgelöst. Bei der letzten Bundestagswahl stimmten für die SPD 12 Prozent der Arbeiter, für Die Linke 8 Prozent und die AfD 38 Prozent

An dem Parteiprogramm der AfD kann es nicht liegen. Denn das ist eindeutig neoliberal. Die Partei will weder die Reichen stärker besteuern noch den Mindestlohn erhöhen.

Dafür bietet sie einen Sündenbock an, auf den sie viele Verwerfungen im Land zurückführt. Platt ausgedrückt funktioniert die AfD-Propaganda so: “Es sind die vielen “illegalen” Einwanderer, die Asylbewerber, die das Land überschwemmen, die hierher kommen, nicht arbeiten, viel Geld erhalten und dazu noch Deutsche mit Messern angreifen und umbringen”.

Ganz offensichtlich funktioniert Ausländerfeindlichkeit auch heute noch, um von den tatsächlichen Verursachern der Probleme abzulenken.

Und große Teile der Bevölkerung und insbesondere der Arbeiterklasse fallen auf sie herein.

Wie schon beschrieben, sind die Probleme und Nöte von Teilen der Arbeiterklasse sehr groß. Sie bestimmen das Denken und Verhalten dieser Menschen.

So wird das Angebot einer Partei gerne angenommen, die “nicht verbraucht” ist (die AfD hat noch nirgendwo mitregiert), die die Finger in offene Wunden legt, die für billige Energie aus Russland eintritt, die gegen den Ukrainekrieg ist und die von den Altparteien deshalb heftig angefeindet wird.

Mit der Wahl der AfD will man so den Altparteien eins auswischen, die als die wahren Verursacher ihrer Probleme und Miseren gesehen werden.

Dass das ein Irrtum ist, werden diese Teile der Arbeiterschaft früher oder später selbst bemerken.

Aber darauf kann man eigentlich nicht warten. Die Frage ist “Was tun?”

 

Wichtig wäre, dass sich die betrieblichen und gesellschaftlichen Veränderungen in einem neuen Klassenbewusstsein niederschlagen. Ein Weg dahin wäre, dass sich die Gewerkschaften in ihrer Politik mehr am Interessen- oder Klassengegensatz und weniger an der Sozialpartnerschaft orientieren würden. So hat zum Beispiel die IG Metall vor mehr als 20 Jahren das letzte Mal für Forderungen zu einem Flächentarifvertrag gestreikt.

Jeder, der schon einmal an einem Streik teilgenommen hat, kann davon berichten, wie sich das Denken und Verhalten der Teilnehmer verändert hat.

Natürlich kann man von Außen wenig zur Änderung der Politik der Gewerkschaften beitragen. Das muss von Innen, von den Kolleginnen und Kollegen, kommen. Die schärfer werdende Krise aber wird viele Möglichkeiten für kämpferische Auseinandersetzungen mit Konzernen und Politik bieten. Und oft werden die abhängig Beschäftigten dazu gezwungen sein. Beginnend mit der Forderung an die Bundesregierung nach einer effektiven Industriepolitik, zum Beispiel im Stahlbereich, bis hin zur Verhinderung von Massenentlassungen, Werksschließungen und Sozialabbau.

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Die Friedensfrage und die deutschen Gewerkschaften

Auch zum diesjährigen Antikriegstag lässt der DGB-Aufruf wieder ein deutliches Nein zur Militarisierung der Gesellschaft und den gigantischen Aufrüstungsplänen der Bundesregierung vermissen. Es gibt kaum Kritik an Merz‘ Plänen, die Bundeswehr zur stärksten Armee Europas auszubauen.

Der Aufruf des Dachverbandes der deutschen Gewerkschaften führt vielmehr einen Eiertanz auf, der hier dargestellt werden soll.

„Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften setzen sich für eine Friedens- und Sicherheitsordnung ein, die im Rahmen der Vereinten Nationen multilaterale Konfliktlösungen mit den Mitteln der Diplomatie und wirksamer Krisenprävention ermöglicht.“ Weiterhin bekennt er sich zu den „Prinzipien des humanitären Völkerrechts u.a. dem Gewaltverbot, der souveränen Gleichheit von Staaten und der Achtung der Menschenrechte.“ Aus gewerkschaftlicher Sicht seien diese Prinzipien als Pfeiler einer regelbasierten internationalen Ordnung unantastbar.

Dass diese hier hochgelobte regelbasierte Ordnung von den mächtigen Staaten dieser Welt ihrem eigenen Nutzen entsprechend bestimmt wird, bleibt unerwähnt. Unerwähnt bleibt auch, dass Deutschland und Europa jahrelang gemeinsam mit den USA für diese regelbasierte Ordnung verantwortlich waren. Jetzt befürchten die Europäer, dass sie dieser herausgehobenen Position verlustig gehen könnten.

Des Weiteren beklagt der DGB „die Wiedergeburt einer verhängnisvollen Denk- und Handlungslogik in den internationalen Beziehungen, die nicht mehr auf die Stärke des Völkerrechts setzt, sondern nur noch auf das Recht des Stärkeren.“

Die Frage nach den Hauptschuldigen an diesem verhängnisvollen Dilemma beantwortet der DGB wie folgt: „Maßgeblichen Anteil an dieser bedrohlichen Entwicklung hat die Großmachtkonkurrenz zwischen USA, China und Russland.“ Für den DGB scheint die EU da unschuldig zu sein, sie scheint kein Bestandteil dieser Konkurrenz zu sein, sondern wird vielmehr als Opfer dargestellt

Der DGB stellt fest, „dass auf das Schutzbündnis mit den USA kein Verlass mehr ist“ und sieht mit seinen Mitgliedsgewerkschaften „deshalb durchaus die Notwendigkeit, in Deutschland und Europa die gemeinsame Verteidigungsfähigkeit zu stärken.“

Dabei geht es um nichts weniger als um die Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse in Deutschland „nämlich um die Verteidigung unserer liberalen Demokratie und unseres Modells der Sozialen Marktwirtschaft.“

Kapitalistische Verhältnisse also, die dazu da sind, Profit zu machen und dafür zu sorgen, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft.

Damit das Aufrüstungsprogramm nicht allzu dramatisch auf Kosten der Lohnabhängigen und der sozial Schwachen und Schwächsten geht und diese nicht doch noch rebellisch werden, appelliert der DGB an die Bundesregierung „sicherzustellen, dass zusätzliche Rüstungsausgaben nicht zu Lasten des Sozialhaushalts, der Ausgaben für Bildung und Forschung und von Investitionen in öffentliche und soziale Infrastruktur gehen.“

Außerdem soll die Bundesregierung eine sicherheitspolitische Kurskorrektur vornehmen. Sie „muss sich aktiv dafür einsetzen, dass die sich immer schneller drehende Aufrüstungsspirale endlich gestoppt wird. Statt einseitig auf militärische Abschreckung zu setzen, müssen diplomatische Initiativen zur Aufrechterhaltung und Wiederbelebung der multilateralen Ordnung wieder viel stärker in den strategischen Mittelpunkt rücken.“ Das hört sich ja gut an; allerdings sind wir damit wieder bei der guten alten Ordnung angekommen und die muss verteidigt werden: „Nach innen müssen wir unsere Demokratie schützen vor dem wiedererstarkenden Nationalismus und Rechtsextremismus.“

Nach Außen bekennt sich der DGB deutlich zu Europa und macht in seinem Aufruf zum Antikriegstag klar, dass auch diese Orientierung verteidigt werden muss.

„Nach außen müssen wir dieses gemeinsame Modell nicht nur gegen die unmittelbare militärische Bedrohung durch Russland verteidigen, sondern auch gegen den autokratischen Staatskapitalismus Chinas und den Big-Tech-Radikalkapitalismus US-amerikanischer Prägung behaupten.“

Das ist ein dickes Brett und dem ist nichts hinzuzufügen!

Die Erklärung des DGB zum Antikriegstag am 1.September 2025 ist übrigens überschrieben mit den Worten: „Für eine Politik der Friedensfähigkeit! Nie wieder Krieg - in Deutschland, Europa und weltweit!“

Was in Sachen Frieden von der Führungsetagen der deutschen Gewerkschaften zu erwarten ist, lässt sich an dem Aufruf gut erkennen.

In den Gewerkschaften kommt der Widerstand gegen Aufrüstung und in dessen Folge der Abbau des Sozialstaates von unten. Er ist trotz vielfältigem Engagement, mannigfacher Aufrufe und den inzwischen drei Gewerkschaftskonferenzen für den Frieden immer noch ein zartes Pflänzchen, das weiter gehegt und gepflegt werden muss. Denn ohne Frieden ist alles nichts.

Ein gutes Beispiel, wie das gelingen kann, zeigt die Diskussion in der IG Metall Hanau/Fulda zum Thema „Gewerkschaft und Friedensbewegung“.

Mit freundlicher Genehmigung haben wir den folgenden Artikel von der Gruppe Arbeiterpolitik übernommen, den sie auf ihrer Homepage veröffentlicht hat.

 

Diskussion in der IG Metall Hanau/Fulda

 

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Diskussion in der IG Metall Hanau/Fulda

Am 18. September 2025 trat die Delegiertenversammlung der IG Metall Hanau/Fulda zusammen, um über eine zentrale Frage in unserer Zeit zu beraten: Wie halten wir es als Gewerkschaften mit der Friedensbewegung? Können und dürfen wir sie im Interesse unserer Mitglieder und der Lohnabhängigen insgesamt unterstützen in den Aktionen, die sie unternimmt, und den Positionen, die vertreten werden? Oder ist eine Zusammenarbeit mit der Friedensbewegung abzulehnen, weil sie bzw. einige Strömungen darin in den globalen Konflikten wie Ukraine- und Gaza-Krieg falsche Positionen beziehe?

Zur vorhergegangenen Delegiertenversammlung im März hatte ein Antrag vorgelegen, mit dem die Einstellung der Unterstützung für Aktionen der Friedensbewegung („des Berliner Appells und aller dazugehörigen Veranstaltungen“) gefordert wurde, begründet mit Hinweis auf angebliche Verbindungen zur sogenannten Querdenken-Szene und zu Verschwörungstheorien. Dies konnte man so verstehen, dass der Friedensbewegung insgesamt vorgeworfen wurde, „rechtsoffen“ zu sein. Für die Hanauer Friedensplattform stand mit diesem Antrag auch die Befürchtung einer Aufkündigung der bisher in Hanau praktizierten Zusammenarbeit (s. u. Zur Vorgeschichte) im Raum. Der Antrag wurde aber nach intensiver Diskussion zurückgezogen.

