Eine Rekonstruktion revolutionärer Politik in China

Vorbemerkung: Mit diesem Teil wird der chronologische Verlauf der Darstellung kommunistischer Politik in China vorerst verlassen. Die "Wendemarke" des Jahres 1927 legt es nahe, den Charakter des "Sozialismus chinesischer Prägung" in den Mittelpunkt der Untersuchung zu stellen. Wesentliche Merkmale werden heraus-gearbeitet und in ihrem Entstehungszusammenhang gezeigt. Zum Vergleich damit wird die "klassisch" marxistische Auffassung von der Trägerschaft einer sozialistischen Revolution vorangestellt. Und schließlich werden Fragen, die sich aus der unterschiedlichen Auffassung von Sozialismus für eine revolutionäre Veränderung Chinas ergeben, zumindest angerissen. Sie sind der Schlüssel für ein tieferes Verständnis der chinesischen Entwicklung.

 

Die Arbeiterklasse und die sozialistische Revolution

Die revolutionäre Entwicklung in China ab den späten 1920er Jahren, die zu einem grundlegenden Strategiewechsel der Kommunisten führte, warf (und wirft) für alle an Marx orientierten Revolutionäre grundsätzliche Fragen auf. Wichtige Kernpunkte sollen noch einmal zusammengetragen werden.

Die Industrialisierung, ausgehend von Europa mit dem Zentrum Großbritannien, die mit historisch bedingten Verzögerungen weitere europäische Länder, Nordamerika und schließlich andere Regionen und Kontinente erfasst, sprengt nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die politisch-gesellschaftlichen Begrenzungen. Sie wird zu einer neuartigen Gesellschaftsformation, sie bedarf einer neuen führenden Klasse, der Bourgeoisie. Deren Mitglieder sind nicht mehr wie die früheren Herrscher privilegiert durch Abstammung und gesellschaftliche Sonderrechte wie eigene Steuerfreiheit oder feudalen Grundbesitz, der auch verbriefte Abgaben ihrer grundhörigen Pächter bedeutete. Die Bourgeoisie benötigt frei verfügbare Arbeitskraft und muss deshalb die Standesprivilegien beseitigen. Das freie Proletariat entsteht, befreit von den Bestimmungen seines früheren Grundherrn und frei von Besitz, des-halb darauf angewiesen, seine ihm jetzt allein gehörende Arbeitskraft zu verkaufen. Ziel und Zweck der bürgerlichen Produktionsweise ist die Verwandlung der fremden Arbeitskraft, ebenso der anderen Produktionsmittel, in Waren, deren Mehrwert wieder zu Kapital wird, das erneut investiert werden muss. Kapital muss um jeden Preis verwertet werden, was - auch zu Marx' Lebzeiten schon - zu Krisen führt, deren "Bereinigung" systembedingt Krieg, Hunger, Elend, Umweltzerstörung und andere "natürlichen" Begleiterscheinungen des Kapitalismus bedeutet. Die ungeheuere Beschleunigung des Kreislaufs der Natur, die Einbeziehung ganzer Kontinente in die Verwertungslogik des Kapitals gefährdet in der Konsequenz das Leben auf dem Planeten.

So wie die Bourgeoisie die Gesellschaft durchdringt und ihr Herrschaftsinteresse zum Allgemeininteresse der Gesellschaft erklärt, erzeugt diese Gesellschaftsformation auch ihre eigene Negation. Das Proletariat kennt keinen Zwang zum Privatbesitz an Produktionsmitteln, sein Interesse ist das verallgemeinerbare Interesse an einem Leben, das Teilhabe an den Ergebnissen der eigenen Produktivität, an den Errungenschaften einer abseits von Profitzwängen organisierten Gesellschaft bedeutet. Die Arbeiterklasse besitzt als einzige Klasse die objektive Voraussetzung dafür, die kapitalistische Gesellschaft zu überwinden und die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen. Ihre fachlichen, beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten, ihre Bildung und, da wird der subjektive Faktor wesentlich, das Bewusstsein von den eigenen Möglichkeiten und den gesellschaftlichen Aufgaben als Klasse befähigen sie dazu.¹

