Eine Rekonstruktion revolutionärer Politik in China  (Teil 6 und Abschluss)

Der „Lange Marsch“ ist seit der Gründung der Volksrepublik ein entscheidender Bezugspunkt für den neuen Staat, für die geschichtliche Wende hin zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Weit mehr noch als die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, mehr als das Symbol vom Sturm auf die Bastille für das bürgerliche Europa ist der dreijährige Kampf der chinesischen KommunistInnen um ihr Überleben und das ihrer politischen Überzeugungen der Dreh- und Angelpunkt für das legitime Handeln der KPCh. Wie bei wenigen Ereignissen sonst spielt es keine Rolle, ob der „Marsch“ Ausdruck einer überlegenen taktischen Meisterleistung oder der letzte Versuch, sich und einige Getreue zu retten, war. Ob er Sieg oder Niederlage war, mag aus historischer Sicht von Interesse sein und bleiben. Wichtig im Sinne seiner Bedeutung, die ihm zugemessen wurde und immer noch wird, ist dies freilich nicht.

Nicht zuletzt mit Hilfe deutscher Militär- und Kriegsberatung hatte Chiang Kai-shek die chinesische Sowjetmacht in Jiangxi eingekreist, ihre Hauptstadt eingenommen und stand kurz davor, die KommunistInnen endgültig zu vernichten. Mitte Oktober 1934 fasste die Führung vor Ort - Mao stand zu dieser Zeit unter Hausarrest, der von der an Moskau orientierten Parteispitze verfügt worden war – den Beschluss, unter der Leitung von Bo Gu, Zhou Enlai und Otto Braun den Kessel nach Südwesten zu durchbrechen.1 Zusätzlich sollten Reste der vormaligen Roten Armee in der Region verbleiben und den Guerillakampf gegen die Nationalisten aufnehmen.

Aus dieser Armee von 30 000 einsatzfähigen SoldatInnen war ein Überbleibsel von 6000 Personen geworden, die nicht wegen Verwundung oder Erkrankung ausfielen. Bis 1937, dem Jahr der gemeinsamen Front von Nationalisten und KommunistInnen gegen den japanischen Feind, überlebten wenige hundert die fürchterlichen Bedingungen des Guerillakampfes vor Ort. Den Zurückgelassenen erging es nicht besser, die Nationalisten ermordeten in den verlassenen Sowjetgebieten Hunderttausende von KommunistInnen und Sympathisierenden.

Von den etwa 90 000 Soldaten, Kadern und zivilem Personal, die den Ausbruch wagten, trugen etwa 30 000 Personen die Hauptlast der Kämpfe im ersten Jahr. Die Bewaffnung war äußerst bescheiden, nicht einmal jeder zweite Soldat besaß eine Schusswaffe. Schwerere Bewaffnung verlangsamte das Marschtempo so sehr, dass alles, was nicht unmittelbar überlebenswichtig war, zurückgelassen wurde. Als Transportmittel dienten wenige hundert Pferde. Detailliertere Pläne, wohin sich die Truppen retten wollten, gab es wohl nicht, schließlich sollte es um jeden Preis vermieden werden, den verfolgenden Truppen Chiangs ins Messer zu laufen. Das spätere Zielgebiet wird anfangs nicht im Blick gewesen sein, hier waren die KommunistInnen nicht verankert und der japanische Feind drohte.

Die Wegführung der ersten Monate ist davon geprägt, die verfolgenden Truppen unterschiedlicher Koalitionäre Chiangs aufzuspalten und damit ein erneutes Einkesseln zu verhindern. Immer in der Absicht, unter dem Radar des Feindes zu bleiben und Gefechte nur dann zu suchen, wenn die geografischen und logistischen Möglichkeiten es zulassen und der Kampf nicht zu vermeiden ist, schlagen sich die Roten Truppen durch die Grenzgebiete mehrerer Provinzen in einem südwestlich verlaufenden Bogen. Große Städte, die Zentren der feindlichen Armeen, werden vermieden. So bleibt möglichst unwegsames Gelände, Armuts- und Minderheitengebiete, die kurzfristig Schutz bieten können, aber selbst für die Einheimischen zu wenig Nahrung bereithalten. Allein die schwere Bewaffnung des Feindes macht in diesen Regionen wenig Sinn.

