Nicht nur die Synagogen brannten - Der 9. November und die deutsche Geschichte
Jörg Wollenberg
Wird alles wieder so, wie es schon einmal war?
"Ein Albtraum droht mir das Herz zuzuschnüren: es kann doch nicht sein, dass sich alles noch einmal wiederholt“. So begann ein am 9. November 1992 verfasster Brief. Er erreichte mich in meiner damaligen Wohnung in Nürnberg am Kaulbachplatz, verfasst von einem Freund und politischen Mitstreiter. Er fuhr fort:
„Genau vor 54 Jahren hatte ich das schrecklichste Erlebnis meiner Kindheit. In jenem November 1938 lief ich durch die Nachbarschaft, bis ich zufällig zum Nürnberger Kaulbachplatz kam. In diesem Viertel waren die großräumigen Jugendstilhäuser meist von wohlhabenden Juden bewohnt. Aber nun, nach dieser furchtbaren Nacht, in der die SA-Horden gewütet hatten, bot sich mir Neunjährigem ein Bild des Schreckens. Auf den Straßen lagen aufgeschlitzte Betten, zerstörter Hausrat und auf den zerschlagenen Möbeln saßen jüdische Frauen und heulten ihren Männern nach, die von den braunen Schergen abgeholt worden waren, manche auf Nimmer-wiedersehen. Überall lagen Glassplitter. Ich stand da wie gelähmt, das Elend, dass sich mir kleinem Buben auftat, war so erschütternd, dass momentan aller Nazieinfluss durch Schule und Jungvolk einfach in den Hintergrund trat. Was ich am Kaulbachplatz nicht angetroffen hatte, waren die den Schergen Beifall klatschenden Nachbarn (wie es woanders leider durchaus gewesen war). Das entsetzliche Geschehen hat mich nie wieder vergessen lassen, was Menschen Menschen antun können."
Mit dieser Erinnerung an den Judenpogrom von 1938 drückte am 9. November 1992 Hans Steiger seine Betroffenheit darüber aus, was sich nur eine Generation später in anderer Weise noch einmal zu wiederholen drohte und 1938 den Auftakt für den Holocaust lieferte:
1992 zogen grölende Rechtsradikale mit Nazisymbolen ungestraft durch die Straßen, brannten Häuser nieder, schmähten Minderheiten, schändeten jüdische Friedhöfe und verbrannten Menschen. Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen stehen für den im geeinten Deutschland gewaltsam wieder aufbrechenden Rechtsextremismus und Rassismus. Und anders als bei ähnlichen Ausschreitungen in der alten Bundesrepublik konnten die Täter mit dem Beifall des gaffenden Publikums rechnen. Für alle sichtbar ist ein Tabu gebrochen. Man darf sich im neuen Deutschland als fremdenfeindlich bekennen. Die Medienwirksamkeit dieser Ereignisse trägt dazu bei, dass die Gewalt der Straße sich durch die Politik bestätigt findet. Wurde z.B. noch im Jahre 1991 in den sogenannten neuen Ländern die Asylantenfrage erst an 11. Stelle der dringenden politischen Probleme genannt, weit hinter Arbeitslosigkeit, Umweltschutz und Wohnungsnot, so ist durch die von den politisch Verantwortlichen bewusst gesteuerte Diskussion um die Neuordnung des Asylrechts der Ausländerhass und die Furcht vor einer angeblichen Asylantenschwemme immer mehr gefördert worden. Deutschland im Herbst 1992, das bedeutete das Brennen von Flüchtlingsunterkünften. Deutsche Helden warfen schlafenden Kindern Brandbomben in die Betten. Und weil so viele normale Bürger diesem Massenmord applaudierend beiwohnten, verbreitete sich die Parole: "Don't worry, be Nazi".