Deshalb haben sich die kommunistischen Parteien stets als Organisationsform und Vertreter der Arbeiterklasse (im engeren, aber auch im weiteren Sinn) begriffen. Und die "führende Rolle der Arbeiterklasse", so phrasenhaft und inhaltsarm sie auch von vielen Parteien in Anspruch genommen worden ist, beruht materiell auf dieser entwickelten Analyse. Eine kommunistische Partei, welche die Rolle der Arbeiterklasse relativiert oder de facto ersetzt durch eine andere, ausgebeutete Klasse, wird sich den eigenen Mitgliedern und der Bevölkerung, aber auch der internationalen kommunistischen Bewegung gegenüber erklären müssen.

 

Der Sozialismus in China

Vorab sei gesagt, dass kein expliziter Bruch mit der marxistischen Theorie erfolgte, weder in der Zeit der Neuausrichtung der chinesischen Revolutionsstrategie noch in der Folgezeit. Die KPCh verstand sich als Partei des Proletariats auch zu Zeiten, als das Proletariat eine verschwindende Minderheit in der Mitgliedschaft bildete.²

Dessen ungeachtet hat sich die KP praktisch-politisch gewandelt, ihr Aktionsfeld verlagert sich von den (wenigen Industrie-) Städten hin aufs Land. Die wenigen proletarischen Kader fliehen nicht nur in ein scheinbar ruhigeres Umfeld in den nahe gelegenen Provinzen, speziell nach Jiangxi. Sie agitieren die Landbevölkerung³, was die Partei rasch für ein revolutionäres Programm öffnet, das den (halb-) feudalistischen4 Zuständen ein Ende bereiten will. Mao Zedong, das Gesicht dieser Umorientierung der chinesischen KP, vertritt nach der Vernichtungsaktion Chiang Kai-sheks 1927 den Kurswechsel immer offensiver. Als 1932 die letzten Leitungskader aus Shanghai fliehen müssen, steigt Mao in der Parteihierarchie nach oben, seine theoretische wie praktische Handlungsfreiheit wird nicht mehr (grundsätzlich) in Frage gestellt. Er gibt seinen Ansichten zur Revolution in China keine geschlossene, zusammenhängende Form, er legt sie in einer Reihe knapperer Untersuchungen, als Reden oder in Form von Berichten vor. Das bedeutet, seine Überlegungen gewinnen erst im Verlauf von Jahren eine Form, die, zusammen-gefasst, als Anschauung eines Sozialismus chinesischer Prägung gesehen werden können5.

Nach Mao ist die Situation in China von einem doppelten Widerspruch gekennzeichnet: einmal der Gegensatz von Großgrundbesitz und der Mehrheits-Bauernschaft, der nur gelöst werden könne, wenn die Feudalherrschaft überwunden würde. Die Aufgabe einer bürgerlich-demokratischen Revolution also. Mit dem "eigentlichen" Subjekt dieser Revolution, der Bourgeoisie, hat Mao ein offenkundiges Problem: sie ist zu schwach und weitgehende verflochten mit den Grundbesitzern auf dem Lande.

Zum zweiten existiere in China aber auch der Gegensatz zwischen dem Imperialismus der Kolonisten im Land und dem chinesischen Volk. Dies rufe eine weitere revolutionäre Kraft auf den Plan: "China braucht dringend eine bürgerlich-demokratische Revolution, und diese Revolution kann nur unter der Führung des Proletariats vollendet werden." 6 Die Bourgeoisie fällt, weil sie zu schwach und imperialistisch versippt ist, als Träger und Profiteur der Revolution aus.

Das Proletariat, das als revolutionäres Subjekt die Bewegung übernehmen soll, wurde aber kürzlich vernichtend geschlagen und in seinen am stärksten klassenbewussten Teilen vernichtet.