Nach knapp zwei Monaten wurde die 1. Rote Armee bei einem strategisch bedeutsamen Flussübergang vom Feind gestellt und beinahe vernichtet. Die Truppen und ihr Tross, die dem Feind entkamen, waren auf ein Drittel der Anfangsstärke zusammengeschmolzen. Tod und Flucht sorgten für die verlustreichste Phase des Langen Marsches, dies hatte deutliche Auswirkungen auf die Kampfmoral der übrig gebliebenen Verbände. Kritik an der Leitung des Marsches kam auf, die auf der Ebene des angereisten Politbüros entschieden wurde. Bo Gu und Otto Braun, die Vertreter der städtischen Parteiführung, wurden mit knapper Mehrheit abgesetzt, Zhou Enlai, der die Schuld an den Fehlentscheidungen auf sich nahm, blieb auf Bewährung in seiner Funktion. Und Mao kam zurück und mit ihm Zhu De, beiden wurde das militärische Kommando übertragen. Die bewegliche Kriegsführung, die beide Männer entwickelt und vertreten hatten, erhielt das Plazet der Parteileitung. Darüber hinaus wurde festgelegt, dass die Rote Armee neu strukturiert wird. Die beiden dezimierten Armeen werden zur 5. Roten Armee zusammengelegt und mit dem Auftrag versehen, nach Norden zur 4. Armee durchzustoßen. Das Problem war, dass es keine genauen Informationen über den Aufenthalt der GenossInnen gab.

Also verlässt der Tross seine Zwischenstation in der gebirgigen Minderheitenprovinz Guizhou, knapp 1000 Kilometer vom Ausgangspunkt entfernt. Er wendet sich, verstärkt mit einigen tausend Neusoldaten, die in dieser Elendsprovinz geworben wurden, nach Norden. Der Übergang über den Jangtse wird zum nächsten Problem.

Die beabsichtigte Querung ist blockiert, Mao lässt den Rückweg einschlagen und wendet den Zug ein weiteres Mal, bevor dieser auf die Soldaten Chiangs trifft. Die Grenzprovinz zu Vietnam und Myanmar, Yunnan, wird zum neuen Ziel und endlich gelingt der Übergang über einen Zufluss, Jinsha Jiang, der den Nordosten Yunnans vom äußersten Süden Sichuans trennt. Viele hundert Kilometer Märsche und kleinere, mitunter auch größere Kämpfe erschöpfen die Menschen, das Heer war erneut bedenklich geschrumpft. Es gelingt der Armee nicht, einen Stützpunkt im Süden Sichuans zu errichten, der Feind treibt sie weiter vor sich her. 700 Kilometer nördlich soll der Fluss Daduhe überschritten werden, einer Vorhut von 22 Soldaten gelingt es, die Eisenkettenbrücke von Luding unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Rote Armee und ihr Gefolge konnten passieren.

Nach einem halben Jahr des Umherirrens - man kann es kaum anders nennen unter den Bedingungen der fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten und des unvermeidlichen Feindkontaktes - wird die Vereinigung der stark geschwächten 1. Roten Frontarmee Maos mit der 4. Roten Armee Zhang Guotaos endlich möglich. Dafür musste die Provinz Sichuan, ein von höchsten Gebirgen und vielen Flüssen durchzogener Landstrich, komplett in Süd – Nordrichtung durchquert werden. Die Zusammenführung der Armeen erwies sich als notwendig, um den geschwächten Teil, die Truppen Maos, zu entlasten und regenerieren zu lassen. Trotzdem blieben die Bedingungen in den Truppenteilen unterschiedlich, sodass sich auch die Zielvorstellungen weiter unterschieden. Ein Marsch in den äußersten Nordwesten, nach Xinjiang, um Hilfe von der UdSSR erlangen zu können, war für Zhang möglich, für Mao nicht vorstellbar. Ein Jahr nach dem Ausbruch aus dem Kessel in Jiangxi standen Maos Truppen im Nordwesten der Provinz Shaanxi und hatten eine Gesamtwegstrecke von 11 000 Kilometern zurückgelegt. Die vereinten Armeen wurden also erneut geteilt, wobei die östliche Kolonne bei Mao verblieb. Nach erfolgreichen Kämpfen im äußersten Osten der Provinz Gansu um den Übergang über mehrere Gebirgspässe gelangte die Kolonne nach Shaanxi zurück, nach Wuqi. Dezimiert, aber erst einmal wenig bedrängt, war das Ende des Marsches in die Nähe gerückt. In der Region, „bloß“ 250 Kilometer entfernt, in Yan’an, wurde schließlich das neue Zentrum der KommunistInnen errichtet. Die Stadt blieb „Hauptstadt“ der chinesischen Roten Armee von 1936 bis zum März 1947, als der Bürgerkrieg zum raschen Bewegungskrieg wurde.