So wurde noch in der März-Versammlung beschlossen, im September eine weitere Delegiertenversammlung abzuhalten und erneut das Thema Gewerkschaften und Friedensbewegung auf die Tagesordnung zu setzen. Frieden ist das Grundbedürfnis der lohnabhängig arbeitenden Menschen. Es steht im Gegensatz zu den Interessen des Kapitals, dem es egal ist, was es produziert, sofern es eben Profit bringt. Und es steht im Gegensatz zu den Interessen der Mächtigen, die ihre Ziele notfalls mit Waffengewalt durchsetzen wollen. Aber die im Raum stehenden Fragen sind eben auch diejenigen, wo man die eigenen Interessen am besten aufgehoben wähnt: im Zusammenschluss mit den Mächtigen, im Glauben an die vermeintlichen Ideale des „demokratischen Westens“, in der Hoffnung auf die Verteidigung des Arbeitsplatzes und sonstiger Rechte, wenn man sich nur an den Parolen der bürgerlichen Presse orientiert. Oder eben darin, den Krieg zu vermeiden, die Gesellschaft friedensfähig zu machen und für diese Ziele das Bündnis der Gewerkschaften mit der Friedensbewegung anzustreben.

Für diesen Teil der Tagesordnung wurde ein spezieller Verlauf festgelegt. Zwei Referent:innen sollten zunächst jeweils einen Standpunkt darlegen. Als eine davon wurde Ulrike Eifler vorgeschlagen, als Regionsgeschäftsführerin des DGB Südosthessen mit Sitz in Hanau von 2009 bis 2019 noch in guter Erinnerung, inzwischen Gewerkschaftssekretärin der IG Metall Würzburg, auch nicht allzu weit entfernt. Auf die Vorträge sollte eine Diskussion folgen, die mit einem Beschluss beendet werden sollte. Der im März zunächst zurückgezogene Antrag wurde in umformulierter Version neu eingebracht.

Am Ende einer „lebhaften Debatte mit vielen sehr guten, aber auch fürchterlichen Redebeiträgen“ (so ein Delegierter) wurde dieser Antrag, der die weitere Unterstützung der Friedensbewegung durch die IG Metall Hanau/Fulda beenden sollte, mit klarer Mehrheit abgelehnt. Dies war nach Meinung etlicher Delegierten nicht von vornherein abzusehen, sondern wurde – mit Recht – am Ende als Erfolg bewertet. Das Ergebnis besagt damit wohl, dass für eine weitere Unterstützung der Friedensbewegung durch die IG Metall Hanau/Fulda der Weg frei ist. Die erste konkrete Maßnahme, die daraus folgte, war bereits die Finanzierung eines Busses für Teilnehmer:innen an der bundesweiten Friedensdemonstration am 3. Oktober, in diesem Fall nach Stuttgart, durch die IG Metall Hanau/Fulda.

Zur Vorgeschichte:

Vor drei Jahren hatte die Kundgebung zum damaligen Warnstreik der IG Metall in Hanau am 17. November 2022 bundesweites Aufsehen erregt. Das Besondere war die Verbindung von tarifpolitischen mit sozial- und friedenspolitischen Forderungen in dieser Aktion. Das führte zu empörten Diskussionen, ob solche politische „Überfrachtung“ nach den restriktiven Bestimmungen des deutschen Tarifrechts (wenn man es etwa mit französischen Verhältnissen vergleicht) erlaubt sein kann. Dieses Vorgehen war die Konsequenz eines Bündnisses „Frieden und soziale Gerechtigkeit“ zwischen Hanauer lokalen Organisationen von IG Metall, ver.di und DGB und den örtlichen Friedensinitiativen. Es führte im weiteren Prozess zu der ebenso mit friedenspolitischen Forderungen verknüpften Warnstreikkundgebung von ver.di Main-Kinzig/Osthessen am 23. März 2023 sowie dann zur Gewerkschaftlichen Friedenskonferenz der IG Metall Hanau/Fulda zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Juni 2023. Eine Nachfolgekonferenz fand dann im Juni 2024 in Stuttgart statt, von gewerkschaftlicher Seite diesmal von dem örtlichen ver.di-Bezirk organisiert, und im Juli 2025 die dritte in Salzgitter mit der dortigen IG Metall[1].

Angesichts der Haltung der Gewerkschaftsvorstände, die die Politik der Bundesregierung zur bedingungslosen Unterstützung der Ukraine und des Kurses von USA und NATO übernahmen, war die Organisierung einer Konferenz von unten, in einer mittelgroßen Stadt mit sehr begrenzter bundespolitischer Bedeutung eine der wenigen Gelegenheiten, friedenspolitische Debatten in den Gewerkschaften anzufangen und zu führen. Solidaritätsadressen zu diesem „Hanauer Weg“ gab es daher aus dem ganzen Bundesgebiet. Aber man muss auch sagen: leider nur sehr wenige. Und die mittleren und oberen Gewerkschaftsebenen reagierten teils gar nicht, teils – vor allem in den für Hessen regional zuständigen Vorständen – mit Repression, mindestens mit Rügen für die Hanauer Funktionär:innen, Aktivist:innen und Gremien. Zum Teil gingen Hauptamtliche, die führende Rollen gespielt hatten, auch von sich aus weg, um ihre Karriere auf der mittleren Ebene fortzusetzen.

Festzustellen war auch ein wesentlicher Mangel darin, dass die friedenspolitischen Aktivitäten in den großen Metallbetrieben in Hanau zwar durchaus auf freundliches Interesse stießen, aber eher als von offizieller Seite gegebene Marschrichtung empfunden wurde denn als ein aus den Bedürfnissen der Kolleg:innen spontan entwickeltes Vorgehen. Zwar gab es Beschlüsse der Delegiertenversammlung der IG Metall Hanau/Fulda, die mit deutlichen Zwei-Drittel-Mehrheiten diesen Kurs unterstützten, etwa noch im März 2024 gegen die Ausrichtung Deutschlands auf „Kriegstüchtigkeit“[2]. Doch der weitere Verlauf nach dem Ausscheiden des damaligen Ersten Bevollmächtigen Robert Weißenbrunner kam aus diesen Gründen an seine Grenzen und sein vorläufiges Ende, wie der Warnstreik vom 11. November 2024 in Hanau zeigte, der ohne friedenspolitische Aussage (wie noch im November 2022 und im März 2023) blieb.

Ein Offener Brief der Hanauer Friedensplattform

Die Hanauer Friedensplattform hatte einen Offenen Brief formuliert. Darin wurde auf den „Hanauer Weg“, d. h. auf das zeitweilig bestehende, inzwischen jedoch seitens der Hanauer Gewerkschaften aufgegebene „Bündnis Frieden und soziale Gerechtigkeit“ Bezug genommen. Weiter hieß es u. a.:

„Gewerkschaftsbewegung und Friedensbewegung gehören zusammen. … Unsere Arbeit wendet sich gegen alle derzeit in der Welt geführten Kriege. Denn sie sind immer nur der Ausdruck internationaler Kämpfe um Rohstoffe, Energiequellen, Kriegsgewinne und geostrategische Vorteile der mächtigsten Militär- und Wirtschaftsblöcke. … Für diese Interessen werden Menschen auf den Schlachtfeldern der Welt millionenfach geopfert, Kriege werden herbeigelogen und in aller Öffentlichkeit vorbereitet. Auch in Deutschland: Im Kriegsfall werden auch wir zur Zielscheibe und zum Schlachtfeld. … Die Verarmung der arbeitenden Bevölkerung durch Lohnabbau, Rentenkürzungen, Verfall der Schulen, Krankenhäuser und der Infrastruktur ist der Preis für den Aufbau einer Kriegswirtschaft, von der ausschließlich Milliardäre und Finanzkonzerne wie BlackRock profitieren. Die enge Verflechtung der Politik mit den Interessen dieser kleinen, aber mächtigen Minderheit wird besonders in der Person Friedrich Merz allzu deutlich.

Laut Haushaltsplan seiner Regierung soll künftig rund ein Drittel aller Bundeseinnahmen in Ausgaben für das Militär fließen, allein der Kernhaushalt für die Bundeswehr soll bis 2029 auf ca.153 Milliarden Euro erhöht werden (2024 waren es noch 52 Milliarden). Hinzu kommen milliardenschwere Militärausgaben, die unter anderen Haushaltstiteln versteckt werden (wie Infrastruktur, Ukraine-Hilfen, Nachrichtendienste, Zivilschutz etc.). Ein Drittel ist dabei noch vorsichtig gerechnet, denn wenn das Aufrüstungsziel von 5 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) umgesetzt würde, ergibt sich, gerechnet auf der Basis des BIP von 2024, die gigantische Summe von 215,5 Milliarden Euro. Diese Summe entspricht etwa 45 % des Bundeshaushalts von 2024, fast die Hälfte des Haushalts also für Militärausgaben. Dazu kommen als ‚Sondervermögen‘ getarnte Schulden, die jährlich mit ca. 33 Milliarden Euro ‚bedient‘ werden sollen – das sind 10,2 Prozent des Bundeshaushaltes allein für die Abzahlung der Schulden – Tendenz steigend!

All diese Milliarden könnten auch sinnvoll eingesetzt werden. Doch durch Aufrüstung und Militarisierung landen sie direkt in den Taschen der Rüstungskonzerne, der Banken und der Finanzwirtschaft statt in Schulen, Krankenhäusern oder sonstiger Infrastruktur.“

Der Offene Brief wurde im Vorraum des Versammlungssaals ausgelegt, dort auch abgenommen und gelesen, spielte aber in der Diskussion offenbar keine Rolle in dem Sinne, dass darauf ausdrücklich Bezug genommen worden wäre.

Zum Unterschied Gewerkschaften – Partei – soziale Bewegung

Die folgenden Überlegungen bringen wir, weil sie in der Diskussion der Hanauer Friedensplattform eine Rolle gespielt haben:

Mit der Entwicklung der Produktivkräfte und der Durchsetzung des Kapitals als gesellschaftlich bestimmender Produktionsform strebt das Kapital danach, die vielen voneinander isolierten Arbeitsvorgänge einer Gesellschaft in einen kombinierten gesellschaftlichen Arbeitsprozess zu verwandeln. Gleichzeitig ist aufgrund dieser Entwicklung der Scheidungsprozess der unmittelbaren Produzenten von (ihren) Produktionsmitteln so weit fortgeschritten, dass sich hauptsächlich bloße Besitzer von Arbeitskraft und Besitzer geronnener Arbeit (Kapital) gegenüberstehen mit dem Interesse, möglichst günstig diese Ware Arbeitskraft zu kaufen bzw. zu verkaufen. Motor der Entwicklung ist die Konkurrenz unter den Produktionsmittelbesitzern, die Waren so wohlfeil als möglich zu produzieren trachten. Auch die Besitzer von bloßer Arbeitskraft stehen zueinander beim Verkauf ihrer besonderen Ware in Konkurrenz. Gewerkschaften einerseits auf der ökonomischen, Arbeiterparteien andererseits auf der politischen Ebene sind die Instrumente, die Konkurrenz unter Lohnabhängigen aufzuheben, mindestens einzuhegen, um den Klassenkampf mit dem Kapital kollektiv aufzunehmen.