Kleinknecht weist, auch wenn er diese Situation grundsätzlich anerkennt, zurecht darauf hin, dass Mao diese spezielle Konstellation der proletarischen Niederlage in seiner theoretischen Bestimmung verallgemeinert7 und damit das neue revolutionäre Subjekt, die Bauernschaft, zum Träger der gegenwärtigen wie der künftigen Umwälzungen ausruft. Das Wiedererstehen eines klassenbewussten Proletariats zieht er nicht mehr in Betracht.

Die schwache Bourgeoisie, die ihre historische Aufgabe nicht erfüllen kann, und die imperialistischen Mächte halten die Städte in ihrem eisernen Griff. Allein das Land, die Provinz mit ihren 80% der Bevölkerung, mindestens 350 Millionen Menschen, überwiegend am sozialen Rand ohne Hilfen, ohne Rechte und ohne Perspektive angesiedelt, allein diese Masse der Ausgebeuteten muss die Verhältnisse in China umwälzen. Dafür Strategien zu entwickeln und sie umzusetzen, das war Maos Stärke. Er hat diese Richtungsänderung nicht erfunden, befand er sich doch in den Fußstapfen eines charismatischen jungen Bauernführers, Peng Pai, des Gründers der ersten kommunistischen Bauernvereinigung 1923. Bei starkem Gegenwind aus den Reihen der Partei und insbesondere der Komintern rief dieser nach dem erzwungenen Bruch mit der Guomindang den ersten Bauernsowjet in China8 aus.

Peng initiierte Bauernvereinigungen, die eine Mischung aus umfassendem Sozialverband (Gesundheit, Medikamente, Grundbildung, persönlicher Schutz und rechtliche Vertretung) und revolutionärer Organisation (Aufklärung, Agitation) für ihre Mitglieder darstellten.9 Die Vereinigungen vertraten die Forderung nach wesentlich niedrigeren Pachtzinsen10 und boykottierten die Großgrundbesitzer.

Der kommunistische Versuch, ihr Rückzugsgebiet, die Provinz Jiangxi, unter Kontrolle zu bekommen, indem ein Aufstand in der Hauptstadt Nanchang initiiert wurde, scheiterte und stärkte damit indirekt den Bauernkurs der KP. Auch Peng musste vor den Truppen Chiang Kai-sheks fliehen und in die südlich gelegene Provinz Guangdong ausweichen. Dort gelangen ihm mit Hilfe der bäuerlichen Bevölkerung und der vertriebenen roten Truppen erfolgreiche Aufstände, die in den ersten Sowjet, die Heilufeng-Sowjet-Arbeiter-Bauern-Regierung, mündeten. Ein kurzzeitiger spektakulärer Erfolg, der die Nationalisten alarmierte. Nach vier Monaten machte Chiang Kai-shek im nächsten Vernichtungsfeldzug der revolutionären Regierung ein blutiges Ende.

Peng flieht zurück nach Shanghai in das Umfeld der Parteispitze, wird von einem Mitarbeiter verraten und, genauso wie drei weitere KP-Funktionäre, von den Nationalisten hingerichtet.

Mao, der in Jiangxi verblieben war, tritt wie selbstverständlich die Nachfolge des Bauernführers an und versucht seine Stützpunkte in dieser Provinz weiter aus-zubauen, die Truppen zu verstärken und die revolutionären Losungen weiter zu popularisieren.

 

Der Wechsel des revolutionären Subjekts

Die sozialistische Revolution soll, wie Mao postuliert, von den landlosen bzw. den landarmen Pächtern und der Landarbeiterschaft ausgehen. Dies hat den nachvollziehbaren Grund, dass deren soziale Situation, die seit jeher einen Kampf um das Existenzminimum bedeutete, sich im beginnenden 20. Jahrhundert nochmals verschärft hatte. Die Bevölkerungszahlen waren deutlich gestiegen, nach Schätzungen zwischen 1850 und 1900 von 400 auf 425 Millionen Menschen (+ 6%), zwischen 1900 und 1950 dagegen von 425 auf 550 Millionen (+ 30%). Eine nennenswerte Industrialisierung, die den Bevölkerungsdruck auf die Agrarprovinzen

reduzieren könnte, gab es zu dieser Zeit nicht. Die Gründe dafür wurden bereits thematisiert. Da auch keine Neulandgewinnung betrieben wurde, mussten mehr Menschen von gleichem Boden ernährt werden. Die Bodenzins- und Steuerabgaben bedrückten die bäuerliche Bevölkerung auf das Schwerste.

