Im März letzten Jahres haben wir uns in einem Artikel „SPD und GroKo ja – nein – vielleicht“ mit der SPD befasst. Damals hatten sich die SPD-Mitglieder mit 66% für eine Beteiligung ihrer Partei an der Großen Koalition mit der CDU/CSU ausgesprochen; 78% der Mitglieder hatten abgestimmt. Wir schrieben damals: „Man muss davon ausgehen, dass ein erheblicher Anteil der JA-Stimmen nicht aus echter Zuneigung für die Koalition erfolgte, sondern nur deshalb zustande kam, weil die Mitglieder der SPD eine weitere Verschärfung der Parteikrise vermeiden wollten.“ Heute, ein Jahr später, ist deutlich geworden, dass damit dieses Ziel nicht erreicht werden konnte. Der Niedergang der Partei hat sich vielmehr weiter fortgesetzt.
Der Abstieg der SPD bei den Landtagswahlen in Bayern mit 9,7% und in Hessen, einer einstigen Hochburg, mit 19,8% (vorher 30,7%), ist eine dramatische Niederlage.
Dennoch hat es einige Zeit gedauert, bis die Parteiführung eingesehen hat, dass es mit einem weiter so nicht mehr vorwärts gehen kann und sie sich zu einer Kursänderung genötigt sah. Eine „Erneuerung“ der SPD wurde auf die Tagesordnung gestellt, aber wie diese konkret aussehen soll und was sie beinhalten soll, blieb weiterhin im Unklaren.
Deutlich geworden ist den Genossinnen und Genossen, dass es so eben nicht weitergehen kann. Vier Landtagswahlen stehen 2019 bedrohlich vor der Tür – eine Marginalisierung der Partei im Osten Deutschlands ist nicht ausgeschlossen.
Bei Strafe des Versinkens in die Bedeutungslosigkeit, wie es bereits das Schicksal anderer sozialdemokratischer Parteien in Europa war, bemüht sich die SPD um Schadensbegrenzung, ja sie strebt sogar eine „Trendwende“ an.
Nach vielen Aussprachen, Klausuren und im Debattencamp scheint sich die SPD auf das ihr immer noch anhaftende Image, die Partei der kleinen Leute zu sein, zu besinnen und möchte sich nun nach Agenda und Hartz IV wieder ein linkeres Image geben. Der Sozialstaat soll erneuert werden. Andrea Nahles erklärte in der Berliner Zeitung vom 6.2., das System solle wieder „vom Kopf auf die Füße gestellt werden“ – hier stellt sich allerdings schon die Frage, wer es denn vorher umgestülpt hatte. Der SPD-Vorstand hatte ein Konzept beschlossen, das den Titel trägt: „Arbeit – Solidarität – Menschlichkeit. Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit“. Allein diese Ankündigung brachte die SPD bereits in der Gunst der Wählerinnen und Wähler nach vorne, was natürlich auch deutlich macht, wie es um deren Bewusstsein bestellt ist.
Sofort nach diesen Ankündigungen hagelte es auch Kritik von rechts. CDU-Vize Bouffier kritisierte die geplante Neuausrichtung scharf und sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, „die SPD plant die Beerdigung der soziale Marktwirtschaft“ –als ob diese tatsächlich noch existiere – und hat sich „mit ihrem Wunsch, wieder Wähler zu gewinnen, für einen strammen Linkskurs entschieden.“ Wirtschaftsvertreter sprechen von einem Griff in die soziale Mottenkiste. In der Süddeutschen Zeitung kritisierte der Chef der Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, die SPD-Pläne mit den Worten, „die Partei schickt sich an, das arbeitsmarktpolitische Rad wieder zurückzudrehen“.
Worin besteht nun dieser sogenannte „Linksruck“ inhaltlich, den der SPD-Vorstand beschlossen hat und der von ihr als „neuer Anfang“ für die SPD bezeichnet wird, mit dem die Partei Hartz IV hinter sich lassen will.
An die Stelle von Hartz IV soll ein Bürgergeld-Modell treten, mit weniger Sanktionen und höheren Leistungen für ältere Arbeitslose. Wer lange eingezahlt hat, soll bis zu drei Jahre Arbeitslosengeld bekommen, statt wie heute nach 12 oder 24 Monaten der Sozialhilfe anheim zu fallen. Vorgesehen sind außerdem für jüngere Hartz IV-Bezieher weniger Sanktionen, jedoch keine Anhebungen der Bezüge außer der Reihe. Die bisherigen Regelsätze sollen unverändert bleiben. Auf das Vermögen der Empfänger des „Bürgergelds“ soll nicht so schnell zugegriffen werden können wie bei Hartz IV. Zudem soll es bessere Leistungen für Kinder – die Kindergrundsicherung – geben. Weiterhin ist eine schrittweise Anhebung des Mindestlohns auf 12 € sowie eine Ausweitung von Qualifizierungsangeboten für Arbeitslose vorgesehen. Gefordert werden außerdem Zeitkonten für Überstunden und das Anrecht auf Home Office. Die Tarifbindung soll u.a. durch steuerliche Anreize gestärkt werden.
