Als nach der Präsidentschaftswahl vom 18. Oktober 2020 in Bolivien die Stimmen ausgezählt waren, konnten alle aufatmen, die die Monate vorher unter dem Chaos, dem Terror und der Anarchie der sog. Übergangs -bzw. Putschregierung zu leiden hatten. Zum Sieger erklärte die Oberste Wahlbehörde den Präsidentschaftskandidaten der Bewegung zum Sozialismus MAS (Movimiento Al Socialismo), Luis Arce, der mit 55,14 Prozent der Stimmen (3.391.607 Wähler*innen) ein von den meisten Beobachtern unerwartet hohes Ergebnis erreichte. Der langjährige erfolgreiche Wirtschafts- und Finanzminister unter Evo Morales war zusammen mit David Choquehuanca, dem ehemaligen Außenminister Boliviens, angetreten. Die bürgerliche Opposition war mit zwei Kandidaten ins Rennen gegangen und rechnete fest mit einem zweiten Wahlgang. Der eine war Carlos Mesa, ein früherer Präsident, Vertreter des eher liberalen Bürgertums. Er erreichte für die Partei Comunidad Ciudana (CC) 28,87 Prozent, während der ultrarechte Luis Fernando Camacho von der Partei Creemos („wir glauben“) mit 13,92 Prozent den dritten Platz belegte. Camacho wird gelegentlich als bolivianischer Bolsonaro bezeichnet. Somit war kein zweiter Wahlgang erforderlich, denn der Abstand von Luis Arce zum Zweitplazierten ist mit 26 Prozentpunkten mehr als ausreichend. Am selben Tag fanden auch Parlamentswahlen statt. In den beiden Kammern, Senat und Abgeordnetenhaus erreichte die MAS die absolute Mehrheit. Im Senat ist das Verhältnis 21:15 und im Parlament 75:55. Allerdings verlor sie in der Plurinationalen Versammlung (Asamblea Legislativa Plurinacional) die 2/3 – Mehrheit, sodass u.a. bei Verfassungsänderungen die Unterstützung durch weitere Abgeordnete nötig ist. Bemerkenswert und nicht zu unterschätzen ist auch, dass der Frauenanteil bei den Abgeordneten über 50 Prozent liegt. Im weltweiten Ranking (Frauenanteil im Parlament) nimmt Bolivien jetzt hinter Ruanda und Kuba den dritten Platz ein, während der deutsche Bundestag mit Platz 48 weit abgeschlagen ist. In der neuen Regierung sind allerdings die Frauen deutlich unterrepräsentiert(nur drei von 16 Ministern sind Frauen). Die Wahlbeteiligung zeigt mit 88,43 Prozent trotz Pandemie und langer Warteschlangen vor den Wahllokalen einen hohen Politisierungsgrad der Bevölkerung. Die selbsternannte Präsidentin Jeanine Anez verweigerte die Amtsübergabe und verschwand.

Ein Blick zurück

Die Nominierung von Evo Morales und Alvaro Garcia Linera für eine vierte Amtszeit scheint – wie immer man die Begründung dafür werten mag – ein taktischer Fehler gewesen zu sein und bot der Opposition die Gelegenheit, das Gerücht zu streuen, der Präsident strebe die Präsidentschaft auf Lebenszeit an. Wie die aktuelle Personallage der MAS zeigt, verfügt sie über genügend qualifizierte Führungspersönlichkeiten, Männer wie Frauen. Was aber den Putsch gegen Morales betrifft, ging es nicht um die Demokratiefrage, sondern um die Machtfrage. Auch die in deutschen Medien vielfach bemühte Debatte, ob es sich bei den Auseinandersetzungen um das Wahlergebnis um einen Putsch gehandelt habe, da der Präsident ja „freiwillig“ zurückgetreten sei, geht am Kern des Problems vorbei. Die reaktionären Kräfte Boliviens haben sich nie besonders um demokratische Gepflogenheiten gekümmert. Sie putschten immer, wenn es ihnen opportun erschien. Mehr als 200 Militärputsche in der Geschichte des Landes zeugen davon. Erst mit der Regierungszeit von Evo Morales kehrte eine längere Zeit der politischen Stabilität ein. Es gab auch in der Amtszeit von Evo Morales einige Vorfälle, die darauf hinweisen, dass dieser „Indio“, den sie nie akzeptierten, gewaltsam beseitigt werden sollte. Etwa zwei Jahre nach seinem Amtsantritt stürzte im Juli 2008 ein Hubschrauber ab, den der Präsident am Tag darauf benutzen wollte. Alle Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Zufall? Im November 2019 kam es wieder zu einer „technischen Panne“, diesmal war Evo Morales an Bord. Der Pilot konnte den Hubschrauber gerade noch in einer waghalsigen Aktion auf den Boden bringen. Der Absturz war bereits vorher aus Putschkreisen angekündigt worden. Im Jahr 2013 wurde Morales mit einem Vorgang konfroniert, der an Dreistigkeit kaum zu überbieten ist. Auf dem Rückflug von einem Staatsbesuch in Russland wurde dem Flugzeug der Regierungsdelegation mit dem Präsidenten an Bord von den NATO-Staaten Italien,Portugal, Spanien und Frankreich der Überflug des Luftraums verwehrt. Außerdem wurde eine Zwischenlandung zum Auftanken abgelehnt und damit eine Gefährdung des Lebens des Präsidenten und der gesamten Besatzung in kauf genommen. Nach einer kurzfristig genehmigten Zwischenlandung in Österreich, hielt man Morales mit seinen Leuten 13 Stunden fest. Das gesamte Vorgehen war ein Verstoß gegen internationales Recht, ein Akt der Piraterie.