Jede nationalistische Regierung scheitert von Anbeginn bis zu ihrer Vertreibung 1949 zwangsläufig an der Abgaben- und Bodenfrage, stützt sich die Guomindang doch auf die Schicht der Landbesitzer. Von der Landbevölkerung werden staatliche Einnahmen abgeschöpft, dort werden die Massenheere dieser Zeit ausgestattet, ernährt und personell aufgerüstet.

Auf der anderen Seite steht eine Bauernschaft, die, mit Ausnahmen, nur diese Lebensform kennt.11 Sie zu organisieren, ist eine Notwendigkeit, dafür muss sie aber zuerst gewonnen werden. Der bäuerlichen Bevölkerung dabei zu helfen, Forderungen an ihre Bedrücker zu entwickeln, ist nur der erste Schritt zu einem Bewusstsein der eigenen Lage. Es setzt Wissen und Zusammenhalt voraus, damit die Bevölkerung sich selbst zu helfen lernt. Kurz, die kommunistischen Agitatoren müssen - nach unseren Begriffen - in hohem Maß Sozialarbeit leisten, mehr noch, sie müssen mit der Landbevölkerung unter deren Bedingungen leben, ihr das Mittel der Eigenorganisation als Vorstufe zur Befreiung an die Hand geben.

Und schließlich, um den sozialistischen Anspruch zu thematisieren, muss die Bauernschaft eine Zielvorstellung für ihre Zukunft entwickeln. Mao sieht die Revolution in China als Agrarrevolution. "Der Übergang des Bodens und der politischen Gewalt in die Hände der Bauern"12, ist für ihn der Schlüssel zum Sieg.

Danach würden die Dörfer die Städte einkreisen und aufrollen, die einheimische Bourgeoisie beseitigen und zuletzt den Hauptfeind der chinesischen Einheit, den Imperialismus und seine fremden Invasoren, aus dem Land treiben. Nur auf diese Weise könne die chinesische Nation wiedererstehen.

Dagegen stand der Ansatz der Komintern, über die Wechselbeziehung unterschiedlicher revolutionärer Aktionen in den Städten wie auf dem Land die Einheit von Arbeitern und Bauern zu erreichen und damit beide Kämpfe, den nationalen und den antifeudalistischen, gemeinsam zum Erfolg zu führen. Mao ging ohne Zögern über diese Vorstellungen hinweg und die Realität der beginnenden 1930er Jahre schien ihm auf der ganzen Linie Recht zu geben. Trotzdem muss(te) die Frage diskutiert und geklärt werden, welche gesellschaftliche Form des Zusammenlebens unter diesen Bedingungen, unter den praktischen Gegebenheiten ebenso wie unter theoretischen Prämissen möglich wird. Was kann Inhalt eines chinesischen Sozialismus oder einer Vorstufe davon sein?

Für Mao ist diese Zukunftsfrage nicht entscheidend. Der Sturz der Qing-Dynastie und die Regierungsübernahme durch Sun Yat-sen und seine nationale Partei mit einem "verhältnismäßig klar"14 definierten revolutionären Programm gelten ihm als die (kurze) Epoche der bürgerlich-demokratischen Revolution in China. Allerdings sei eine Weiterführung bürgerlicher Revolutionsziele nach der Oktoberrevolution 1917 obsolet geworden: "die Kämpfe in China wurden Bestandteil der proletarisch-sozialistischen Weltrevolution".15 Und damit "änderten sich, (...), zwangsläufig das Resultat und die historische Bedeutung der Revolution".16 Die bürgerliche Demokratie, so sie denn tatsächlich im Land existiert, werde nicht von den Bourgeois dominiert, sondern von Arbeitern und Bauern. Und damit werde die Demokratie zur Durchgangsstation hin zum Sozialismus, sie werde zur "Neuen Demokratie".17