Gewiss sind die politischen Konstellationen ganz andere, aber gibt es nicht auch politische Parallelen, die zum Nachdenken zwingen? Begannen nicht beide Ereignisse mit der Aufhebung von Grundrechten und der Einführung von Sonderrechten? Diesmal nicht für Juden, die zahlenmäßig zu unbedeutend sind, da-für haben die Nazis gesorgt, sondern jetzt sind es die Ausländer, speziell die Asylbewerber und dabei besonders die "Schwarzen" und die "Zigeuner". Ist es nicht die gleiche Permanenz einer Hasswelle, die die Polarisierung in der Gesellschaft vorangetrieben hat und die das sowieso schon vorhandene Gewaltmilieu stimuliert? Geht es auch diesmal wieder um ein Politikverständnis, das sich davon prägen läßt, dem Druck der Straße nachzugeben? Gewiss, noch führen Sonderrechte nicht zum formal legalisierten Massenmord. Nicht um die Vernichtung der Juden geht es, sondern vorläufig nur um das Abdrängen ungewünschter Ausländer aus der Wohlstandsfestung Deutschland. Noch nimmt man ihnen nicht, wie nach 1933 den Juden, die Berufe. Noch wird ihnen nicht das Besitztum gestohlen. Noch haben sie ihre Wohnungsschlüssel nicht beim Hausmeister abzugeben. Sie dürfen noch erben und vererben, sie dürfen noch auf Parkbänken sitzen, einen Kanarienvogel halten oder Deutsche heiraten. Aber nicht immer ist sicher, ob sie auch in Restaurants, Kinos, im Theater oder in Diskotheken wohlgelitten sind. Noch gelten für sie keine Nürnberger Gesetze zum "Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre", die kein geringerer als der spätere Staatssekretär von Kanzler Adenauer, Hans Globke, 1935 kommentierte. Noch werden ihnen die eingeengten staatsbürgerlichen Rechte nicht durch ein "Reichsbürgergesetz" entzogen. Noch ist ihnen die relative Freizügigkeit nicht genommen. Aber Menschenrechte und Menschenwürde wer-den doch von Zeit zu Zeit in den Staub getreten. Ausweisungen als Vorstufe von Deportationen stehen bevor bzw. wurden an Sinti und Roma oder an Kurden schon vollzogen. Und weil nach der Straße nun die extreme Rechte auch wieder in Parlamente eindringt und in den Köpfen der Bürger Gehör gewinnt, liegt rassistische Ausgrenzungspolitik im Trend. Wenn ein linker Wortführer wie Jürgen Habermas davor warnt, sich auf die Ängste und Befangenheiten der "Masse" einzulassen und eine populistische Politik zu betreiben, dann reagieren die politisch Verantwortlichen äußerst aufgeregt. Eine kurze Passage im Redetext zum Gedenken an die Reichspogromnacht von 1938 in Frankfurt veranlasste die Christdemokraten, am 9.11.1992 die Paulskirche spontan zu verlassen. Eine eilfertige Distanzierung auch aus den Kreisen der SPD und der Grünen folgte. Der Tübinger Philosophieprofessor Manfred Frank, der designierte Nachfolger auf den Habermas-Lehrstuhl in Frankfurt, hatte am 9. November 1992 nichts anderes getan, als vor einer Anpassung des Grundgesetzes an die Vox populi zu warnen und hatte dabei Parallelen zum 9. November 1938 gezogen. Jürgen Habermas schrieb dazu in seinem „ZEIT“-Essay vom 11. Dezember 1992:
"Der Judenhass war längst aus dem Fremdenhass wieder hervorgetreten. Frank vermied alle falschen Parallelen, aber ein Gedanke zog sich als roter Faden durch die historische Betrachtung: Das Anliegen nationaler Einheit und Selbstbehauptung gegenüber dem „Fremden“ gewinnt in Deutschland seit den „Befreiungskriegen“ des 19. Jahrhunderts immer wieder Vorrang vor der Vereidigung demokratischer Freiheiten. Und dieser Trend hat die Ausbildung eines angemessenen Verständnisses von Demokratie bis heute gehemmt. Frank belegte seine These mit aktuellen Äußerungen quer durchs politische Farbenspektrum - Äußerungen des Tenors, dass die Verfassung der Stimmung im Lande angepasst werden müsse. Und dann wählte er den Vergleich, der erregte Bürger aus dem Saal trieb: 'Goebbels Populismus wusste den Reim auf die Konsequenzen der Anpassung ans unqualifizierte Volksempfinden: 'Wir dachten ein-fach, weil das Volk einfach ist. Wir dachten primitiv, weil das Volk primitiv ist.' Frank stellt keineswegs demokratisch gewählte Politiker auf eine Stufe mit Goebbels, er kritisiert vielmehr das Hintergrundverständnis einer Asyldebatte, das dem politischen Existentialismus eines Carl Schmitt nähersteht als dem in der alten Bundesrepublik herrschenden Verfassungskonsens... Franks Rede war erhellend - auch wegen der skandalösen Reaktionen, die der vermeintliche Skandal auslöste. Denn die hochoffizielle Erregung, die sich der Stadt und des Stadtparlamentes zwei Wochen lang bemächtigte, läßt sich nicht als Lokalposse abtun. Die Spalten der Lokalpresse schwappten über von Ressentiments, die die FAZ (vom 11. November 1992) so zusammenfasste: Was Schoelers Redner bot, war auf ähnliche Weise beschämend wie das Auftreten der Extremisten in Berlin. Diese warfen mit Steinen auf die Repräsentanten der Demokratie, jener bewarf die Bundesregierung und führende Vertreter aller großen demokratischen Parteien mit rhetorischem Schmutz. Ob der Oberbürgermeister wohl in der Lage ist, sich zu seiner Verantwortung zu bekennen?