So richtig es ist, dass gewerkschaftlicher Kampf sich auf den Schutz der Arbeitskraft bezieht und immer ökonomischer Kampf sein muss, genauso richtig ist es, dass gewerkschaftlicher Kampf stets politischer Kampf ist, da er sich objektiv gegen das Lohnarbeitssystem richtet – ob dies nun den einzelnen Mitgliedern oder Funktionären bewusst ist oder nicht. Je stärker die politischen Momente des gewerkschaftlichen Kampfs erfahren werden, je bewusster der politische Charakter des gewerkschaftlichen Kampfes wahrgenommen und eingesetzt wird, umso stärker wird eine Gewerkschaft als gesellschaftliche Kraft auf allgemeinpolitischer Ebene agieren können.

So richtig es ist, dass die Gewerkschaft auch politischen Charakter hat, so falsch ist es, Gewerkschaft und politische Partei in eins zu setzen. Um den bestmöglichen Schutz der Arbeitskraft zu gewährleisten, muss die Einheitlichkeit auch bei politisch unterschiedlichen Standpunkten gewahrt werden. Unter Bedingungen der wirtschaftlichen Prosperität, die Zugeständnisse des Kapitals und der Dienstherren eher ermöglicht, ist diese relative Einheitlichkeit problemloser zu wahren, als unter Bedingungen stockender Kapitalakkumulation, so dass gerade in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation oder Krise, die die Angriffe auf die Lohnabhängigen eher ermöglicht, alle Kraft auf die Einheitlichkeit und den Zusammenhalt der Gewerkschaft verwandt werden muss.

Demgegenüber stellt eine Partei (kommunistisch oder sozialdemokratisch) eine Gemeinschaft von „weltanschaulich“ Gleichgesinnten dar, die durchaus Minderheit des Proletariats sein kann und – zumal, wenn sie eine kommunistische ist – eine klare Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Klassencharakters haben und am Ziel der sozialistischen Gesellschaft festhalten kann. Auf dieser Basis formuliert und beschließt sie ein Programm, das sie mehr oder weniger stringent umsetzt, je nachdem, wie die Machtverhältnisse sind und zu welchen Konzessionen an Koalitionspartner sie bereit ist.

Umgekehrt gilt: Ist der Reformismus, der bei stetig steigender Akkumulationstätigkeit des Kapitals materielle Zugeständnisse an jedes Gesellschaftsindividuum und kollektive Errungenschaften des Sozialstaates möglich machte, am Ende, so muss festgehalten werden, dass gegenwärtig an seine Stelle keine für die arbeitenden Klassen glaubhafte Alternative getreten ist, sodass innerhalb der Gewerkschaft weiterhin an der bürgerlichen Ordnung festgehalten wird und verzweifelt nach Auswegen innerhalb des Systems gesucht wird.

Eine politische Bewegung, die etwa aus einer oder mehreren Initiativen besteht, grenzt sich demgegenüber von Parteien in der Weise ab, dass sie sich nicht an deren umfassenden Programm und mehr oder weniger nicht an deren Vorstellung gesellschaftlicher Ordnung binden will, sondern in einem oder wenigen Bereichen ein oder mehrere Ziele verfolgt, die ihr zentral wichtig sind. Die „weltanschaulichen“ Vorstellungen, die Methoden und die Bündnispartner können sehr unterschiedlich sein. In diesem Fall geht es eben um Frieden, für den in Hanau derzeit vor allem die Hanauer Friedensplattform als in der Öffentlichkeit aktivste Kraft eintritt.

Gewerkschaften als Klassenorganisationen

Gewerkschaften, die ihren Job machen, sind Klassenorganisationen, die sich in Alltagskämpfen für ein gutes Leben der Lohnabhängigen bewähren müssen. Aber wenn sie ihn dauerhaft erfolgreich machen wollen, müssen sie sich dessen bewusst sein und sich eine Klassenpolitik erarbeiten, die sich auf der Höhe des Gegenwartskapitalismus befindet. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die sich im Konkreten mit der Transformation der kapitalistischen Produktionsweise immer wieder verändert.

Das Bemühen darum, die friedenspolitische Diskussion in die Gewerkschaften hineinzutragen und dort zu führen, hat gerade hier in Hanau zu dem besonderen Ereignis einer gewerkschaftlichen Friedenskonferenz geführt, deren Folgewirkung (von den Konferenzen in Stuttgart und Salzgitter abgesehen) leider bisher überschaubar blieb. Dennoch kann es für die Gewerkschaften und die Friedensbewegung keine Alternative zu dem Kurs auf bündnismäßige Zusammenarbeit der Friedensbewegung mit den Gewerkschaften geben, der 2022 beispielhaft in Hanau eingeschlagen wurde. Es bedeutet eben, dass man die Auseinandersetzung weiter suchen und führen muss, wie es die gegebenen Umstände erfordern.

Hanauer Tradition

Speziell die Tradition des „roten Hanau“, an der hier in der Region festgehalten werden muss, beschrieben wir in Arbeiterpolitik 1/2023 mit Worten, die hier immer noch passen:

„Zunächst einmal ist Hanau mit rund hunderttausend Einwohner:innen eine eher kleine Stadt, die bundesweit kein besonderes Gewicht in die Waagschale bringen kann. Da hilft auch nicht der Status einer relativ starken Industrialisierung oder die Position am Rande des wirtschaftsstarken Rhein-Main-Gebietes. Der Versuch der Politisierung der gewerkschaftlichen Tarifarbeit, der in Hanau gemacht wurde, hat insofern die Bedeutung, dass jemand den Anfang machen muss. Wie das weiterwirkt, ob das aufgegriffen wird, kann nur die Zukunft ergeben.

Hanau mag insofern aus dem Einheitsbrei der Tarifrunde (von 2022, Anm. Red.) herausstechen. Aber es ist ein Sonderfall. Der örtliche Hintergrund ist zu sehen in einer langen Tradition, deren Grundlegung historisch in einer frühen Industrialisierung (um 1600) zu sehen ist und sich umsetzte in den Revolutionen von 1848 und 1918. Diese Historie lässt sich zusammenfassen in dem Stichwort ‚Das rote Hanau‘ (so der Titel eines Dokumentarbandes, bearbeitet von Judith Pákh und herausgegeben von der IG Metall Hanau/Fulda, Hanau 2007). Für Details dazu ist hier kein Platz, und man darf die Fortwirkung unter den Verhältnissen, die wir in Deutschland seit der Zerschlagung der alten Arbeiterbewegung und der Befreiung vom Faschismus von außen haben, nicht überschätzen. Diese historischen Einschnitte führten in der vorherrschenden sozialpartnerschaftlichen Strömung der Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg zu dem Schluss, dass niemals mehr klassenkämpferische Politik gegen die Interessen des Kapitals, schon gar nicht bis zum Sturz der Kapitalsherrschaft gemacht werden dürfe. Aber hier und da vor Ort gilt eben auch: ‚Etwas hat überlebt! Und daran gilt es anzuknüpfen mit den Inhalten und Methoden, die unter gegebenen Verhältnissen und in den Vorstellungen der Kolleg:innen möglich und vermittelbar sind.“

So ist am Ende dieses Berichts noch einmal festzustellen, dass der Ausgang der Delegiertenversammlung vom 18. September bzgl. des Beschlusses zur Frage des Bündnisses von Gewerkschaften und Friedensbewegung einen Erfolg darstellt, der in einer „lebhaften Debatte“ erreicht worden ist. Es geht um die Frage, die auch schon früher, etwa in dem bereits erwähnten Beschluss vom 21. März 2024, zu Diskussionen geführt hat: „Kriegsertüchtigung“ oder Friedensfähigkeit. Der aktuelle Beschluss ist wichtig, aber bildet wohl nur eine Etappe. Gewerkschaften und Friedensbewegung müssen für weitere Auseinandersetzung bereit sein.

F/HU, 20.9.2025

 

  • Betrieb & Gewerkschaft

Die Absetzung Dina Boluartes

Ein Erfolg der Protestbewegung?

Im Oktober hat der peruanische Kongress Dina Boluarte, die Präsidentin des Landes, wegen “dauerhafter moralischer Unfähigkeit”1 abgesetzt. Für diesen Schritt hatte es seit dem Beginn ihrer Amtszeit viele Gründe gegeben. Trotzdem war dieser Schritt nun eine Überraschung, schließlich regierte die Mehrheit des Kongresses seit dem Sturz Pedro Castillos2 mittels seiner Marionette Boluarte. So hätte es bis zu den Wahlen im nächsten Jahr weitergehen können.

Das Argument für ihre Absetzung ist nur vorgeschoben. Das zeigt sich an der Person ihres Nachfolgers. Die Abgeordneten ersetzten Boluarte durch den bisherigen Parlamentspräsidenten. Über ihn schrieb der Journalist Américo Zambrano schon im August: “Gegen Jerí wird laut offiziellen Dokumenten der Staatsanwaltschaft in zahlreichen Fällen ermittelt. Darunter befindet sich auch ein Verfahren wegen sexueller Nötigung. Die anderen Ermittlungen bringen ihn laut Berichten der Staatsanwaltschaft mit schweren Straftaten wie Korruption, Bestechung, Einflussnahme, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Urkundenfälschung in Verbindung.”3 Da stellt sich die Frage nach den tatsächlichen Gründen für diesen Schritt.

Zur Erläuterung muss man ein paar Jahre zurück gehen. Die Peruaner hatten sich bei der Wahl 2022 mehrheitlich, sehr viele mit großen Bauchschmerzen, für Pedro Castillo ausgesprochen. Sie wollten keine Rückkehr des Fujimorismus. Deshalb hatte Keiko Fujimori zum dritten Mal die Präsidentschaftswahl verloren. Sie ist eine Repräsentantin der harten Rechten und Tochter des ehemaligen Präsidenten Alberto Fujimori. Er hatte sich in den 1990er Jahren mit einem Putsch gegen sich selbst die absolute Macht gesichert. Auf dieser Basis erhielt das Land eine neue Verfassung, mit der die Erfolge der Massenbewegungen der 1970er Jahre geschleift wurden. Ein darauf aufbauendes neoliberales Schockprogramm krempelte die Wirtschaft und damit das Land um.

