Bei den Wahlen am 21. Dezember erhielt Boris Johnson eine große Mehrheit. Labour verlor 59 Sitze. Das war das schlechteste Abschneiden seit 1935. Wie ich schon zu sehr vielen Genossen gesagt habe: „Jeder mit einem bißchen Hirn konnte das kommen sehen.“ Steve Howell, der bei den Wahlen 2017 der stellvertretende Direktor für Strategie und Kommunikation für Corbyn gewesen war und das Buch „Game Changer: Eight Weeks That Transformed British Politics“ (Neuanfang: Acht Wochen, die die britische Politik veränderten), sah vor der Wahl den Verlust an Mandaten von Abgeordneten voraus, die für einen Brexit gewählt worden waren. Er nahm als Grundlage die Ergebnisse der Kommunalwahlen unter May und der Europa-Wahlen, die drei Wochen später stattgefunden hatten.

Ein Bericht des Thinktanks „Onward“ vom Oktober 2019 ermahnte die Tories, sich auf die „Rugby League Towns“ im Norden von England zu konzentrieren. (19 von den 20 Sitzen dort gingen von Labour an die Tories.) Die Rugby League, ein Anti-Establishment-Sport der Arbeiterklasse, wurde 1895 gegründet, als sich die Rugby-Klubs im Norden von der Rugby Union lösten, die von Männern der Oberklasse hauptsächlich aus dem Süden dominiert war.

Die Deindustrialisierung und der ökonomische Niedergang, die in den Thatcher-Jahren begonnen hatten und von Tony Blair fortgesetzt wurden, gefolgt von zehn Jahren der Austeritätspolitik aufgrund der Finanzkrise, haben dazu geführt, dass man sich von London im Stich gelassen fühlt, weil der Reichtum sich in die Hauptstadt und ihre Umgebung verschoben hat. „Onward“ stellte fest, dass die gegenwärtige Stimmung in den deindustrialisierten Regionen sich gegen den ökonomischen Liberalismus richtet, der die Ursache für das Elend so mancher und das Wohlergehen von anderen anderswo ist.

Die Abstimmung für den Brexit stellte einen Protest gegen diese ganze Entwicklung von den 1980ern bis heute dar, welche die Wirtschaftspolitik der EU noch fördert; ebenso die Tatsache, dass die EU ein undemokratisches und niemandem Rechenschaft schuldiges Gebilde ist. Ohne Experten in Geschichte zu sein, lernen die Briten in der Schule etwas über den Bürgerkrieg zwischen dem Parlament und dem Monarchen, der bis 1649 dauerte.Das Ergebnis war, dass der damalige König Karl I. geköpft wurde, am 30. Januar vor 371 Jahren. In jeder Stadt hier gibt es mindestens ein Pub mit dem Namen „The King´s Head“ mit einem Portrait davon, das vor dem Pub hängt.

Mit Slogans wie „Get Brexit Done“ und Take Back Control“ erschienen die Tories wie die Partei gegen das Establishment, nach dreieinhalb Jahren der Sabotage des Parlaments. Sie ließen die Labour Party wie die Vertreter des Establishments aussehen, da diese versprach, ein neues Abkommen auszuhandeln, aber auch, nochmals ein Referendum abzuhalten mit „Remain“ (Verbleiben) als Option.

Während des Bürgerkriegs kämpfte der linke Flügel von Oliver Cromwells Armee, die Levellers, Diggers und Agitators, unsere ersten Sozialisten, darum, die Demokratie auszudehnen. Andere wie die Chartisten in den 1840er Jahren und verschiedene Bewegungen seither, einschließlich der Frauenbewegung, kämpfen weiter. Dennoch arbeiten Elemente der Mittelklasse, die sogenannte „liberale Elite“, wie die Medien sie nennen, daran, das Ergebnis einer Übung in Demokratie zu kippen, indem sie die Brexit-Befürworter aus der Arbeiterklasse als „ignorant, rassistisch und alt“ abstempeln. Das hat natürlich viel Ärger und Feindschaft gegenüber der hauptstädtischen oder liberalen Elite erzeugt.

Die Sitze für Labour gingen von 262 auf 203 zurück. Viele der Verluste gab es in Wahlkreisen, die seit 60, manche sogar seit 100 Jahren von Labour repräsentiert wurden. In 24 von ihnen war noch nie ein Tory gewählt worden. Obwohl Labour, wie andere Parteien im Parlament auch, versprach, die Brexit-Abstimmung von 2016 zu respektieren, übten Rechte, Blair-Anhänger und sogar Linke, vornehmlich in London, Druck auf Corbyn aus, bis Labour schließlich Mitte 2019 zu einer Anti-Brexit-Partei geworden war. Viele Abgeordnete, aber auch andere Parteimitglieder, wiederholten die Behauptung der liberalen Elite, dass Brexit-Wähler ignorant, rassistisch und alt seien. Caroline Flint, die ihren Sitz verlor, behauptet, dass Emily Thornberry einem anderen Labour-Abgeordneten aus einem Wahlkreis, in dem für den Austritt gestimmt worden war, erzählte: „Ich bin froh, dass meine Wähler nicht so dumm sind wie Deine.“ Thornberry, die in London gewählt war und gegen den Austritt eingetreten war, bestreitet das. Meinungsumfragen haben aber herausgefunden, dass der Hauptgrund darin bestand, dass man die Souveränität von den nicht gewählten EU-Bürokraten zurückgewinnen wollte.