Die CSU verfährt schon lange nach dem Grundsatz: Wenn die AfD heute Erfolg hat, muß man's dem Gauland nachmachen. Die Asyldebatte läßt sich nicht anders verstehen, als dass diese Maxime über die bayerischen Grenzen hinaus bis tief hinein in die Reihen fast aller Parteien Schule gemacht hat. Wenn die sympathisierende Bevölkerung vor brennenden Asylantenheimen Würstchenbuden aufstellt, ist für die Mehrheitsbeschaffer keine offensive Überzeugungsarbeit an-gesagt, sondern symbolische Politik - eine Politik der Verfassungsänderung, die nichts kostet, auch nichts ändert, aber den dumpfsten Gemütern die Botschaft zukommen läßt: „Das Problem am Fremdenhass sind die Fremden."
Deutschland 1992 - "ein ganz normales Land"?
Soweit Jürgen Habermas' aktualisierte Einmischung von 1992. Wenige Wochen zuvor wetterte der damalige bayerische Ministerpräsident Max Streibl beim politischen Aschermittwoch der CSU in der Passauer Nibelungenhalle am 4. März 1992: "Was wir nicht brauchen können, sind Wirtschaftsschmarotzer aus der ganzen Welt." Wird damit wieder einmal eine neue „Lebenslüge" aufgebaut, vor der Deutschlands unabhängiger Vordenker, Jürgen Habermas, am 11. Dezember 1992 warnte? Angesichts der Renaissance der "nationalen Debatte" und des zunehmenden Patriotismus in allen gesellschaftlichen Schichten ist in der Tat vor den Gefahren des Nationalismus in Deutschland zu warnen.
Dass dieser "Radikalismus der Mitte" inzwischen weit reicht, ist u.a. daran ablesbar, wie das zentrale Sammelbecken der sogenannten Neuen Rechten, die "Junge Freiheit", auf die von der "Zeit" dokumentierte 75. Geburtstagsfeier vom Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt 1994 reagierte: "Man traut seinen Augen nicht. In vielen Diskussionsbeiträgen wimmelt es nur so von konservativen Topoi, als ob sie aus Gerd Klaus Kaltenbrunners Herder-Initiative der 1970er und 80er Jahre stammten: Tugend, Anstand, Sitte, Werteverwirrung, klare Maßstäbe für Recht und Unrecht". Dazu schrieb der rechtskonservative Klaus Hornung: "Man sieht: 'Konservativ ist wieder 'in', das zeigt die Hamburger Debatte aus dem intellektuellen Umfeld der 'linken Mitte' ganz deutlich ... 'konservative' Denkfabriken wie die Hanns-Martin Schleyer-Stiftung oder das 'Studienzentrum Weikendorf' erörtern die Themen und Probleme kaum anders als das Hamburger Symposion". Freilich mit dem kleinen Unterschied, dass rechte Zeitschriften von "Mut" bis "Criticon" diese Fragen schon vor Jahren zum Thema machten.
Das alles geschieht zu einem Zeitpunkt, wo die gesellschaftliche Tabuisierung nationalsozialistischer Positionen - gemeinsam mit deren antisemitischen und rassistischen Untertönen zusammenzubrechen scheint. Seit Ende der 1960er Jahre fand wohl im Gefolge des Auschwitz-Prozesses und der Studentenrevolte eine differenzierte Annäherung an die NS-Zeit statt. In deren Folge gewannen der Judenpogrom und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus eine wichtige Aufgabe für die "Gründungsidee der Bundesrepublik" (Habermas). Aber nach den erneuten Schadensabwicklungsversuchen durch den Historikerstreit endete der "hilflose Antifaschismus" in den achtziger Jahren in der "Gnade der späten Geburt." Noch vor 1989 ging in dem von Ernst Nolte am 8. Juni 1986 in der FAZ eingeleiteten Historikerstreit die Rechnung der sogenannten Re-Nationalisierung auf. Die von Historikern wie Martin Broszat eröffnete "Historisierung des Nationalsozialismus" erleichterte Nolte die Aufrechnung und Relativierung der NS-Verbrechen als ersten Schritt zur Entkriminalisierung der deutschen Geschichte und Rückgewinnung eines gesunden Nationalbewusstseins ("Der Archipel Gulag ist ursprünglicher als Auschwitz"). Die Trennungslinie zwischen neonazistischen und neokonservativen Positionen wurde teilweise ausgelöscht.