Dina Boluarte war von Vladimir Cerrón, Generalsekretär der Partei Peru Libre, als Vizepräsidentin für Pedro Castillo ausgesucht worden. Peru Libre behauptet von sich, eine Partei der “sozialistischen Linken”4 zu sein. Doch ihr Verhalten bestätigt das nicht. Die Partei hatte bei der Wahl 2022 ihre besten Ergebnisse bei der indigenen Landbevölkerung in den Anden und im Süden des Landes. Für den Vizepräsidentschaftskandidaten wurde eine Frau gesucht und mit Boluarte auch gefunden. Cerrón konnte wegen Korruptionsermittlungen nicht selbst antreten. Er ging davon aus, dass es “sein” Paar nicht in den Präsidentenpalast schaffen würde. Es sollte nur das Zugpferd für eine möglichst große Parlamentsfraktion sein. Daher wurde die Bewerberin wohl auch nicht auf Herz und Nieren geprüft. Das sollte sich nach dem Wahlsieg von Castillo rächen.

Im Wahlkampf hatte Boluarte versprochen, sofort zurückzutreten, sollte der Kongress den Präsidenten absetzen. Die Folge wären sofortige Neuwahlen gewesen, bei denen wieder ein Kandidat aus den Reihen des Volkes hätte antreten können. Die Nagelprobe auf ihre Verlässlichkeit erfolgte nach der Absetzung Castillos. Er hatte eine skurrile Ansprache gehalten, die politisch als Versuch eines Selbstputsches gewertet werden muss. Damit wollte er einer Absetzung durch den Kongress zuvor kommen. Doch waren an diesem Versuch keine bewaffneten Kräfte beteiligt. Daher hat er auch nicht gegen das peruanische Recht verstoßen. Dort steht nur die “bewaffnete Erhebung” unter Strafe. Und daher ist seine Verurteilung eine Rechtsbeugung.5 Eine Rache der “Eliten” gegen einen Indigenen, der so unverschämt war, sich zum Präsidenten wählen zu lassen.

Nach dem Sturz Castillos erwartete seine Basis den Rücktritt Boluartes. Doch sie ließ sich als Präsidentin vereidigen. Dagegen gingen die Menschen auf die Straße. Die Demonstranten wurden zu Terroristen erklärt und entsprechend bekämpft. Bis zu 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden daraufhin von Polizei und Militär getötet.6 Die Folge war, dass sich aus Angst niemand mehr zum Protest auf die Straße traute.7 Das heißt aber nicht, dass Präsidentin und Kongress auch nur in einem Teil der Bevölkerung Rückhalt besessen hätten.

Auch wenn Meinungsumfragen immer kritisch zu betrachten sind: die Ergebnisse aus dem Dezember 2022 sind ein Anhaltspunkt dafür, wie die politischen Veränderungen von der Bevölkerung aufgenommen wurden. Danach waren nur 27%8 der Befragten damit einverstanden, dass Boluarte die Präsidentschaft angetreten hat, während 71% das missbilligten. In der gleichen Umfrage lag die Ablehnung der Arbeit des Kongresses bei 80%. Nur 15% waren mit seiner Arbeit einverstanden.

Diese schlechten Werte sind in den fast drei Jahren ihrer Amtszeit noch weiter gesunken. Im September 2025 lag die Zustimmung zur Präsidentin bei sagenhaft niedrigen 3%9, während 93% sie ablehnten. Unwesentlich besser sieht es für den Kongress aus. Er kommt auf eine Zustimmung von 4%.

Die peruanische Realität

In den deutschen Medien finden sich Berichte über Peru meist in den Rubriken Reisen, Gastronomie oder Geschichte. In den politischen Teil schafft es das Land nur bei Staatsbesuchen, Unruhen oder Veränderungen an der Spitze des Landes. Ab und zu geht es auch um die Ermittlungen und Prozesse gegen ehemalige Präsidenten. Dabei legt die Berichterstattung eine Sicht auf das Land nahe, dass es sich um ein armes Land mit ungewöhnlichen Bräuchen handelt. Das Ungewöhnliche sind die Prozesse gegen alle Präsidenten der letzten 30 Jahre. Doch trotz gewisser Probleme mit der Kriminalität, der Korruption und den Menschenrechten befindet sich das Land im richtigen Fahrtwasser. Mit den Worten der Deutschen Welle: “Das südamerikanische Land erlebt eine Phase politischer Instabilität. Aber gleichzeitig erzielt die Wirtschaft erstaunliche Wachstumsraten.”10

Doch das Leben stellt sich für viele Peruaner ganz anders dar. Deshalb soll im Folgenden anhand einiger besonders krasser Beispiele die unglaubliche Situation im Land dargestellt werden. Das kann aber die wahre Lage von Korruption, Kriminalität und Staatsversagen nur unzureichend wiedergeben. Es mag sein, wie einige Peruaner meinen, dass ihre Gesellschaft schon immer eine Neigung zur Korruption aufwies. Diese habe jetzt nur ein ganz neues Niveau erreicht. Doch das ist die Frage. Möglicherweise ist Peru nur ein gutes Stück weiter auf dem Weg, den alle neoliberal organisierten Gesellschaften gehen. Man denke in Deutschland nur an die diversen Maskenaffären der Union, die verschwundenen SMS-Nachrichten von Ursula von der Leyen oder an die Politiker, die Geld aus Aserbaidschan genommen haben. Auch der Skandal um den Kulturstaatsminister Weimer weist in diese Richtung.

Die zahllosen Fälle von Korruption, die in Peru kaum noch jemand überblickt, sollen nur am Rand behandelt werden. Die folgenden Beispiele stammen zumeist aus der Wochenzeitung Hildebrandt en sus Trece (H13) die von dem liberalen Journalisten Cesar Hildebrandt herausgegeben wird. Sie ist eines der wenigen vertrauenswürdigen Medien in Peru.

Im Jahr 2020 hat das Ministerium für Entwicklung und soziale Integration Zahlen über die chronische Unterernährung bei Kindern erhoben. Die Departements in den Anden weisen die höchsten Werte auf. Spitzenreiter ist dabei Huancavelica mit 31,5%.11 Auch Loreto im peruanischen Amazonasgebiet liegt mit 25,2% auf einem Spitzenplatz.

Im März 2023 traf der Wirbelsturm YAKU den nördlichen Teil des Landes. Das führte zu schweren Überschwemmungen mit 69 Toten, auch verloren 10.000 Menschen ihre Habe. Ende März berichtete H13, dass die nationale Wetterbehörde SENAMHI schon seit dem 20. Februar von den kommenden Ereignissen wusste, dies aber verheimlichte. Grund dafür waren Intrigen, mit denen die Institution zum Kauf eines mehrere Millionen Dollar teuren Messgerätes bewegt werden sollte. Die Anordnung, keine Warnung zu veröffentlichen, stammte nach den Erkenntnissen der Zeitung vom Präsidenten des Ministerrates und dem Umweltminister.12

Anfang Oktober des gleichen Jahres berichtete das Blatt über ein Dokument des Militärgeheimdienstes, in dem die Überwachung von kritischen Journalisten unterschiedlicher Medien beantragt wurde. Als Gründe führt der Geheimdienst die “militärische Sicherheit” und die “Schädigung des Ansehens der Institution” auf. Im Fall der Mitarbeiter von H13 hatte den Militärs ein Bericht über die Unterschlagung von Geldern eines Pensionsfonds der Streitkräfte13 nicht gefallen.

Am 29. November 2023 wird der Umweltaktivist Quinto Inuma Alvarado ermordet. Der Sprecher des indigenen Dorfes Santa Rosillo de Yanayacu im Departement San Martín hatte seit 2016 Morddrohungen erhalten. Seine Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft und dem Justizministerium wurden ignoriert. Seine Hinterbliebenen machen Angehörige der eigenen Gemeinschaft für den Mord verantwortlich, die sich illegalen Abholzungen widmen.14

Im April 2024 veröffentlichte H13 einen Report des Obersten der Nationalpolizei (PNP), José Alfaro, dem Chef des Büros Piura des Polizeigeheimdienstes, an seinen Vorgesetzten, General Manuel Farías Zapata. “Die in diesem Bericht … präsentierten Geheimdienstinformationen enthüllen, wie Offiziere und Unteroffiziere an der Grenze in Piura Schlüsselfiguren im organisierten Verbrechen sind, das den Norden Perus heimsucht. … Die Dokumente identifizierten mehrere Polizisten, die Bestechungsgelder von den Drahtziehern illegaler Bergbau- und Schmuggeloperationen an der Grenze zu Ecuador annahmen.”

Wie reagierte General Farías darauf? Zuerst wurde die berufliche Handlungsfreiheit Alfaros eingeschränkt. “Und einen Monat später versetzte ihn der gleiche General Farías von der Geheimdienstarbeit an die Spitze einer Ortspolizei.” Aus Sicht von H13 ein deutliches Zeichen: “Der Kommandant Alfaro hat seine Nase in Sachen gesteckt, wo sie nicht hineingehört.”15 Artikel zum Themenkomplex Kriminalität in den Reihen der Polizei finden sich regelmäßig im Blatt.

Im August 2024 wird gemeldet, dass an der Spitze der Liste von Kliniken, die wegen “schlechter Pflege und Fahrlässigkeit”16 von SuSalud sanktioniert worden sind, private Häuser stehen. Die Zustände in diesen Einrichtungen hatten auch schon zu Todesfällen geführt. SuSalud ist eine selbstständige Behörde, die das Gesundheitssystem des Landes überwacht. Die sanktionierten Kliniken weigern sich nicht nur, die Strafe zu bezahlen, sondern auch die Qualität ihrer Leistungen zu verbessern.

Am Schluss des Berichts wird Mario Ríos zitiert, ein Fachanwalt für Medizinrecht. Er sagt, SuSalud fehle die Macht, die Bußgelder auch durchzusetzen. “SuSalud hat kaum Einflussmöglichkeiten. … Sie müssten viele Kliniken schließen, aber diese Kliniken fordern die Gleichbehandlung mit dem öffentlichen Sektor, so als ob alles nach den Regeln des Marktes funktionieren würde. Schließt man ein Gesundheitszentrum, ist die gesamte Bevölkerung ohne Versorgung. Das ist etwas anderes als bei Privatkliniken in Großstädten, wo es andere Möglichkeiten gibt, eine angemessene Gesundheitsversorgung zu erhalten. Die Bußgelder sollen das Verhalten korrigieren, aber was passiert, wenn nicht gezahlt wird? Die mangelhafte Versorgung bleibt nicht nur bestehen, sondern verschlechtert sich sogar noch.”