Die westliche Armeekolonne unter Zhang verfolgte ihren Plan, nach Westen auszuweichen, weiter, der sie in Richtung Qinghai führen sollte. Bei einer Überquerung des Huanghe wurde die Armee von nationalistischen Truppen gestellt, gespalten und zum allergrößten Teil vernichtet. Ein 2 000 Soldatinnen starkes Frauenregiment wurde im Gansu-Korridor ausgelöscht. Nicht einmal tausend Kämpfer von über 33 000 SoldatInnen konnten sich schließlich nach Yan‘an durchschlagen. Die Zweite Einheitsfront gegen die japanischen Invasoren, die die KommunistInnen und die Nationalisten Chiang Kai-sheks im Dezember 1936 beschlossen, verschaffte der Roten Armee im Ringen um die Macht in China eine kurze Atempause.

 

Die Bedeutung des Langen Marsches

 

Geht man von den militärisch verwendbaren Resultaten aus, muss man, kurzfristig gesehen, von einer Niederlage der KommunistInnen sprechen. Ihre Kräfte wurden insgesamt stark dezimiert, teil- und phasenweise beinahe vernichtet. Die von ihnen beherrschten und mit einer neuen Sozialstruktur versehenen Regionen und Gebiete mussten mit schwersten Folgen für die Bevölkerung zurückgelassen und aufgegeben werden, zig Millionen Menschen wurden zwangsweise der Willkür, der Ausbeutung, der Rache und dem Verbrechen der Nationalisten ausgeliefert.

Die Niederlage war aber keine absolute, keine unumkehrbare. Trotz des Triumphes der Nationalisten und ihrer Verbündeten gelang es diesen nicht, den Kern der kommunistischen Bewegung zu vernichten. Diese Seite, die Zähigkeit und der Wille von Tausenden KommunistInnen, der Überlegenheit des Feindes nicht nachzugeben, wird heute in der VR China in besonderer Weise hervorgehoben, ein sozusagen historisches Beispiel für die Durchsetzungsfähigkeit zukunftsweisender Politik gegeben. Und damit hob und hebt sich der chinesische Sozialismus deutlich heraus aus den üblichen Vorstellungen, wie Staaten einen Systemwechsel vollziehen. Dies legitimiert die chinesische Führung bis heute, die Eigenart des politischen und gesellschaftlichen Systems zu betonen. Und diese Eigenart kann und soll gerade nicht als Modell für revolutionäre Bewegungen dienen. Alles exportiert die Volksrepublik, aber nicht ihre Form des Sozialismus.

In der Tat ist es erklärungsbedürftig, warum in der Phase existenzieller Bedrängnis die Unterstützung durch erhebliche Teile der Landbevölkerung nicht unterblieb. Schließlich wurde jede Handlung zugunsten der KommunistInnen schwerstens bestraft. Die chinesische Antwort hebt auf das solidarische Verhalten der eigenen Kader ab. Armee und zivile Begleitung waren angehalten, nicht von den Bauern, sondern mit ihnen zu leben. Nur so gelingt es, die Bedürfnisse der Bevölkerung wirklich zu verstehen und etwa die Forderung nach einer Bodenreform mit Leben zu erfüllen. Hier werden die Losungen tatsächlich praktisch und hier ist die Hilfe ganz nahe an den Lebensbedingungen Aller. Und nur auf dieser Basis bleiben die KommunistInnen glaubwürdig, wenn sie Menschen bilden und ausbilden.

Bemerkenswert und in ihrer Folgewirkung kaum zu überschätzen ist die Tatsache, dass die tatsächliche Ausrichtung der eigenen Politik und Strategie auf die Bedürfnisse der Bauern, der weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, einzigartig in der modernen Geschichte Chinas ist. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, war das Land als Selbstbedienungsladen für die Bedarfe der Mächtigen, der Großgrundbesitzer, der Verwaltung und Regierungsbeamten betrachtet worden. Eine tatsächliche Vertretung hatte die Landbevölkerung nie besessen. Die äußerst zaghaften Rufe aus der Nationalen Partei nach einer Landreform verhallten über alle Jahrzehnte ihrer Regierung rückstandslos. Es war eben modern, auch eine solche soziale „Forderung“ ins Programm aufzunehmen, dort entschlummerte sie, ohne jemals das Bewusstsein erlangt zu haben.