Ein weiterer Schritt in Richtung „neuer Sozialstaat“ ist die Grundrente, von Hubertus Heil als „Respektrente“ bezeichnet. Damit sollen Geringverdiener bessergestellt werden als Menschen, die nicht oder nur wenig gearbeitet haben. Wer mindestens 35 Jahre sozialversicherungspflichtig in Voll- oder Teilzeit gearbeitet hat oder entsprechende Zeiten der Kindererziehung oder Angehörigenpflege nachweisen kann, soll nicht mehr in die Grundsicherung fallen, wie die Sozialhilfe im Alter heißt. Stattdessen würde die Rentenkasse automatisch die erworbenen sogenannten Rentenpunkte hochstufen und einen Zuschuss bezahlen, mit dem Betroffene unterm Strich mehr Geld als in der Grundsicherung hätten. Im Maximalfall läge das Plus bei 447 € im Monat (Hannoversche Allgemeine vom 4.2.). Das vorgebliche Ziel wird dennoch verfehlt, denn die Grundrentenbeträge bleiben in der Armutszone, sie bieten also keinen Schutz vor Altersarmut.
So steht das im Prinzip auch im Koalitionsvertrag – nicht viel Neues also. Der Streit entzündet sich daran, dass die SPD keine Bedürftigkeitsprüfung mehr vorsieht. Die Union wirft der SPD nun vor, damit den Koalitionsvertrag brechen zu wollen und kündigt massiven Widerstand an. In den Reaktionen aus der SPD zeigt sich, wie gespalten die Partei in dieser Frage in sich selber ist. Der Mittelstandsbeauftragte der SPD, Harald Christ, beobachtet die Entwicklung seiner Partei mit Sorge. Er fordert einen Kurs der Mitte und warnt vor einem Wettbewerb mit der Linkspartei. Anderenfalls sieht er für die Zukunft der SPD schwarz.
Für die Linke begrüßt Vorsitzender Riexinger die Grundrente als einen Schritt in die richtige Richtung. Vor allem Rentnerinnen und Rentner in Ostdeutschland könnten davon profitieren. Er ist allerdings der Meinung, dass sie zu kurz greift, denn sie löst das Problem der Altersarmut, besonders von Frauen und jüngeren Generationen nicht, denn sie geht mit den geforderten 35 Beitragsjahren an der Lebensrealität vieler Menschen vorbei.
Völlig unannehmbar ist das neue Sozialstaatskonzept der SPD für die Unternehmerverbände. BDI-Präsident Kramer warnte vor „einer Rolle rückwärts in ein sozialpolitisches Denken des letzten Jahrhunderts, das die Wirtschaft abwürgt und eine hohe Arbeitslosigkeit zur Folge hat.“
Entgegen dem Getrommel von Union, FDP und der Wirtschaft vom „Linksruck“ der SPD entpuppt sich das Konzept des „Sozialstaats für eine neue Zeit“, mit dem sie Hartz IV hinter sich lassen will, als ein Schrittchen in die richtige Richtung. Wenn das allerdings alles an Erneuerung sein soll, was sich die Sozialdemokratie vorstellen kann, so zeigt das, wie weit sich die SPD von ihren ehemaligen Forderungen, als sie noch traditionelle sozialdemokratische Inhalte hatte, entfernt hat.
Doch wie will die SPD ihre Vorhaben nun durchsetzen? In der Großen Koalition wird ihr das kaum gelingen. Hier müssen wir uns nun ein wenig ins Reich der Spekulationen begeben. Die SPD könnte ja immer wieder versuchen, der CDU/CSU den schwarzen Peter zuzuschieben und darauf hinweisen, dass sie als SPD ja schon wolle – allein ihre arbeitnehmerfreundlichen Vorhaben ließen sich mit der Union nicht verwirklichen. Diese allzu offensichtliche und leicht durchschaubare Taktik würde von den Wählerinnen und Wählern nicht hingenommen. Außerdem müssten die Medien mitspielen, die bei der Bildung der GroKo die Frage der Staatsverantwortung hauptsächlich bei der SPD sahen und weniger bei der FDP, die sich ja mit ihrem feigen Rückzug aus den Verhandlungen für die Jamaika-Koalition vor der Regierungsverantwortung gedrückt hatte. Bliebe als Alternative die Beendigung der Koalition – aber das hat Nahles kategorisch ausgeschlossen. Eine weitere Möglichkeit wäre, das ganze „Erneuerungsprogramm“ lediglich als linkes Blinken abzutun und es, bevor es überhaupt wirklich spruchreif ist, um des lieben Koalitionsfriedens willen gleich wieder in die Tonne zu treten. Damit würde die SPD nun das Restchen Vertrauen, das sie noch genießt, verspielen – geht eigentlich auch nicht. Da bleibt nun nicht mehr viel übrig. Ein Einstehen für das neue Sozialstaatsmodell könnte Glaubwürdigkeit bringen, die Aufkündigung der Koalition würde von der Union ausgehen und die SPD könnte in Sachen Vertrauen bei den Wählerinnen und Wählern punkten – so Nahles denn da mitspielt. Anders ausgedrückt, die SPD macht dieses neue Sozialstaatsprogramm zu einem Teil ihres Wahlprogramms und verschafft sich eine ganz passable Position für Neuwahlen.