In der gleichen Ausgabe wird auch über die desaströsen Zustände im Bildungssystem berichtet. In einer Studie der OECD, bei der die Kenntnisse von 15-jährigen Schülern ermittelt wurden, kam das Land nur auf 23 Punkte von 60 möglichen. “Von den fast 7.000 geprüften Schülern befanden sich 52% in den drei niedrigsten Kategorien des kreativen Denkens.” In Chile befinden sich nur 26% der Schüler in diesem Bereich. Laut der Untersuchung erreichte “in Peru fast kein Schüler hohe Leistungen in Mathematik. In Ländern wie Singapur gehören 41% der Schüler zu dieser Gruppe.”17

Im August 2024 wird auch gemeldet, dass die DIVIAC, die erfolgreichste Polizeieinheit des Landes, aufgelöst werden soll. Der Grund ist ihre professionelle Arbeit ohne Ansehen der Person des Verdächtigen. Sie geht auf Anordnung der Staatsanwaltschaft auch gegen höchste Repräsentanten des Staates, wie etwa die Präsidentin, vor. Einer ihrer Skandale ist der Fall Rolex. Bei einem ihrer öffentlichen Auftritte konnte man an ihrem Handgelenk eine Uhr dieses Herstellers sehen. Diese ist so teuer, dass die Frage aufkam, von welchem Geld sie bezahlt wurde. Ihr Gehalt als Präsidentin und die Deklaration ihres Vermögens bei Amtsantritt lassen dafür keinen Spielraum. Damit stand die Annahme von Schmiergeldzahlungen im Raum. Das löste Ermittlungen aus, in deren Rahmen eine Hausdurchsuchung angeordnet wurde. Sie wurde von der DIVIAC unter der Leitung des Oberst der PNP, Harvey Colchado, durchgeführt. Als Rache wurde zuerst Colchado seines Amtes enthoben und jetzt soll die DIVIAC einer Umorganisation der PNP zum Opfer fallen.18

Im Juli wird gemeldet, dass 14% des BIP von der illegalen Wirtschaft erarbeitet wird. Sie kommt auf einen Umsatz von 33.217 Millionen US-$, was ungefähr 50% des peruanischen Haushalts entspricht. Allein der illegale Bergbau trägt eine Summe von 10.246 Millionen US-$ bei. Die Herstellung und der Handel mit Drogen steht mit 4.741 Millionen US-$ an zweiter Stelle. Da diese wirtschaftlichen Aktivitäten im Untergrund stattfinden, bzw. von den staatlichen Stellen toleriert werden, generieren sie auch keine Steuereinnahmen.19

Im September 2024 erzählt die Journalistin Claudia Blanco die Geschichte von vier jungen Männern aus der Gegend von Cusco, die wegen ihrer Teilnahme an den Protesten 2023 zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden sind. Blanco fasst ihre Recherchen so zusammen: “Die formelle Anklage: Aufruhr und Störung öffentlicher Dienste. Das eigentliche Verbrechen: Sie sind Landwirte und wussten nicht, wie sie sich verteidigen können.”20 Nach dem Lesen ihrer Leidensgeschichte fragt man sich, ob den linken Gruppen in Cusco diese Menschen, teilweise Analphabeten bzw. Personen mit nur wenigen Jahren Dorfschulbildung, egal sind. Hilfe haben sie von dieser Seite offenbar nicht erhalten.

Im Dezember schreibt Bruno Amoretti über den rasanten Anstieg der Emigration. Im Schnitt lag die jährliche Zahl der Auswanderer bei 100.000 Menschen, in den Jahren 2022 und 2023 hatten sich die Zahlen mit 274.177 bzw. 302.750 Personen mehr als verdoppelt. Bei nur einem kleinen Teil davon handelt es sich um Fachleute. Die Soziologin Ivonne Valencia ordnet dies so ein: “Die Abwanderung hochqualifizierter Fachkräfte ist nur ein Schlagwort. Das ist nicht das Wichtigste für die Mehrheit der Migranten. Das Wichtigste ist die wirtschaftliche Lage. Sie arbeiten, wo und wie sie können.”21 Die befragten Spezialisten sind sich einig, dass dieser Exodus nicht nur eine Antwort auf die politische Krise des Landes ist, sondern eine Krise des Vertrauens in die Zukunft des Landes darstellt.

Wie um das zu bestätigen, stürzte im Februar 2025 das Dach über dem Gaststättenbereich des Einkaufszentrums Real Plaza in Trujillo ein. Dabei starben sechs Menschen, über 80 wurden verletzt. Dieses Unglück hätte verhindert werden können. Drei Ingenieuren, von der Stadt Trujillo mit der Inspektion des Gebäudes beauftragt, wurde von der Leitung der Mall der Zugang zum Dach verwehrt. An ihrer Seite hatten sie sechs Anwälte, um die Inspektoren einzuschüchtern.22 Trotzdem nahmen sie Unregelmäßigkeiten wahr, die hätten abgestellt werden müssen. Zur nächsten Inspektion schickte die Stadtverwaltung ein anderes Team, welches die Freigabe erteilte.

Im April wird eine Untersuchung bekannt, nach der das Leitungswasser in vielen Teilen des Landes, auch in einigen Stadtteilen von Lima, gesundheitsgefährdend ist. Es ist nicht ausreichend gechlort und kommt mit Bakterien, Parasiten und Fäkalien zum Verbraucher. In den Departements kommen zum Teil weitere Probleme, wie etwa eine Belastung mit Schwermetallen, dazu.23

Im gleichen Heft wird über das Urteil eines Richters in Arequipa berichtet, der einer 16- Jährigen und ihrer Mutter unter Strafandrohung verbietet, abzutreiben. Dabei setzte er sich sowohl über peruanisches als auch internationales Recht zum Schutz der Kinder hinweg. Das Urteil wurde auf Antrag des inzwischen 18-jährigen Vaters erlassen. Dabei wurde nicht einmal geprüft, wie seine sexuelle Beziehung zu der Jugendlichen ausgesehen hat und ob er sich damit strafbar gemacht hat[[https://elbuho.pe/2025/04/arequipa-fallo-judicial-que-protege-a-bebe-en-gestacion-tiene-graves-omisiones-segun-abogada/]. Im Jahr 2021 brachten 1.437 Mädchen im Alter von 14 Jahren oder jünger Kinder zur Welt. “Alle diese Fälle sind das Ergebnis sexuellen Missbrauchs, da sexuelle Beziehungen mit Minderjährigen laut Strafgesetzbuch eine Straftat darstellen.”24 Doch über eine strafrechtliche Verfolgung der Väter finden sich keine Berichte. Dagegen wird den Mädchen ihr Recht auf einen therapeutischen Schwangerschaftsabbruch verwehrt.

Im August wird über ein Paket einer privaten Krankenversicherung berichtet, das verspricht, alle Kosten einer Krebsbehandlung zu bezahlen. Doch das tut sie nicht. Obwohl sie gesetzlich dazu verpflichtet ist, hat sie sich in vielen Fällen geweigert, für die Kosten von teuren Medikamenten aufzukommen. Das führte zu einigen Todesfällen.25

Zum zweite Mal in diesem Jahr berichtet H13 über peruanische Gefallene im Ukrainekrieg.26 Auch wenn dem einen oder anderen sein Hang zum Soldatischen zum Verhängnis geworden ist, setzen die meisten doch aus ökonomischen Gründen ihr Leben aufs Spiel.27 In einem Land mit einem Mindestlohn von ca. 290 Euro28 ist ein Sold von bis zu 4.500 US-$ im Kampfgebiet doch zu verlockend. Mindestens zehn Peruaner sind inzwischen dort gefallen.

Der Kongress

Nachdem der Kongress mit der Einsetzung Boluartes die Macht im Lande übernommen hatte, ging er daran, sich die wichtigsten staatlichen Einrichtungen zu unterwerfen. Damit ist gemeint, dass die rechte Mehrheit, zu der auch die Reste der von Vladimir Cerrón geführte Fraktion von Peru Libre gehört, die Leitungspositionen dieser Institutionen mit ihren Leuten besetzt hat. Ähnlich der Art und Weise, wie die Republikaner in den USA das oberste Gericht in ihre Hand gebracht haben.

Die Inbesitznahme des höchsten Gerichts hatte die peruanische Rechte schon wenige Tage vor dem Amtsantritt von Pedro Castillo, noch mit den alten Mehrheiten, durchgezogen.29 Das Ergebnis zeigte sich im März 2023 in einem Urteil des Verfassungsgerichts. Der Journalist Eloy Marchán schreibt: “Die Richter des Verfassungsgerichts haben der demokratischen Ordnung einen Tritt versetzt und das Parlament in eine allmächtige Institution mit umfassender Macht verwandelt, die außerhalb der Grenzen der Justiz agiert. Um die Arbeit abzuschließen, lieferten die sieben Richter dem Kongress eine Art Dumdumgeschoss und liquidierten damit faktisch die Unabhängigkeit der Wahlbehörden.”30 Cecilia Méndez, Professorin an der Universität von Kalifornien, ordnet die Entscheidung so ein: “Es gibt einen totalitären Drang. Das deutlichste Beispiel dafür sind die jüngsten Urteile des Verfassungsgerichts. Wie lässt sich ein Regierungssystem bezeichnen, in dem die Gewaltenteilung nicht mehr existiert? Kongress, Exekutive, Verfassungsgericht und das Militär haben ein Bündnis geschlossen, missachten den Rechtsstaat und verwenden die Justiz als politisches Instrument.”31

Nach dem letzten Urnengang versuchte die Rechte, die Wahl annullieren zu lassen. Doch hatten sich weder die Wahlbehörde noch die Gerichte den Vorwurf der Wahlfälschung zu eigen gemacht. So konnte Castillo das Präsidentenamt antreten. In Zukunft wird ein Kandidat des Volkes nach seiner Wahl nicht mehr so einfach in den Präsidentenpalast einziehen können.

Es gibt in Peru so viele skandalöse Vorfälle, dass nicht über alle in einem Text berichtet werden kann. Hinsichtlich des Kongresses sollen zwei Perlen Erwähnung finden. Dass er auch ein Gesetz zu Gunsten der Organisierten Kriminalität verabschiedet hat, sei nur am Rande erwähnt.32 Eine tödliche Wirkung, im wahrsten Sinne des Wortes, hat die Legalisierung aller bisher illegalen Waffen.