Die KommunistInnen, und hier speziell die von Mao Zedong vertretene Linie, sind die erste und die de facto einzige politische Kraft, welche die Bauernschaft als Subjekt des (revolutionären) Handeln begreift und sie handlungsfähig macht. Das macht ihre „Attraktivität“ jenseits aller Losungen und Stellvertreterkämpfe aus und das gibt wiederum der kommunistischen Bewegung den Rückhalt, mit dem der Gewalt des haushoch überlegenen Feindes widerstanden werden konnte. Nur deshalb wird verständlich, weshalb die kommunistische Bewegung in China innerhalb weniger Jahre ihre Popularität gewaltig steigern und ein Massenheer auf die Beine stellen konnte. Zwar war man nominell zu Zeiten der Einheitsfront den zusammengekauften, gedungenen Heeren Chiang Kai-sheks und seiner Verbündeten deutlich unterlegen, von der völlig unzureichenden Armierung und fehlenden Bewaffnung ganz zu schweigen. Aber Chiang wusste, dass die historische Chance, die KommunistInnen in China auszumerzen, mit dem Ende des Langen Marsches vorüber war und nicht mehr kommen würde, wenn er nicht Hilfe von den Siegern des Krieges in China erhielte. Die USA sollten nach 1945 erledigen, was er bis 1937 versäumt hatte.

 

Die Zweite Einheitsfront

 

Seit 1931 hatte Japan weite Teile der mandschurischen Provinzen besetzt, um die Expansionspläne in Ostasien umsetzen zu können. Der chinesische Osten sollte die Rohstoffe liefern, damit die japanische Industrie ihrem Ziel der Autarkie näherkam. Besonders die Rüstungsindustrie benötigte die Zulieferungen und die Vorprodukte. Zu diesem Zweck richtete der Usurpator ein Marionettenregime, Mandschukuo, ein.

Das im Detail sehr fintenreiche Verhältnis der japanischen Besatzer zur nationalchinesischen Regierung unter Chiang Kai-shek soll hier nicht nachgezeichnet werden. Wichtig für die innerchinesische Auseinandersetzung ist Folgendes: aus der Sicht der Guomindang ist die Rolle Japans in China ambivalent. Eine nationale Partei, so könnte man denken, müsste ein ureigenes Interesse haben, die Eindringlinge zu bekämpfen. Das ist nicht verkehrt, solange der verbale Kampf mit den Japanern nicht in einen umfänglichen Krieg umschlägt, der die Nationalarmee bindet und schwächt. Besser ist es aus Sicht Chiangs, wenn sich die Besatzer mit den nördlichen und östlichen Warlords, soweit sie Verbündete der Nationalregierung sind, herumschlagen. Der Konflikt köchelt weiter und trägt nicht nur nebenher dazu bei, die eigenen Alliierten zu schwächen. Der Ruf aller antijapanischen Kräfte, die fremden Truppen auch mit Soldaten der Zentralregierung zu bekämpfen, wird Mitte der 1930er Jahre lauter. Chiang propagiert zwar die Befreiung des Landes, er tut aber nichts Substanzielles dazu. Stattdessen werden immer neue Abkommen mit den Besatzern geschlossen, die die Beziehungen „regeln“ sollen, aber in der Sache selbst nichts ändern. Die Souveränität Chinas wird wieder und wieder verschachert. Das permanent wiederholte Argument der chinesischen Regierung, diese Abkommen würden helfen, den Frieden im Lande zu gewährleisten und damit dem Volk große Leiden zu ersparen, wird selbst in der Bevölkerung nicht mehr geglaubt. Das Bürgertum selbst geht Chiang von der Fahne, weil es allzu offensichtlich geworden war, dass der Regierungschef seine Kräfte für den Kampf gegen die KommunistInnen aufsparen möchte. Auch die KP nimmt diese Stimmung im Volk auf und erklärt sich bereit, den innerchinesischen Konflikt zugunsten einer gemeinsamen Front gegen die Besatzer zurückzustellen. Ende 1936 schaffen schließlich gemeinsame Interessen ein chinesisches Bündnis, das es eigentlich nicht geben kann. Die Nordwestliche und die Nordöstliche Armee unter verbündeten Heerführern von Chiang Kai-shek begehren gegen dessen Hinhaltetaktik auf, die zur Schwächung ihrer Positionen führen sollte. Der Krieg, den sie im Norden gegen die KommunistInnen führen sollten, war nicht der ihre. Sie drängten unmittelbar auf eine Einigung. Das taten auch einflussreiche Granden der Nationalen Partei, die sich immer vernehmlicher gegen Chiang aussprachen, die öffentliche Meinung war drauf und dran trotz aller Gegenmaßnahmen umzuschlagen. Und nach einer (Schein-) Entführung Chiangs war sein Kurswechsel beschlossen, der Krieg gegen Japan stand bevor. Trotz dieser Zusage bedurfte es eines Dreivierteljahres Zeit, eines bereits fünf Wochen andauernden Krieges der Japaner und eines 30 Millionen Dollar-Kredites der Sowjetunion für die chinesische Regierung, damit Chiang die Eingliederung der Roten Armee in die nationalen Streitkräfte billigt und die KPCh als legale Organisation anerkennt.²