Aber da war doch noch etwas: Dass die SPD sich in ihrem neuen Sozialstaatsmodell nur auf Korrekturen der Agenda 2010 einlässt, ohne diesen „Sündenfall“ als eine Ursache ihrer Unglaubwürdigkeit einzugestehen, ist die eine Sache. Die andere, die geflissentlich außen vor bleibt, ist die Frage der finanziellen Schieflage in Deutschland. Von einer Umverteilung von Oben nach Unten ist in der SPD anscheinend nicht die Rede, bzw. es kommt nichts davon an die Öffentlichkeit. Unter der Kohl-Regierung lag der Spitzensatz bei der Einkommensteuer bei knapp 54%, es brauchte schon die „rot“-grüne Regierung Schröder-Fischer, um diesen auf 42% zu senken. Der Satz der Körperschaftsteuer sank von 50% ab 1989 auf heute 15%: lauter zusätzliche Geschenke an die Reichen in diesem Lande; Geschenke, die nach verschiedenen Berechnungen um die 50 Milliarden Euro jährlich ausmachen – und das seit 2002. Zusätzlich wurde hier der größte Niedriglohnsektor in der EU eingeführt, was maßgeblich zum Status Deutschlands als Exportweltmeister beigetragen hat auf Kosten der anderen EU-Staaten; andererseits hat gerade dies die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland immer weiter aufgehen lassen.
Auf der Tagesordnung müssten außerdem die Wiedereinführung der Vermögensteuer und eine gerechtere Erbschaftsteuer sowie eine Besteuerung der Spekulationsgewinne stehen. Von all dem ist beim „Linksruck“ der SPD nichts zu vernehmen. Mit dem dann gut gefüllten Staatssäckel könnten längst überfällige Investitionen in die Infrastruktur getätigt werden; z.B. könnten Schulen saniert oder im Gesundheitssystem die Privatisierungen zum Zweck der Profitbildung wieder rückgängig gemacht werden. Die Liste wäre lang…!
Mit einem solchen Programm könnte die SPD die Linke ins Boot holen; allerdings reicht das auch nicht für eine Regierungsmehrheit und ob die Grünen sich an einer Koalition mit diesen Inhalten beteiligen würden, muss bezweifelt werden.
Abgesehen davon ist in der deutschen Bevölkerung weder Bereitschaft noch Akzeptanz für eine Regierung aus SPD, Linken und Grünen vorhanden. Denn die Gesellschaft wartet nicht auf einen Linkskurs.
Aber Schluss mit den Spekulationen!
Fazit ist, die SPD hat die Lage erkannt und beginnt trotz ihrer momentanen 15% einen Überlebenskampf zu führen. Sie muss sich wenigsten ein bisschen in ein alt-sozialdemokratisches Mäntelchen hüllen, um bei den anstehenden Landtagswahlen in Bremen, Sachsen, Thüringen und Brandenburg nicht marginalisiert zu werden.
Das dürfte wohl auch einer der Hauptgründe für das Programm des neuen Sozialstaats sein – Parteiführung und Mitglieder wissen, dass ihnen das Wasser bis zum Halse steht. Weitere deutliche Verluste bei den kommenden Wahlen bedeuten auch einen weiteren Verlust von Posten, die zu vergeben sind, und einen herben Einbruch der Parteifinanzen. Wenn beides weniger vorhanden ist, wird der ganze Parteiapparat schrumpfen müssen. Wie sich das auf die Aktivitäten und die Attraktivität der SPD im Lande auswirken wird, liegt auf der Hand.
Zum Schluss soll ein Absatz des Artikels aus der Frühjahrsnummer 2018 zur Einschätzung des neuen „Linksrucks“ herangezogen werden:
„Aber die SPD konnte sich auch nicht zu einer echten Kurskorrektur durchringen. Es ist auch fraglich, ob das dieser SPD überhaupt möglich ist. Denn sie müsste sich dazu tiefgreifend ändern und Positionen und Begründungen aufgeben, die man bisher als Leistung und Erfolg der SPD verkauft hat.
Die SPD will der Anwalt der Bevölkerung für soziale und progressive Themen sein. In der Realität akzeptiert sie aber stillschweigend die Bedingung, das nur unter Bejahung und strikter Beachtung der kapitalistischen Logik und der sich daraus ergebenden Grenzen zu machen. Im Konfliktfall muss das Soziale und Progressive dann des Öfteren hinter anderen Interessen, die als Allgemeinwohl, Staatsinteressen, Marktzwänge etc. verkauft werden, zurücktreten.
Diese Haltung müsste die SPD aufgeben. Damit ist noch nicht gemeint, dass die SPD konsequent antikapitalistisch werden müsste. Aber sie müsste sich wieder ernsthaft fragen, welche Interessen sie eigentlich vertreten will.“