Ende 2024 berichten die Medien über ein Netzwerk von Prostituierten im Kongress. Danach hat Jorge Torres, der Chef des Rechts- und Verfassungsbüros, junge Frauen angestellt, die keine den Aufgaben entsprechenden Qualifikationen nachweisen konnten. “Nach ihrer Einstellung wurden sie aufgefordert, sich zu prostituieren, und wenn sie das Angebot nicht annahmen, wurden sie entlassen.”33

“Ebenso erwähnt eine Informantin auch den Fall einer vom Kongress angestellten Anwältin, sie wurde entlassen, weil sie Torres’ Angebot abgelehnt hatte. »Sie erzählte mir den Grund, warum sie das Haus verlässt. Torres Saravia hatte sie gebeten, ihm einen Gefallen zu tun … im Grunde sollte sie mit jemandem schlafen, im Austausch für etwas, das ihm nützte.«”34 Die Gefälligkeit, um die es dabei gegangen sein könnte, ist das Abstimmungsverhalten von Abgeordneten.35

Dazu passt, dass am 10. Dezember 2024 Andrea Vidal ermordet wird. Sie soll die Frauen ausgesucht haben, die für diese Tätigkeit angestellt wurden. Damit hätte sie eine wichtige Zeugin sein können. Die Täter kannten sich am Tatort offensichtlich sehr gut aus. Den Bericht über die Ermittlungen betitelte H13 mit “Perfektes Verbrechen”.36 Gleichzeitig konstatiert das Blatt eine große Inkompetenz bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Nun, ist die echt oder wird sie nur gespielt, um die Täter und Hintermänner zu schützen?

Mochasueldo

Unter Mochasueldo bezeichnet man in Peru das Verhalten von Abgeordneten, einen Teil des Gehaltes ihrer parlamentarischen Mitarbeiter einzufordern. Wenn sie dem nicht Folge leisten, droht die Entlassung. Der erste Fall ist schon 2013 an die Öffentlichkeit gelangt. Doch erst 2024 ist der ehemalige Abgeordnete einer rechten Partei, Michael Urtecho, zu etwas mehr als 22 Jahren Haft verurteilt worden.37

Doch in der Regel werden die betreffenden Abgeordneten geschützt. So berichtet H13 im gleichen Jahr, dass die Unterkommission für Verfassungsrechtliche Anklagen 187 derartige Fälle archiviert hat. Darunter auch solche der “schamlosesten Mochasueldos”. Doch werden hierbei Ausnahmen gemacht. Von diesen “Freisprüchen” wurde María Cordero von Fuerza Popular ausgenommen. Sie ist in Ungnade gefallen, da sie in einem Gespräch mit ihrer Parteivorsitzenden, Keiko Fujimori, gelogen hat.38

Auch mehr oder weniger linke Abgeordnete werden nicht geschont. So sieht sich María Agüero von Peru Libre mit solchen Vorwürfen konfrontiert. Sie weist sie umstandslos zurück.“Früher oder später wird die Wahrheit herauskommen […] Ich überweise Geld von meinem Konto (Gemeint sind anscheinend Spenden an ihre Partei) und ich habe die Freiheit, es zu tun. Aber ich beziehe nicht einen Cent, von niemandem.”39 Bei ihr wurden das erste Mal bei diesem Delikt ihre Wohnungen und das Abgeordnetenbüro durchsucht und die Ethikkommission empfahl ihren Ausschluss aus dem Parlamentsbetrieb für 120 Tage.

Möglicherweise hat einer ihrer engsten Mitarbeiter auf eigene Rechnung Geld eingefordert. Gegen ihn hat die Staatsanwaltschaft einen internationalen Haftbefehl erlassen. Im September 2025 wurde er in Madrid festgenommen.40

Schutzgelderpressungen

Eine große Gefahr für das Leben der Peruaner sind die um sich greifenden Schutzgelderpressungen. Prominente Beispiele sind der Tod des Sängers Paul Flores von Armonía 10 und der Anschlag auf ein Konzert der Band Agua Marina, bei dem vier Musiker und ein Verkäufer verletzt wurden.41

Wenige Minuten nach dem Anschlag auf den Tourbus von Armonía 10 meldeten sich die Schutzgelderpresser bei einem Manager der Band: “Hier die pragmatische und direkte Antwort: Ihr habt den Dialog abgebrochen, und das sind die Konsequenzen … Ihr wollt Blut sehen, ihr werdet es bekommen.”42

Nach diesen Angriffen auf die bekanntesten Bands der peruanischen Cumbia fasst die Journalistin Shanna Taco Loaiza die Stimmung unter den Musikern so zusammen: “Sie haben Angst, betreten nur mit kugelsicheren Westen die Bühne, formulieren Anzeigen, um die sich die Polizei nicht kümmert.”43

Doch nicht nur Bands werden unter Druck gesetzt. Im März dieses Jahres berichtet Alonso Zambrano über Drohungen gegen Privatschulen. Es wird angekündigt, Lehrer und Schüler zu töten, wenn nicht ein hohes Schutzgeld gezahlt wird. Diese Botschaften werden entsprechend vorgetragen. Am 17. Februar wurde von einer Schule in Comas, einem Stadtteil von Lima, 50.000 Soles, ca. 12.500 Euro, gefordert. Einige Tage später explodierte am Eingang eine Bombe. Das sind nicht die Schulen der finanziellen Elite, es handelt sich um Institutionen in Vierteln der normalen Bevölkerung. Hier leben Menschen mit moderaten Einkommen, wo der Haushaltsvorstand einen sicheren Arbeitsplatz hat. An die wirklich Reichen trauen sich die Erpresser nicht heran. Dort würde die Polizei sofort aktiv werden. Die Menschen in diesen Vierteln sind dem herrschenden Block egal. Als dem damaligen Bildungsminister Morgan Quero ein Umschlag mit Drohbriefen überreicht wurde, war er nicht einmal bereit, ihn zu öffnen.44

Aber im Zentrum der Gefahr stehen die Beschäftigten und Fahrgäste des öffentlichen Personennahverkehrs. Als Beispiel soll ein Zitat aus dem Bericht von Julio Rospigliosi dienen. “Jedes Mal, wenn sie ein Sammeltaxi besteigt, kann Christina Ayala (55) nicht verhindern, sich an die Ermordung ihres Enkels Antuan zu erinnern. Der Kleine wurde, mit 6 Jahren, am 16. Mai Opfer eines Auftragsmörders. Am Tag der Tragödie schoss ein bezahlter Mörder auf den Chauffeur des Fahrzeugs, in dem sich ihr Enkel befand. Der Mann überlebte den Angriff, aber eine Kugel traf das Kind tödlich, das direkt hinter dem Fahrer saß.”45 In dieser Reportage finden sich weitere vergleichbare Fälle.

Aber das Ziel sind natürlich die Beschäftigten der Transportunternehmen. So meldete die spanische Zeitung El Pais Anfang November aus Peru: “Fast 70 Busfahrer wurden seit Januar ermordet, weil sie kein Schutzgeld an die Mafia zahlten.” Diese Zustände hatten schon im Vorjahr die ersten Proteste ausgelöst. So beginnen 2024 Streiks von Transportunternehmen, die Lima und Callao lahmlegen. Sie forderten von der Regierung “Maßnahmen für den Schutz der Fahrer, Fahrkartenverkäufer und Fahrgäste.”46

Doch die Regierung, damals noch unter Boluarte, kümmerte sich nicht darum bzw. verhängte über Teile Limas den Ausnahmezustand. Doch das ändert nichts. Die jetzt auf die Straßen geschickten Soldaten sind nicht in der Lage, die kriminellen Netzwerke zu ermitteln.

Die Tageszeitung La Republica berichtet über eine Reaktion von Seiten der Regierung. Freddy Hinojosa, der Sprecher des Büros der Präsidentin, meint, “dass der Streik aus »politischen Interessen« durchgeführt wird, die darauf abzielen, »den institutionellen Rahmen zu beeinträchtigen und unser Land daran zu hindern, sich weiterhin im demokratischen und verfassungsmäßigen Rahmen zu bewegen«.”47

Die Streiks des Transportgewerbes werden regelmäßig wiederholt. Man kann aber nicht erkennen, dass die Verantwortlichen tatsächlich etwas unternehmen. Ganz im Gegenteil! Mit der Legalisierung der illegalen Waffen erhielten die Auftragsmörder das Recht, ihre Arbeitsgeräte legal zu besitzen.

Der Austausch des Präsidenten

In diesem Umfeld bereiten sich alle Parteien auf die Wahlen im nächsten Jahr vor. Die rechte bis rechtsradikale Partei Avanza País bestimmte Phillip Butters als ihren Kandidaten. Der Radio- und Fernsehjournalist startete eine vorgezogene Wahlkampftour durch das Land.48 Eine seiner Stationen war am 8. Oktober Juliaca. In einem Gespräch mit dem lokalen Radio La Decana kam auch eine Aussage aus seinem Programm Combutters zur Sprache. Dort hatte er im Dezember 2022 hinsichtlich der Demonstrationen gegen Boluarte gefragt: “Warum wurde diesen Männern nicht in den Kopf geschossen? Kann mir das jemand erklären?”49 50 Am 9. Januar wurde seinem Wunsch entsprochen, in Juliaca wurden 18 Demonstranten erschossen. Im live gesendeten Interview verteidigte er seine Forderung mit der Behauptung, “weil es Leute gab, die subversive Akte begingen”.51

Das empörte die Bürger Juliacas. Spontan versammelten sie sich um das Gebäude mit dem Ziel, ihn aus der Stadt rauszuwerfen. Nach dem Interview versteckte er sich eineinhalb Stunden in einem Büro. Er soll gezittert haben und konnte nicht einmal sein Handy bedienen. Er traute sich erst heraus, nachdem 40 Polizisten eingetroffen waren. Sie verpassten ihm einen Polizeihelm und schützten ihn mit ihren Schilden. *”

“Er durchquerte eine dreihundert Meter lange dunkle Gasse. Nachbarn bewarfen ihn mit Steinen, Eiern, Stöcken, Wasser und anderen Gegenständen. Phillip Butters musste sich an einem Polizisten festhalten. Er konnte nicht mehr laufen und rang nach Luft. (Das muss aber keine Folge des Protestes gewesen sein. Als Küstenbewohner hatte er auf 3.800 m wohl die Höhenkrankheit.) Schließlich gelang ihm die Flucht in einem Polizeiwagen.”52

Die Stimmung in der Bevölkerung bringt eine Erklärung von Samillan Sanga, dem Präsidenten der Vereinigung der Opfer des 9. Januar, zum Ausdruck: “Wie kann es sein, dass dieser Mann, nachdem er uns zu Terroristen erklärt hat, nach Puno kommt und wiederholt, dass es hier terroristische Akte gab. Er verwendet stillschweigend dieselben Argumente wie die Regierung, verharmlost aber gleichzeitig die Tatsache, dass unsere Angehörigen getötet wurden. Was bildet sich dieser Mann eigentlich ein? Wir wollen ihn hier nicht haben. Wir werden nicht ruhen, bis er geht. Sie halten uns für dumm. Er muss verschwinden. Wir wollen niemanden von der Rechten.”53

Jetzt ging alles ganz schnell. An Tag danach stellten verschiedene Fraktionen Anträge zur Amtsenthebung Boluartes. Der politische Umschwung fand in einem Klima der Empörung über den Anschlag auf Armonía 10 statt. Aber der wahre Grund dürften die Ereignisse in Juliaca gewesen sein. Ein parlamentarischer Berater der Rechten erklärte H13: “Man muss sich von Dina trennen, wenn wir überleben wollen.”54 In Juliaca wurden die trockenen Zahlen der Meinungsforschungsinstitute erlebbar.