 

Der Krieg gegen Japan

 

Aus der „Schutztruppe“ für den Bau der Südmandschurischen Eisenbahn, der Kwantung-Armee, die zuerst den Auftrag hatte, das japanische Eigentum gegen China (und Russland, den Verlierer des russisch-japanischen Krieges 1904) abzusichern, war ein eigenständiger Faktor im Rahmen der imperialistischen Erweiterungspolitik geworden. In relativer Autonomie trieben die japanischen Generäle ihre Eroberungen und Besetzungen Stück für Stück weiter, schlossen Vereinbarungen und Abkommen mit den Warlords im Nordosten Chinas oder mit der Zentralregierung oder anderen Gruppierungen und konnten sich sehr sicher sein, dass ihre Selbstherrlichkeiten im Nachhinein von der Regierung in Tokio gebilligt wurden. Man war bei der Ausbeutung der Bodenschätze in der Mandschurei dabei, die in das annektierte Korea verbracht wurden und wusste neben den strategischen Zielen auch seine wirtschaftlichen Prämissen zu erreichen. 1931 besetzte Japan nach einem inszenierten Attentat mit erweiterter Mannstärke alle drei mandschurischen Provinzen und schuf einen eigenen Satrapenstaat. 1932 bombardierten die Japaner die Stadt Shanghai, um den chinesischen Handelsboykott zu brechen und setzten in den Folgejahren weitere Forderungen durch. So musste eine „Pufferzone“ zwischen dem neuen politischen Gebilde Mandschukuo und der Südlinie Tianjin – Beijing eingerichtet werden. Das bedeutete, dass die umgebende Provinz Hebei faktisch aus der chinesischen Souveränität ausgegliedert wird. Und Teile der Inneren Mongolei werden ebenfalls besetzt. Der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg beginnt als Expansion nach dem Süden, bisher das Land Chiangs. Über Shanghai sollte die Hauptstadt der Guomindang, Nanjing, besetzt werden, wenn die Regierung antijapanische Aktivitäten nicht einstelle. Als Lockmittel wurde Chiang der gemeinsame Kampf gegen die KommunistInnen angeboten. Gleichzeitig wurde um Shanghai mit allen modernen Waffentechniken gekämpft, die vor allem Japan aufbieten konnte. Die Verluste waren auf beiden Seiten hoch, die Guomindang büßte etwa ein Drittel ihrer kampfbereiten Soldaten ein. Bevor Chiang sich auf die Waffenstillstandsbedingungen einlassen und damit das frische „Bündnis“ mit der Roten Armee brechen konnte, legte Japan in seinen Forderungen kräftig nach. De facto würde der Norden Chinas den Invasoren unterstehen, die die Bedingungen für die Beziehungen zwischen Japan, Mandschukuo und China festlegen. Chiang war in der Sackgasse gelandet, die Niederlage seiner Armee war absehbar, damit ist seine Ausgangssituation für den künftigen Kampf gegen die KPCh geschwächt. Aber er kann den japanischen Forderungen auch nicht entsprechen, weil selbst er dies politisch nicht überleben würde. Also muss er auf Zeit spielen, die Aggression verlangsamen, die Japaner in der Weite des Landes ermüden und hoffen, dass neue Mächte auf das Kräfteverhältnis zu seinen Gunsten einwirken. Nanjing konnte und wollte er nicht mehr halten, der Feind war ohne Verzögerung in der Stadt eingefallen. Die dort stationierten Truppen forderte der Stadtkommandant zum sofortigen Abzug auf, in Panik flohen die Soldaten und ebenso zivile Bevölkerung. Transportmittel standen kaum zur Verfügung, viele Menschen kamen bereits in diesen Wirren ums Leben.