Die Labour Party verlor sechs von den sieben Sitzen, die sie in Schottland das letzte mal erhalten hatte. Früher war Schottland eine Bastion von Labour. Die Unterstützung für sie schmolz in den Blair-Jahren weg, als die nationalistische SNP sie als Verteidiger gegen die Politik aus London ersetzte. Die Regierung der SNP führte nicht viele der neoliberalen Maßnahmen durch. Leute vom linken Flügel ersetzten die Blair-Anhänger bei Labour in Schottland. 2017 begann eine Erholung, aber sie hielt nicht lange an. 2016 stimmte Schottland gegen den Brexit, daher dringt die SNP auf ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit. Wenn sie dieses gewänne, würde sie eine Mitgliedschaft in der EU beantragen. Schottland war jahrhundertelang unabhängig, seine juristische Vereinigung mit England (und mit Wales, das schon 1283 von England unterjocht wurde) erfolgte erst 1707.

In Wales, das für den Brexit stimmte, verlor Labour Sitze und die Konservativen steigerten ihre Anzahl von sechs auf vierzehn. Plaid Cymru, die Nationalisten, behielten ihre vier Sitze, die Liberaldemokaten, die Partei, die am stärksten für die EU war, verloren ihren einen Sitz und die Brexit Party gewann keinen Sitz. Die Labour-Regierung in Wales hatte sich für ein neues Referendum ausgesprochen; ihre linke Führung favorisierte einen Verbleib in der EU. Wie auch in England, verlor Labour massiv in den früheren Kohlebergbauregionen.

Nordirland, das 2016 für einen Verbleib gestimmt hatte, erlitt einen Schock: Die Republikaner und die Nationalisten gewannen eine Mehrheit. Die reaktionäre DUP verlor zwei Sitze, einen davon an John Finucane von Sinn Fein. Dessen Vater Pat Finucane, ein Bürgerrechtsanwalt, war von einer Todesschwadron mit Verbindungen zum britischen Staat ermordet worden. Seine Familie hat seitdem immer für eine öffentliche Untersuchung gekämpft. (In den letzten Jahren ist mehr über verschiedene Morde ans Licht gekommen, die von Todesschwadronen begangen wurden und bei denen Paramilitärs, Polizei und britische Soldaten involviert waren.) Diese neue Mehrheit hat die Forderung nach einem „border-poll“, (einer Abstimmung über die Grenze) lauter werden lassen, um herauszufinden, ob eine Mehrheit einen Zusammenschluß mit der Irischen Republik befürwortet, der dieses künstliche Sechs-Grafschaften-Gebilde beenden und Irland wieder vereinen würde.

Jeremy Corbyn hat seinen Rücktritt als Vorsitzender von Labour angekündigt. Der Prozess, einen neuen zu finden und einen Stellvertreter, ist imgange. Tom Watson, der bisherige zweite Vorsitzende, der Corbyn bei jeder Gelegenheit sabotiert hatte, trat schon beim Beginn der Wahlen zurück. Corbyn, einer der ehrenhaftesten Männer, die man in der Politik finden kann, hat sein Leben lang gegen Rassismus, Imperialismus und Ungerechtigkeit gekämpft, für nationale Befreiung und Sozialismus. Er hatte nicht nur die Medien gegen sich, wie die meisten anderen Parteien, sondern auch Elemente in seiner eigenen Partei, insbesondere die meisten der Unterhaus-Abgeordneten von Labour. Glücklicherweise wurde keiner von denen gewählt, die kurz vor den Wahlen aus der Partei ausgetreten waren, vermutlich wegen Corbyns Nachsicht in Hinsicht auf die „Antisemitismus“-Vorwürfe. Die lautstärkste der jüdischen Organisationen, der „Board of Deputies of British Jews“, der 20 bis 30 % derjenigen repräsentiert, die sich als jüdisch definieren, agitierte andauernd gegen Corbyn und Labour. Andere jüdische Organisationen, entweder von der Linken oder welche, die die israelischen Siedler nicht unterstützen bis zu denjenigen, die nicht einmal den jüdischen Staat anerkennen, kommen bei den Medienmonopolen so gut wie überhaupt nicht vor. Aber Corbyn und Labour wurde von vielen, die politisch Corbyn unterstützten, der Garaus gemacht. Diese desaströse Niederlage war vermeidbar; Labour hätte sich niemals von der Anerkennung des Referendums von 2016 abwenden dürfen. Die Labour-Wähler, die im Norden und in den Midlands massiv für den Brexit gestimmt hatten, fühlten sich betrogen. Aus Enttäuschung über die Blair-Regierungen hatte die Partei zwischen 1997 und 2010 Millionen von Wählern verloren. 2017 hat Corbyn Millionen von ihnen zurückerobert; diese jümgste Enttäuschung wird nicht so leicht zu überwinden sein.

Die Desillusionierung über die Politiker und die Feindschaft gegen London werden in den älteren Generationen lange anhalten. Ich gebe zu, dass ich alt bin, aber ich empfinde mich selbst nicht als ignorant, auch wenn ich die Schule schon mit fünfzehn verlassen habe. Ich habe immer den Rassismus bekämpft. Dieses Desaster habe ich aber kommen sehen, wenn ich es auch in meinem Artikel in der Arbeiterstimme vom Winter nicht als so schlimm vorausgesehen habe.

 

m.j., 7.2. 2020