Als neuer Präsident wurde José Jerí eingesetzt. Die Ermittlungen, die gegen ihn laufen, zeigen, dass sich mit ihm nichts ändern wird. In den letzten Wochen von Boluartes Amtszeit meldete sich die Generation Z auf der Straße zu Wort. “Wir wollen kein Land in Ruinen erben, ich gehe auf die Straße, weil ich Peru nicht verlassen will, weil ich ein Land möchte, wo wir ruhig leben können.”55 So erklärt Cielo Castillo, eine 18-jährige Jurastudentin, ihre Teilnahme an den Protesten. Diese wurden auch unter dem neuen Präsidenten fortgesetzt.

Am 15. Oktober, wenige Tage nach dem Amtswechsel, fand wieder eine Demonstration der Generation Z statt. Als sie schon in Auflösung war, wurden drei Polizisten in Zivil enttarnt. Sie liefen weg, einer fiel hin, drehte sich um und schoss. Getroffen wurde ein Demonstrant, der ihnen aber nicht gefolgt war. Dabei handelte es sich um Trvko, einen in der Musikszene von Lima bekannten Rapper. Der 32 Jahre alte Vater eines 10- jährigen Jungen starb noch vor der Ankunft im Krankenhaus.56

In einer ersten Reaktion behauptete die PNP, dass er von einem anderen Demonstranten hingerichtet worden wäre. Später räumte der Polizeichef ein, dass ein Unteroffizier den Schuss abgegeben hat.57 Der General Óscar Arriola entschuldigte sich sogar dafür. Doch der Innenminister widersprach ihm, trotz des sich im Netz verbreitenden Videos einer Überwachungskamera. “Er mag es gesagt haben, ich weiß nicht, in welchem ​Kontext. Tatsache ist, dass wir die Angelegenheit untersuchen. Bis jetzt können wir uns noch nicht festlegen.”58

Einige Tage später ruderte der General zurück und bezeichnete den Schützen als Helden.59 Zwar nicht im Zusammenhang mit dieser Tat, aber nun besteht auch er auf einer unabhängigen Aufklärung. Währenddessen nennt der Präsident des Kongresses Trvko einen Terroristen.60 So begann die Amtszeit Boluartes. Ein Erfolg der Bevölkerung ist das nicht.

Emil Berger

 

1 https://rpp.pe/politica/congreso/dina-boluarte-congreso-aprueba-la-vacancia-presidencial-noticia-1658798

2 Siehe die Ausgaben Nr. 219, 220 und 221 der ARSTI

3 Prontuario de un presunto violador. in Hildebrandt en sus trece, 1.08.2025

4 http://perulibre.pe/wp-content/uploads/2020/03/ideario-peru-libre.pdf

5 https://redaccion.lamula.pe/2025/11/27/la-sentencia-contra-castillo-pertenece-al-libro-de-la-histeria-penal-benji-espinoza/jorgepaucar/

6 https://www.amnesty.org/en/location/americas/south-america/peru/report-peru/

7 Contramarcha. H13 05.07.2024

8 https://estudiosdeopinion.iep.org.pe/wp-content/uploads/2022/01/Informe-IEP-OP-Diciembre-2022-completo.pdf

9 https://estudiosdeopinion.iep.org.pe/wp-content/uploads/2025/09/IEP-Informe-de-opinion-septiembre-2025-informe-completo.pdf

10 https://www.dw.com/de/perus-kleines-wirtschaftswunder/a-70408392

11 Hambre. H13 22.04.2022

12 Tormenta en el Senamhi. H13 31.03.2023

13 ¡Nos siguen! H13 06.10.2023

14 Quinto: no matar. H13 08.12.2023

15 Policías (y ladrones) H13 08.03.2024

16 Cuidados intensivos. H13 28.06.2024

17 PISAdos. H13 28.06.2024

18 Liquidan a la DIVIAC. H13 28.06.2024

19 En banco y negro. H13 05.07.2024

20 Criminalizando la protesta. H13 13.09.2024

21 Fugas del Hambre. H13 06.12.2024

22 Fue un crimen. H13 28.02.2025

23 Mal agua. H13 18.04.2025

24 https://rpp.pe/peru/actualidad/unfpa-cada-dia-4-ninas-de-10-a-14-anos-se-convierten-en-madres-en-peru-noticia-1507530

25 Como el cangrejo. H13 15.08.2025

26 Carne de cañón. 21.11.2025

27 Otra bandera. H13 06.06.2025

28 https://elcomercio.pe/respuestas/trends/nuevo-sueldo-minimo-en-peru-ya-esta-vigente-cuanto-es-el-monto-actual-rmv-2025-tdpe-noticia/

29 El TC como botín. H13 02.07.2021

30 Dictadura en marcha. H13 03.03.2023

31 Ebenda

32 Crimen S.A. H13 18.04.2025

33 https://larepublica.pe/politica/2024/12/13/denuncian-a-jefe-de-oficina-legal-del-congreso-por-presunto-proxenetismo-en-el-legislativo-y-violacion-sexual-649194

34 Ebenda

35 https://www.youtube.com/watch?v=7XEk35PHLNc

36 Crimen perfecto. H13 21.03.2025

37 https://elbuho.pe/2024/11/se-fugo-ordenan-captura-de-michael-urtecho-por-mochasueldo/

38 Lavandería Lady SAC. H13 29.03.2024

39 https://www.exitosanoticias.pe/politica/maria-agero-posible-suspension-mochasueldo-no-percibo-ni-centavo-nadie-n151396

40 https://elbuho.pe/2025/09/detienen-en-espana-a-exasesor-de-la-congresista-maria-aguero-por-caso-mochasueldos/

41 https://www.latercera.com/tendencias/noticia/que-se-sabe-del-tiroteo-en-el-show-de-agua-marina-una-banda-de-cumbia-de-peru/

42 Armonía Muerte. H13 21.03.2025

43 Parando la orquesta. H13 31.10.2025

44 Terror en las Aulas. H13 28.03.2025

45 Pistas del crimen. H13 20.06.2025

46 https://larepublica.pe/sociedad/2024/10/07/cerca-de-400-empresas-acataran-paro-de-transportistas-este-10-de-octubre-fechas-distritos-afectados-exigencias-y-quienes-participaran-502691

47 Ebenda

48 https://elbuho.pe/2025/07/phillip-butters-inicia-su-camino-presidencial-llega-a-trujillo-para-inaugurar-locales-de-avanza-pais/

49 https://larepublica.pe/politica/2025/10/08/phillip-butters-aseguro-que-hubo-actos-subversivos-en-puno-y-punenos-lo-corrieron-de-juliaca-hnews-420832

50 https://larepublica.pe/politica/2025/10/08/deudos-de-fallecidos-en-protestas-contra-dina-boluarte-rechazan-a-phillip-butters-nos-llamo-terroristas-y-ahora-viene-a-puno-hnews-85696

51 Ebenda

52 Ebenda

53 Ebenda

54 Botada por quienes la usaron. H13 10.10.2025

55 Los Z. H13 03.10.2025

56 https://elpais.com/america/2025-10-16/el-rapero-eduardo-ruiz-saenz-primera-victima-de-la-represion-del-gobierno-interino-de-peru.html

57 https://www.elciudadano.com/portada/protestas-en-peru-jefe-de-la-policia-admite-que-suboficial-disparo-el-tiro-que-mato-a-joven-rapero/10/17/?utm_source=elciudadanocom&utm_medium=referral&utm_campaign=related_jp_recomendados

58 https://elbuho.pe/2025/10/mientras-oscar-arriola-aseguro-que-policia-luis-magallanes-asesino-a-manifestante-vicente-tuburcio-no-lo-afirma/

59 https://elbuho.pe/2025/10/oscar-arriola-ahora-llama-heroe-a-policia-que-disparo-a-truko-video/

60 https://www.infobae.com/peru/2025/10/20/fernando-rospigliosi-califica-de-terruco-a-fallecido-eduardo-ruiz-sanz-y-pide-liberar-a-suboficial-luis-magallanes/

Leserbrief zur Rezension

"Karuscheits Trilogie zur neueren deutschen Geschichte -Teil 1: Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs"

in Arbeiterstimme 229, Herbst 2025

Im Folgenden geht es mir neben den Kernpunkten des Arsti-Artikels auch um Positionen von Heiner Karuscheit, die ich aus "Deutschland 1914. Vom Klassenkompromiss zum Krieg" und anderen Schriften kenne, insbesondere "Aufsätze zur Diskussion - Kommunistische Debatte" (AzD), deren Mitherausgeber er ist. Zu denen, die ich in diesem Zusammenhang nicht teile, gehören m. E. folgende: 1. Seiner Ansicht nach sei das Kaiserreich von 1871 bis 1918 noch ein "vorbürgerlicher" Staat bzw. ebensolche Gesellschaftsordnung gewesen; 2. die damalige sozialistische/kommunistische Linke habe den strategischen Fehler gemacht, auf eine sozialistische Revolution zu drängen, anstatt sich mit dem zu begnügen, was auf der Tagesordnung gestanden habe, nämlich der Transformation in eine bürgerliche Republik, und habe dadurch das Bürgertum verprellt und gegen sich aufgebracht; 3. wer daran festhalte, dass es 1918/1919 eine Chance gegeben habe, um eine sozialistische Revolution zu kämpfen, verlängere vergangene Niederlagen der Arbeiterbewegung in die Gegenwart (damit meint er übrigens auch den Artikel "Eine Revolution der Arbeiterklasse, die in der bürgerlichen Konterrevolution endete" in der "Arbeiterstimme" Nr. 204, Sommer 2019).

Aus dem, was der Autor des genannten Artikels in der Arbeiterstimme 229 schreibt, ist zu schließen, dass er sich dieser Argumentation anschließt.