Wenige Tage später standen die feindlichen Truppen in der Stadt und ermordeten in den Folgewochen Hunderttausende von Bewohnern und vor Ort gebliebenen Militärs. Eine entfesselte Truppe beging alle Grausamkeiten an der Bevölkerung, die ein moderner Rassenkrieg denkbar und wieder möglich macht, einschließlich Versklavung, erzwungener Prostitution und medizinischer Experimente mit Menschen. Chiang verlegt seine Hauptstadt flussaufwärts nach Wuhan und er wird sie schließlich noch einmal 1500 Kilometer den Jangtse-Quellen entgegen nach Westen verlegen müssen. Chongqing wird die Hauptstadt werden, eine zurückgebliebene und seuchengeplagte Siedlung irgendwo im Nirgendwo. Chiang ist dort von seinen Einkommensquellen völlig abgeschnitten, Kontakte und damit Einflussnahmen auf Verbündete, auf Abhängige und Gegner werden immer schwieriger. Die regionalen Kommandeure seiner Armeen räumen nacheinander ihre Gebiete, Guerillakampf wird zum Mittel der Wahl. Diese Art, den Krieg zu führen, ist ungewohnt und fordert höhere persönliche Opfer als die Feldschlachten. So kämpfen die KommunistInnen, natürlich auch gegen die Japaner, nicht die Guomindang.

Deshalb blieb Chiang nur mehr die Möglichkeit, kleinere Hinterhalte zu inszenieren, die japanischen Truppen in Nebengefechte zu verwickeln. Um die neue Hauptstadt Wuhan nicht aufgeben zu müssen, war der Versuch unternommen worden, den Feind weit nördlich davon in Kämpfe zu verwickeln. Der kurze Zeitgewinn, der durch den Überraschungseffekt zu erzielen war, genügte nicht. Chiang befahl die Dämme des Huanghe aufzubrechen, was etwa einer Million Menschen, die nicht vorgewarnt worden waren, das Leben kostete und 12 Millionen obdachlos machte. Monate waren am Ende „gewonnen“ für einen vermeintlichen strategischen Vorteil. Nachdem Wuhan im Oktober 1938 fiel, wurde der Süden Chinas in rascher Folge erobert und ein erneutes Ausweichen der Regierung war nötig geworden.

Die japanische Eroberungsplanung für Ost- und Südostasien war in ein Stadium kurz vor der Umsetzung getreten, deshalb lag es 1939/40 im Interesse des Kaiserreiches, einen möglichst stabilen Waffenstillstand zu schließen. Die Truppenstärke in China, die stark gesteigert worden war, musste begrenzt, möglichst sogar zurückgeführt werden. Die Soldaten werden anderswo gebraucht.

Jetzt scheint das Kalkül Chiangs, auf Zeitgewinn zu setzen, doch noch aufzugehen. Japan hat sich beinahe zu Tode gesiegt, der Ostteil Chinas muss schließlich verwaltet und dem Wirtschaftsplan der Eroberer unterworfen werden. Chinesische Stellvertreter, die im Auftrag verwalten sollten, bewähren sich nicht, sie üben pure Gewalt aus, um ihre Vorgaben zu erfüllen und ihren Profit zu sichern. Die Sowjetunion war inzwischen aktiv geworden, ihr Interesse war, einen Zwei-Fronten-Krieg zu vermeiden. Aus diesem Grund musste China wesentliche Kräfte des potenziellen Feindes binden. Die UdSSR sandte Waffensysteme und Ausrüstung, stellte Kampfflugzeuge samt Piloten, um die Luftüberlegenheit Japans zu brechen und die Bombardements der großen Städte zu beenden.

Mit der japanischen Kriegserklärung an die USA und ihre Verbündeten kommt auch der Krieg in China an einen Wendepunkt. Wenn es den chinesischen Truppen auch nicht gelingt, Japan aus dem Land zu treiben, so setzen sie doch in den Folgejahren immer wieder Nadelstiche, die die Eroberer schmerzen. Auch wird die Ausrüstung dank der US-Lieferungen besser. China hatte als Reaktion auf Pearl Harbor Japan den Krieg erklärt und wurde nun offiziell von den USA mit Militärgütern versorgt.

1945 ziehen sich die japanischen Truppen in China in die Städte zurück und kontrollierten die Hauptverkehrswege, die ländlichen Gebiete wurden, schon aus Personalmangel, geräumt und damit im Norden den KommunistInnen, im Zentrum und im Süden der Guomindang überlassen. Im August 1945 ist das Ende des japanischen Imperiums gekommen. Die Atombombenabwürfe der USA sorgen für eine umgehende Kapitulation, die Sowjetunion marschiert zeitgleich mit einer Million Soldaten in die Mandschurei, dem Kern- und Rückzugsgebiet der Japaner, ein. Im September kapitulierten die japanischen Truppen in China. Der Krieg war zu Ende, die Nationalregierung Chinas war Siegermacht in diesem Weltkrieg. Und ein Wettrennen um die Macht in China setzte unmittelbar ein.