Diese neuartige Formation ist offen für vieles. Sie ermöglicht Mao im Rahmen einer "revolutionären Arbeitsteilung" der Umwälzung in China ihren Platz innerhalb der proletarisch-sozialistischen Weltrevolution zuzuweisen. Die Revolution in China trage zur Durchsetzung des Sozialismus im Weltmaßstab bei, also sei sie - ungeachtet ihrer konkreten Möglichkeiten, Inhalte und Ziele - sozialistisch.

 

Folgerungen aus diesem Sozialismuskonzept und Fazit

Auf diese Weise werden die tatsächlichen Probleme, die sich aus dieser "sozialistischen" Revolution unter unreifen Bedingungen ergeben müssen, hinwegdefiniert. Der aktuelle Kampf um die Befreiung des Landes und eine Umwälzung der schwach ausgeprägten kapitalistischen Ordnung erzeugte seine eigenen Notwendigkeiten, dazu gehörte die Auseinandersetzung um einen möglichen oder unmöglichen Sozialismus in China wohl nicht. Gleichwohl müsste es im Interesse einer revolutionären Partei liegen, den gesellschaftlichen Zustand eines Landes realistisch und ohne Beschönigungen anzuerkennen. Nur mit einer ungeschminkten Bestandsaufnahme werden die Möglichkeiten und Grenzen, auf die Umgestaltung der Gesellschaft selbst einzuwirken, bestimmbar, nur so gewinnt die Revolution erreichbare Ziele.

Der situationsbedingte, aber dann nicht mehr in Frage gestellte Wechsel des revolutionären Subjekts zur Bauernklasse lässt die darin angelegten Probleme nicht verschwinden. Im Gegenteil, nach Gründung der Volksrepublik 1949 werden sie offenkundig. Den bäuerlichen Massen fehlen moderne Kenntnisse auf allen Gebieten. Daran tragen sie selbstverständlich keine Schuld, die Mängel sind begründet in den systemischen Defiziten und, zuletzt, im Versagen eines notdürftig bürgerlich verbrämten Herrschaftsanspruchs der Nationalisten.

Die Bauern mögen sich als Gewinner fühlen, sie sind höchst motiviert, eine neue Gesellschaft zu formen - trotzdem können sie sie nicht erschaffen. Befangen sind sie in ihrer begrenzten Welt, angewiesen darauf, dass Andere für sie die Entscheidungen treffen. Die Umverteilung des Bodens löst nämlich, anders als es viele Neueigentümer sehen, die Probleme der Unterentwicklung nicht.

Nur die Industrialisierung kann das geeinte Land modernisieren, das bedeutet aber, die ursprüngliche Akkumulation wird zu Lasten der bäuerlichen Bevölkerung stattfinden. So muss die Klasse, die nach Mao in China den Sozialismus errungen hat, diejenige Klasse, die dies eigentlich bewirken sollte, die Arbeiterklasse, erst erzeugen. Dieser beständige, auf Generationen unlösbare Gegensatz zwischen Arbeiter- und Bauernklasse, zwischen Stadt und Land prägt die chinesische Gesellschaft dauerhaft und ist bis zur Gegenwart nicht gelöst. Eine gleichmäßige Entwicklung beider Sphären gibt es zu keiner Zeit. Scharfe soziale Trennungen spalten Industrie und Landwirtschaft, Verbesserungen zugunsten einer Seite werden mit Belastungen der jeweils anderen erkauft.