Die Probleme werden nicht weniger

Auch die neue Regierung unter Luis Arce hat es mit einem Gegner zu tun, der vor keinen Mitteln zurückschreckt, um die fortschrittlichen Kräfte wieder zu entmachten. Es spricht nicht viel dafür, dass die Bourgeoisie das Wahlergebnis akzeptiert. Die wirtschaftliche Macht ist weiterhin in der Hand der zur Putschbereitschaft tendierenden Oligarchie. Vor allem der agroindustrielle Teil dieser Oligarchie war ein wichtiger Akteur des Staatsstreichs und wird es weiterhin bleiben, obwohl ihm Morales deutliche Zugeständnisse gemacht hatte. Bolivien ist nach 13 Jahren unter einer fortschrittlichen Regierung nicht mehr das ärmste Land Lateinamerikas. Vor allem durch die Lithiumvorräte im Salar de Uyuni, dem größten Salzsee der Welt, ist das Land noch mehr in den Fokus des Interesses internationaler Konzerne geraten. Es soll sich um 21 Millionen Tonnen handeln, etwa 30 Prozent – andere sprechen von bis zu 50 Prozent - der weltweiten Reserven. Der kanadisch-US-amerikanische Multimilliardär Elon Musk („Wir putschen gegen jeden,wann immer wir wollen…“) hätte sich sicher gerne um diese Vorräte „gekümmert“, allerdings war er nur am Rohstoff interessiert. Dazu war Evo Morales nicht bereit, und die aktuelle Regierung wird es genauso wenig sein. Vermutlich wird dort angesetzt, wo man 2018 schon mal war. Damals erhielt der Mittelständler ACI Systems aus Baden-Württemberg den Zuschlag, aber auch chinesische Firmen sind beteiligt. Das Joint-Venture mit dem Staatskonzern YLB garantiert der bolivianischen Seite einen Anteil von 51 Prozent. Außerdem erfolgt ein Großteil der Wertschöpfung in Bolivien, ein entscheidender Schritt, um die Abhängigkeit vom Extraktivismus* deutlich zu reduzieren. Durch die Putschereignisse vom November 2019 konnten die Pläne nicht weiterentwickelt werden. Ob die neue Regierung die Verhandlungen mit der deutschen Firma weiterführt, wird sich zeigen. Arce wies darauf hin, die bolivianische Lithiumförderung hänge „nicht von einer einzelnen Firma ab“. Er wird nicht vergessen haben, wie schnell sich die deutsche Regierung einschließlich der Opposition (die Linkspartei ausgenommen) auf die Seite der Putschisten gestellt hat.

Die Regierung Arce wird dort ansetzen, wo die Regierung Morales im Oktober 2019 aufgehört hat. Sie wird das medizinische Personal aus Kuba , das vom Putschregime vertrieben wurde ( ca.700), wieder zurückholen, um den weiteren Niedergang des Gesundheitssystems zu stoppen und die Pandemie in den Griff zu bekommen. Außerdem müssen die Außenbeziehungen geklärt werden. 80 Prozent der Botschafter*innen waren entlassen worden. Der Austritt aus dem ALBA-Bündnis ist rückgängig zu machen. Ebenso sollen die lateinamerikanischen Staatenbündnisse UNASUR und CELAC wieder mit Leben erfüllt werden. Letztere Vorhaben brauchen benötigen Zeit und gründliche Vorbereitung.

Eine Woche nach seiner Rückkehr aus dem Exil hat Evo Morales wieder die Führung der von ihm gegründeten Regierungspartei Bewegung für den Sozialismus (MAS) übernommen. Da die MAS seit ihrer Gründung gleichzeitig Bewegung und Partei ist, kann ihr eine größere Unabhängigeit, auch in personeller Hinsicht, von staatlichen Strukturen nicht schaden. Die Herausforderungen für die neue Regierung sind immens. Ein schwelender Konflikt zwischen Regierung und Tieflandindios um den Bau einer Fernstraße durch ein Naturschutzgebiet im Amazonasbecken zieht sich schon über längere Zeit hin. Die Jahre, in denen hohe Rohstoffpreise die Staatskasse absicherten, sind vorerst vorbei. Die Einführung einer Reichensteuer ist bereits angekündigt, wird aber nur einige Lücken im Haushalt füllen. Für die Durchsetzung eines grundsätzlich anderen Wirtschaftsmodells sind für absehbare Zeit angesichts des globalen Kräfteverhältnisses die Bedingungen nicht gegeben. Trotz all der Unwägbarkeiten darf man behaupten: Die fortschrittlichen Kräfte gehen gestärkt aus den Turbulenzen des vergangenen Jahres hervor. Es war deutlich mehr als nur ein Wahlsieg.

(*) Extraktivismus und Neo-Extraktivismus sind zwei Begriffe, die das vorherrschende Wirtschaftsmodell fast aller lateinamerikanischen Ländern kennzeichnen, nämlich die Abhängigkeit von Rohstoffexporten. Im Unterschied zum Extraktivismus spielt im Neo-Extraktivismus der Staat die entscheidende Rolle bei der Aneignung und Verwendung der Gewinne aus den Rohstoffexporten. Die bolivarianischen Staaten wie etwa Bolivien oder Venezuela benutzen diese Einnahmen verstärkt für eine Verbesserung der materiellen Lage der ärmeren Schichten.

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von links: Präsident Luis Arce, Vizepräsident David Choquehuanca, Senatspräsident Andronico Rodriguez