 

Bürgerkrieg und Proklamation der Volksrepublik China²

 

Weder die Guomindang noch die KommunistInnen bekämpften die japanischen Besatzer mit ihren vollständigen militärischen Kräften, dies trifft auch auf die regionalen Hilfstruppen Chiang Kai-sheks oder der KommunistInnen zu. Allen Beteiligten war bewusst, dass der Kampf gegen Japan nur eine Etappe sein konnte. Die Macht in China musste das Ziel sein und dafür versuchten die beiden verfeindeten Seiten die Weichen zu stellen. Anfangs schien Chiang die besseren Karten zu besitzen: seine Truppen waren personell stärker, sie waren im Schnitt deutlich besser ausgerüstet, geschult und genährt. Chiang war der von den Alliierten anerkannte Sieger des Krieges in China, ihm sollten sich nach den Kapitulationsverhandlungen die Japaner ergeben und die Waffen ausliefern. Dazu kommt die Unterstützung durch die USA, die bereit waren, mit ihm als Herrscher des Landes die Nachkriegsordnung Asiens zu planen.

Nach der japanischen Kapitulation wollten die USA China diplomatisch befrieden. Der Krieg, der in Europa schon vier Monate beendet war, sollte auch in Asien zu Ende gehen, zumal in den zurückliegenden Jahren keine militärische Entscheidung gefallen war. Die Zustimmung zu einem amerikanischen Militäreinsatz, der notwendig werden würde, war im Lande nicht vorhanden, ein Fass ohne Boden drohte.

Chiang ließ sich notgedrungen auf Verhandlungen mit den KommunistInnen in Chongqing, seiner Hauptstadt in der Provinz, ein. Weder eine mögliche politische Koalition beider Seiten noch eine Kompromisslösung zwischen den Antagonisten wurde gefunden. Im Gegenteil, während die „Verhandlungen“ liefen, begannen die kriegerischen Auseinandersetzungen erneut. Selbst als die USA ihre Unterstützung für Chiang mit dessen Bereitschaft zur politischen „Lösung“ verknüpften (auch die UdSSR setzte noch auf eine Einigung der feindlichen Seiten), flauten die Kämpfe nicht mehr ab. Im Zentrum stand zu dieser Zeit das „Erbe“ der japanischen Aggression, die Waffenübergabe der Kapitulanten an die chinesischen Truppen. Die KommunistInnen konnten schließlich die Vorteile nutzen, dass sie einfach geografisch näher dran und damit schneller vor Ort waren und die Sowjetarmee die Mandschurei besetzt hatte. Die UdSSR hatte im August 1945 Japan den Krieg erklärt und rückte in die Stützpunkte des Feindes im Nordosten Chinas ein.

Dies stellte nicht die Vorentscheidung dar, mit US-Unterstützung gab es Truppenverlegungen der Nationalisten nach Norden, um den militärischen Wettlauf zu gewinnen. Aber die KommunistInnen konnten ihre Möglichkeiten verbessern. Und es gelang ihnen, in dieser Region politisch Fuß zu fassen. Sie schufen neue soziale und politische Bedingungen in vielen mandschurischen Kreisen und Dörfern, die von den Nationalisten auf kurze Sicht nicht mehr zerstört werden konnten. Chiang hatte in dieser Provinz nichts mehr anzubieten außer Repression und Gewalt. Mit Ablauf des Jahres 1946 war der „Friedensprozess“ auch offiziell tot.