Die sozialen Rechte, die zugesicherten Mindestversorgungen gelten für die Betriebsarbeiter und deren Angehörige in den Städten, die bäuerliche Bevölkerung ist davon ausgeschlossen. Ihre lückenhafte und qualitativ mindere Absicherung wird von den Volkskommunen übernommen, Not und Hunger treten regional und von Zeit zu Zeit auf. Der Wechsel der Klassenzugehörigkeit, der fast immer auch den Wechsel des Wohnortes bedeutet, ist streng reglementiert und dauert häufig eine Generation lang.

Trotzdem bezieht sich die KPCh beständig auf die Bauernschaft, sie will lange Zeit auf ihren Bezugspunkt nicht verzichten. Ihre Kampagnenfähigkeit beruht in den 1950er und 1960er Jahren auf ihrer Verknüpfung mit den ländlichen Strukturen.

 

Die chinesische Revolution, die in die Ausrufung der Volksrepublik mündet, und damit die Einheit des Landes (bzw. den legitimen Anspruch darauf) verkörpert, ist eines der Schlüsselereignisse des 20. Jahrhunderts. Sie steht, wenn man die weltgeschichtlichen Konsequenzen der Befreiung vom Kolonialismus und des Anspruchs der Mehrheit der Weltbevölkerung auf Selbstbestimmung mit einbezieht, auf einer Stufe mit der Oktoberrevolution 1917. Ihre Vorbildfunktion für Befreiungsbewegungen und Revolutionen kann gar nicht überbewertet werden. Dass die chinesische Revolution keine sozialistische sein konnte, wenn man die Perspektive eines industrialisierten und durch und durch vom Kapitalismus geprägten Systems anlegt, ist nicht zu leugnen. Dies tat ihrer Wirkung nach innen und außen aber kaum Abbruch. Doch jeder Schritt, sozialistische Inhalte in der Gesamtgesellschaft zu implementieren, führte zu Erschütterungen, die von außen häufig als grobe Verzerrungen und Belastungen des Systems und der Bevölkerung wahrgenommen wurden. Die Schwächen des sozialistischen Konzepts in der Vergangenheit mussten und müssen weiter zu großen Verwerfungen führen, welche auf die Entwicklung der Volksrepublik Einfluss haben.

 

 

Fußnoten:

¹ Friedrich Engels hat diese Zusammenhänge in aller Kürze und polemisch zugespitzt im Anti-Dühring so formuliert: " (...) Daher, daß die moderne große Industrie einerseits ein Proletariat, eine Klasse geschaffen hat, die zum erstenmal in der Geschichte die Forderung stellen kann der Abschaffung nicht dieser oder jener besondern Klassenorganisation (...), sondern der Klassen überhaupt, (...). Und daß dieselbe große Industrie andrerseits in der Bourgeoisie eine Klasse geschaffen hat, die das Monopol aller Produktionswerkzeuge und Lebensmittel besitzt, aber in jeder Schwindelperiode und in jedem drauffolgenden Krach beweist, daß sie unfähig geworden, die ihrer Gewalt entwachsenen Produktivkräfte noch fernerhin zu beherrschen; (...). Mit anderen Worten: es kommt daher, daß sowohl die von der modernen kapitalistischen Produktionsweise erzeugten Produktivkräfte wie auch das von ihr geschaffne System der Güterverteilung in brennenden Widerspruch geraten sind mit jener Produktionsweise selbst, und zwar in solchem Grad, daß eine Umwälzung der Produktions- und Verteilungsweise stattfinden muss, die alle Klassenunterschiede beseitigt, falls nicht die ganze moderne Gesellschaft untergehn soll. In dieser handgreiflichen, materiellen Tatsache, die sich den Köpfen der ausgebeuteten Proletarier mit unwiderstehlicher Notwendigkeit in mehr oder weniger klarer Gestalt aufdrängt (...) begründet sich die Siegesgewißheit des modernen Sozialismus." (1878, 1.Buchauflage, in: MEW Band 20, S. 146f.)