Der Vorspann der Redaktion bringt die Problematik bereits auf den Punkt, ohne eine definitive Aussage dazu zu machen. Es steht die Frage, ob das Kaiserreich ein bürgerlicher Staat gewesen ist. "Die Junker", so die Redaktion, "seien zwar überproportional einflussreich gewesen, aber nicht die herrschende Klasse in diesem Staat und zu dieser Zeit." Die Diskussion solle damit aber keineswegs abgeschlossen sein.

Warum eigentlich muss die Frage - "bürgerlich" oder "vorbürgerlich" - so apodiktisch entschieden werden? Karuscheit als Historiker möchte eine eindeutige Zäsur festlegen: Erst wenn das Bürgertum (d. h. der Kapitalismus) in Staat und Gesellschaft eindeutig bestimmt, ist es ein "bürgerlicher" Staat. Dem halte ich entgegen: Geschichte ist keine schematische Abfolge von Standbildern, sondern ein fließender Prozess. Sehen wir uns das bei Marx an: " In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. ... Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um."

Es ist also das Verhältnis von Basis und Überbau, dessen Prozess eine eindeutige Zäsur verhindert. Gesellschaftliche Modelle, die die marxistische Wissenschaft uns bereitstellt, müssen in der Praxis angewandt und verifiziert werden. Um das hier abzukürzen: Die ökonomische Basis des Kaiserreichs war weit überwiegend kapitalistisch. Im Überbau aber sah es nicht so glatt aus. Die Redaktion bezweifelt in ihrer Vorbemerkung, dass das Junkertum die herrschende Klasse gewesen sei. Ich sage dazu: Das Eine schließt das Andere nicht aus. Das Kaiserreich hatte zwei herrschende Klassen, die jeweils unterschiedliche Sozialstrukturen, Ausbeutungsweisen, Produktionsziele, Mentalitäten, Traditionen usw. hatten. Wer nun sagt, das seien nur Fraktionen einer herrschenden Klasse, hat meinetwegen auch Recht, wenn er/sie jedenfalls die Fakten gelten lässt.

Dies bedeutet etwa: Die (industrielle) Bourgeoisie war etwa so kapitalistisch, wie wir das kennen. Das Junkertum beruhte teilweise auf feudalständischen Prinzipien (weniger juristisch als vielmehr traditionell), produzierte teilweise noch mit (semi-)feudalen Methoden in der großagrarischen Landwirtschaft, aber auch für den kapitalistischen Weltmarkt und auch mit Investitionen in die kapitalistische Industrieproduktion. In Staat und Gesellschaft beruhte sein Gewicht auf politischen Privilegien (Dreiklassenwahlrecht und adliges Oberhaus in Preußen, ähnliches in anderen Bundesstaaten), dominierenden Positionen in Militär, Verwaltung, Bildung, während das Bürgertum seine Domäne in der Justiz hatte und im Übrigen seinen Lebensstil nach den Gebräuchen des Junkertums auszurichten versuchte. Dennoch stellen Historiker:innen - marxistische wie bürgerliche - weitgehend übereinstimmend fest, dass das Junkertum sich ökonomisch auf dem absteigenden Ast befand (objektiv) und daraus eine große Sorge vor sozialem Abstieg und letzten Endes Verlust der sozialen Privilegien als politisch herrschende Klasse und Schicht (subjektiv) empfand.

Weshalb band sich das Bürgertum dennoch politisch an dieses historisch überlebte Junkertum? Auch hier nur eine kurze Antwort: Es war ein Klassenkompromiss, der in der 1848er Revolution geschlossen wurde aus Sorge vor der Arbeiterklasse, deren politische Organisierung damals begann. Daran schließt sich an, welche Interessen Junkertum und Bourgeoisie hatten, und diese Frage führt auch dahin, welche Interessen den Ersten Weltkrieg auslösten. Hier ist in Übereinstimmung mit Karuscheit die Antwort des Autors des Arsti-Artikels, dass die Lenin'sche Imperialismustheorie uns nicht weiterhilft. Das klassische, außenpolitische Motiv der Industriebourgeoisie, nämlich die imperialistische Aufteilung, sei nicht der Kriegsgrund gewesen, sondern die innen- und sozialpolitische Angst des Junkertums vor dem Abstieg bzw. dem Verlust der sozialen Existenz. Einmal mehr schüttet der Arsti-Autor (im Verbund mit Karuscheit) das Kind mit dem Bade aus. Auch hier gilt wieder: Das Eine schließt das Andere nicht aus. Die Industriebourgeoisie und das spätfeudale Junkertum - beide herrschenden Klassen hatten ihr jeweiliges Interesse, das sie voneinander unterschied, aber sie vereinigte in der Furcht vor der sozialen Revolte der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen in Partei und Gewerkschaften.

Der Erste Weltkrieg entstand aus beidem: dem Bestreben nach Neuaufteilung der Welt (man nehme als Beispiele die Verständigung mit Großbritannien über die - dann nicht erfolgte - Aufteilung der portugiesischen Kolonien, die Bagdadbahn durch das Gebiet des Osmanischen Reiches, beides kurz vor Ausbruch des Krieges) einerseits, die Angst vor innenpolitischen Veränderungen andererseits. Man nehme die Interessenkonflikte bzgl. der Finanzreform von 1909 oder beim verhinderten Ausbau des Mittellandkanals bis zur Nordseeküste bei Emden. Man nehme die seltsam getrennte Militärstruktur: Das Landheer war "feudal" strukturiert, besonders in den oberen Schichten der Generalität war der Adel absolut dominant; die Marine dagegen, mit der ein Anspruch auf weltweite Präsenz angestrebt wurde, war "bürgerlich". Beide Teilstreitkräfte machten ihre Kriegsplanungen so, dass die eine nichts von der anderen wahrnahm. Trotzdem hatten beide Klassen ein letztlich gleichgerichtetes Interessenbündnis. Typischerweise war der Anlass (nicht der wirklich zentrale Grund) des Weltkriegs ein "feudaler": der Mord an dem österreichischen Thronfolger.

Deutschland ging nicht, wie der Arsti-Autor im Anschluss an Karuscheit meint, "ohne Kriegsziele in den Kampf". Ziele im oben dargestellten Sinne gab es schon. Ein definitives Kriegszielprogramm wurde freilich erst (und nur auf West- und Mitteleuropa bezogen) im September 1914 formuliert, wie Fritz Fischer in den 1960er Jahren mit Hilfe der Sowjetunion und der DDR aufdecken konnte: das berühmte Septemberprogramm.

So weit, so gut. Dennoch war die Basis des Kaiserreiches "bürgerlich", während der Überbau weitgehend in "feudaler" Tradition verhaftet blieb. Die Novemberrevolution war tatsächlich (soweit ist Karuscheit zuzustimmen, aber anders, als er es versteht) keine soziale Revolution. Die bürgerlichen Revolutionäre übernahmen lediglich gewissermaßen das politische Management einer Gesellschaft, die ökonomisch bereits weitgehend nach ihren Maßstäben funktionierte.

Zu dem "Fehler", dass die spartakistische Linke auf die "falsche", nämlich sozialistische Revolution gedrängt habe, weiß Karuscheit in seiner rückblickenden "Weisheit" ihr das anzukreiden. Als Historiker müsste er wissen, dass es keinen Sinn macht, die Geschichte auf diese Weise revidieren zu wollen. Laut Marx machen die Menschen ihre Geschichte zwar selbst, aber nicht aus freien Stücken, sondern unter vorgefundenen Bedingungen. Rosa Luxemburg kehrte diese wahre Erkenntnis in ebenso richtiger Weise um: Wir machen sie unter vorgefundenen Bedingungen, aber wir machen sie selbst. Die damals Handelnden, von Liebknecht und Luxemburg bis zu den einfachen, uns namentlich unbekannten Kämpfer:innen, taten, was sie in ihrer durch die Politik der Herrschenden verursachten Lage für richtig hielten: Sie versuchten die Revolution. Was dabei herauskam, war nicht die Erfüllung ihrer Hoffnungen und Absichten einer neuen Gesellschaftsordnung, aber dieses: Sie sorgten für das zentrale Ergebnis der Novemberrevolution, das sie in der Hand hatten, nämlich die Verselbständigung der kommunistischen Bewegung.

Rosa Luxemburg sprach von der "Gluthitze der Revolution". Wie hätte sich in diesen hin- und herwogenden Kämpfen eine langfristig möglicherweise abstrakt logische Strategie (im Sinne des geruhsam am Schreibtisch philosophierenden Intellektuellen) durchsetzen können? Wie hätte die revolutionäre Linke mit einer begrenzten Losung der "demokratischen Volksrevolution" eine Mehrheit der Arbeiterklasse hinter sich versammeln können, ohne damit schlicht der USPD-Führung das Feld zu überlassen, die nichts tat, um die Forderung nach dem Rätesystem zu unterstützen, und die ihrerseits nach dem Reichsrätekongress vor der SPD kapitulierte? Selbst innerhalb der radikalen Linken war das schwierig: Dass Rosa Luxemburg mit ihrem Antrag, sich an den Wahlen zur Nationalversammlung zu beteiligen (nachdem sie nun mal beschlossen waren), auf dem Gründungsparteitag der KPD durchfiel, ist ein weiteres Schlaglicht auf die komplizierten Bedingungen dieser Revolutionszeit.

Was kann die Bücherweisheit eines heutigen Historikers daran ändern? Wie kommt Karuscheit dazu, dies für die Ursache der Niederlagen der Arbeiterbewegung zu halten, die wir mit dem "Festhalten an unserer Position bis in die Gegenwart verlängern"? Für uns lag eine entscheidende Voraussetzung für den Sieg der Konterrevolution im Bündnis der Sozialdemokratie mit dem preußischen Militär. Also in der Spaltung der Arbeiterbewegung, die sich aber schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts abgezeichnet hatte, markiert in Debatten wie die um den Reformismus/Revisionismus, den Massenstreik und die heraufziehende Kriegsgefahr. Ist der Versuch der Revolution die Ursache für den späteren Aufstieg des Faschismus (statt deren Niederschlagung durch die Konterrevolution)? Hat es noch Sinn, irgendetwas zu tun, weil wir nicht wissen, was daraus wird?

Es kann nicht unsere Perspektive sein, die Hände in den Schoß zu legen und den Verlauf der Geschichte einem "objektiv" verstandenen "Weltgeist" zu überlassen. Marx hat recht, dass die Menschen ihre Geschichte unter vorgefundenen Bedingungen machen, Rosa Luxemburg mit der Betonung der Subjektivität aber auch.

F/HU, 17.10.2025

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