Die zu Rate gezogene Literatur hebt gerne auf die taktischen Fehler Chiangs in den Folgejahren ab, ja misst ihnen kriegsentscheidende Wirkung bei. Dies ist die Sichtweise derjenigen, die das militärische Potenzial als zentrale Größe ansehen. Chiang scheiterte schließlich nicht deshalb, weil er falsch kalkulierte und seine Kräfte an den falschen Orten konzentrierte, sondern weil er seinen Anspruch, China zu einigen, territorial wie gesellschaftlich-sozial, in keiner Weise einlösen konnte. In dem Maße, in dem die KommunistInnen militärisch ernst genommen werden mussten, trat dieses Versagen offen zu Tage. Es gab nirgends Ansätze, der ländlichen Bevölkerung Lebensperspektiven aufzuzeigen, die ihr Leiden und ihre Qual hätten beenden können. Deshalb gab es im Großraum China keine Unterstützung der Nationalisten durch die regionale Bevölkerung mehr, die nicht durch Zwang herbeigeführt worden wäre. Für die KommunistInnen wiederum blieb entscheidend, ob und wie sie in die chinesischen Städte zurückkehren konnten. Mit Gewalt alleine sind die Strukturen Chiangs, die er dort errichtet hatte, nicht zu ersetzen, die Akzeptanz der Bevölkerung muss jenseits davon erreicht werden. Eine große Aufgabe der Zukunft bahnte sich sehr schnell an. Dass die VR China von dem Stadt-/Landgegensatz schwer herausgefordert war und ist, haben wir in einer früheren Folge dargestellt (Arbeiterstimme Nr.209 vom Herbst 2020, S.19ff.).

Das Ende des Bürgerkrieges scheint aus heutiger Sicht rasch und konsequent herbeigeführt worden zu sein. Als zentral wird dabei die Schlacht von Huaihai Ende 1948, Beginn 1949 betrachtet. Damit gewannen die KommunistInnen endgültig die Initiative, drängten die Nationalisten über den Jangtse nach Süden zurück. Beijing wurde eingenommen. Vor allem war offenkundig geworden, dass die nationalistischen Truppen im Zerfall lagen, Zehntausende liefen zu den KommunistInnen über, Hunderttausende ließen sich gefangen nehmen, das Vertrauen in ihre Militärführer war endgültig erschöpft. Der Feind wurde in der Folge innerhalb weniger Monate aufgerollt, die Ressourcen der Guomindang übernommen und die Reste des Widerstandes im Südwesten Chinas und auf der Insel Hainan gebrochen.

Nach der Niederlage von Huaihai war Chiang von seinem eigenen Stab als Präsident der Republik China abgesetzt worden. Und so widmete er sich in den folgenden Monaten seiner Flucht auf die Insel Taiwan, die er schließlich mit zwei bis drei Millionen Gefolgsleuten, großem logistischen Aufwand und den Staatsschatz im Gepäck antrat. Bis an sein Lebensende 1975 war er von der Rückkehr auf das Festland als Präsident überzeugt, er hielt immer an der militärischen Option fest. Schon 1947 sorgt er dafür, dass Taiwan als möglicher Rückzugsort der Guomindang vorbereitet wird. Als sich die einheimische Bevölkerung gegen den Herrschaftsanspruch der Nationalisten zur Wehr setzt, werden Zehntausende, zum großen Teil unter der japanischen Besatzung groß gewordene Angehörige der Elite, ermordet, um jeden Widerstand zu ersticken3.

Zur Morgengabe bei seiner Ankunft auf der Insel gehörte unter anderem die kaiserliche Kunstsammlung, die in der Verbotenen Stadt lagerte und bis heute die größte und bei weitem bedeutendste Sammlung chinesischer Kunstwerke darstellt. Selbst der Ausdruck chinesischer Identität in der Kunst sollte den KommunistInnen abgesprochen werden.

Mao Zedong proklamierte am 01. Oktober 1949 vor dem Kaiserpalast in Beijing, der neuen Hauptstadt, die Gründung der Volksrepublik China. Eine neue Ära beginnt.

 

 

Fußnoten:

¹ Kuhn: Die Republik China von 1912 bis 1937, Heidelberg 2007, 3.überarbeitete Auflage, 556- 568. Die Darstellung des Langen Marsches bezieht zahlreiche, unterschiedliche Quellen ein, das Geschehen selbst scheint im Großen und Ganzen gesichert. Die Bewertung der Ereignisse ist darin ausdrücklich nicht eingeschlossen.

² Die Fakten zu den Bürgerkriegsjahren 1945 – 1949 sind Kuhn, S. 692-695 entnommen. Eine Chinakarte zur Verteilung der Konfliktparteien am Ende des 2. Weltkrieges in Ostasien stellt https://de.wikipedia.org/wiki/Chinesischer_Bürgerkrieg bereit.

3 Jens Damm: Das „andere China“? Was wir über Taiwan wissen sollten. in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 7-8/2021, S.40 – 45, hier S. 42

 

Wie der Kommunismus nach China kam - Teil 1

Wie der Kommunismus nach China kam - Teil 2

Wie der Kommunismus nach China kam - Teil 3

Wie der Kommunismus nach China kam - Teil 4

Wie der Kommunismus nach China kam - Teil 5