² So zitiert Günter Kleinknecht in den "Theorien der chinesischen Revolution" (in: Richard Lorenz (Hg.): Umwälzung einer Gesellschaft. Frankfurt/Main 1977, S. 405 - 492) Quellen, wonach vor April 1927 gut die Hälfte der 50 000 Parteimitglieder zur Arbeiterklasse zählte, weniger als 20% zur Bauernklasse. Nach den Vernichtungsschlägen Chiangs in den Städten und dem Mitgliederrückgang auf 10 000 erholte sich die Partei bis 1930 zwar personell, aber es "entstand in Wirklichkeit eine neue Partei" (ebd., S. 486, Anm. 115). Im März 1930 gab das ZK der KPCh an, dass nur 2% der Mitglieder zum Industrie-proletariat gehören.

³ Jiangxi war eine Provinz mit hohen Agrarerträgen und großer ländlicher Armut. Die Pachtabgaben zwangen die Mehrheit der Bauern in ein unerbittliches Abhängigkeitsverhältnis von den staatlichen Steuereinnehmern und den eigenen Grundherren. Die relative Nähe zu den industriellen Zentren Shanghai und Wuhan ließen die Provinz zum ständigen Nachschubreservoir für die Massenheere der Guomindang, die der Bevölkerung Lebensmittel abpressten und junge Männer in den Soldatendienst zwangen. In der Provinz gab es eine gewisse revolutionäre Tradition, seitdem der Taiping-Aufstand im 19. Jahrhundert zeitweise die kaiserliche Macht beseitigte und eigene Herrschaftsstrukturen entwickelte.

4 Die Begriffsfindung für den dominanten Zustand einer Gesellschaft, ihre Triebkräfte und sozialen Bestimmungen ist nicht nur in der gegenwärtigen Einordnung Chinas schwierig, dies gilt auch für die Beschreibung vergangener Zustände. Der Begriff "feudalistisch" stellt lediglich eine Annäherung an chinesische Verhältnisse mit Hilfe eines europäisch geprägten Begriffs dar, will aber keine Identität behaupten.

5 Günter Kleinknecht (vgl. Anm. 2) entwickelt in seiner Untersuchung die einzelnen Annahmen und Theorie-Versatzstücke Maos mit detaillierten Verweisen auf die "Ausgewählten Werke" (Beijing 1968/69). In der Folge beziehe ich mich, wenn nicht anders angegeben, auf die "Theorien der chinesischen Revolution".

6 ebd., S. 445

7 ebd., S. 446

8 Alexander Thanner: China 1911 - 1949: Forschungsstand II. Hamburg, 2005, S. 20

9 https://de.wikipedia.org/wiki/Ping_Pai (Stand: 07.08.2020)

10 Erst Jahre später nahm die Guomindang eine aufgeweichte Version der Forderung, eine Reduzierung des Pachtzinses um 25%, widerstrebend in ihr Parteiprogramm auf. Eine Umsetzung erfolgte nie.

11 Wikipedia (Anm. 9) fasst Peng Pais Anfänge der Landagitation so zusammen: "Die Bewohner waren schockiert, als er ihnen erklärte, dass er genau das Gegenteil davon wollte: Er war der Überzeugung, dass nicht sie den Großgrundbesitzern etwas schuldeten, sondern vielmehr die Großgrundbesitzer ihnen aufgrund der jahrelangen rücksichtslosen Ausbeutung. Sowas hatten sie zuvor noch nie gehört. ("Niemanden etwas schuldig zu sein ist schon gut genug, wie kann es dann sein, dass jemand MIR was schuldet?")

12 Kleinknecht, S. 447

13 ebd., S. 448

14 ebd., S. 466

15 ebd.

16 ebd.

17 ebd. Kleinknecht nimmt auf die Schrift "Über die Neue Demokratie" vom Januar 1940 Bezug (Fußnote 152).

 

Wie der Kommunismus nach China kam - Teil 1

Wie der Kommunismus nach China kam - Teil 2

Wie der Kommunismus nach China kam - Teil 3

Wie der Kommunismus nach China kam - Teil 5

Wie der Kommunismus nach China kam - Teil 6