Die Risiken dieses Denkens mit der Deutschtümelei und Fremdenfeindlichkeit werden wohl erkannt, aber ihre Querverbindungen in die Wissenschaft und offizielle Politik hinein erschweren die Bekämpfung der sich wissenschaftlich gerierenden Anhänger der "Konservativen Revolution“ (Armin Mohler). Und wie immer in Deutschland sind diese Feinde der Demokratie auch wütende Antisemiten. Es ist sicher kein Zufall, dass alte Stereotypen der politischen Romantik und des Herrenmenschentums von Wagner-Fans - wie dem Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg - wieder fortissimo klingen und Säle füllen. Syberberg verkündete, "dass jüdische Linksintellektuelle wie Adorno, Bloch, Benjamin, Marcuse und Kracauer nur Macht über die Menschen erringen konnten und nichts anderes als eine 'Krüppel-Ästhetik' hervorgebracht hätten. Die Juden sollten sich klarmachen, dass ihre intellektuellen Verdienste und Kulturleistungen 'natürlichen Widerstand wecken'. Unter Hitler hätten daher die 'durch den orientalischen Gott blutig unterdrückten und christianisierten Völker Europas endlich Rache genommen am falschen Gott des alten Testaments'. Nunmehr sei das 'östliche Restdeutschland' nach 40jähriger Gefangenschaft zu neuem Leben erwacht. Die Zeit sei gekommen, um den 'Lebensraum im Osten' wieder zu besetzen und zu den Grenzen des Deutschen Reiches zurückzukehren, - aber nicht zu denen von 1937, sondern zu denen von 1914. Anstatt von Fortschritt und Sozialismus zu sprechen, solle nun endlich von 'Heimat, Reich und Nation' die Rede sein. 'Die Einheit Deutschlands, Schlesien, Schönheit, Gefühl, Begeisterung. Vielleicht sollte man Hitler neu bedenken'". Und selbst in der "Wirtschaftswoche", ein dem Bundesverband der Industrie nahestehendes Organ, konnte der Herausgeber, Prof. Dr. Wolfram Engels, am 12. Juli 1992 ohne öffentlichen Widerspruch die "Erfolgsrezepte" der Nazis zur Lösung heutiger Probleme empfehlen: "In Deutschland ... herrschte seit 1931 Devisenbewirtschaftung, seit 1932 Lohnstopp, seit 1933 Gewerkschaftsverbot. Ab 1936 wurde, zur Vorbereitung des Krieges, eine Planwirtschaft installiert und 1939 voll in Kraft gesetzt. ... Das Privateigentum blieb erhalten, der Gewinn wurde nicht abgeschafft, das Gewinnstreben vielmehr in den Dienst des Wirtschaftsplans gestellt. Die Arbeitslosigkeit ging von rund sechs Millionen im Winter 1932/33 auf 1,6 Millionen 1936 und hunderttausend 1939 zurück. ... Die Wachstumsrate des realen Sozialprodukts lag bei knapp zehn Prozent, die Preissteigerung bei rund einem Prozent pro Jahr. ... Diese Zahlen sind ... aufregend. Können wir auf Erfolgsrezepte nur deshalb verzichten, weil Adolf Hitler sie angewandt hat? Wir verzichten schließlich auch nicht auf die Teilnahme an Olympischen Spielen, auf deutsche Schäferhunde und auf Chorgesang."
Vielfach wurden die über die Nazizeit verhängten Tabus damals gebrochen - auch ein Charakteristikum für die deutsche politische Kultur seit den1990er Jahren. Die deutsche "verletzte Nation" habe lange genug Asche aufs Haupt gestreut, nun wolle man von Auschwitz nichts mehr hören. Die "Büßerrolle" im Hinblick auf die NS-Vergangenheit ist aufzugeben, fordern die vielen Anhänger der "Denkfabriken von rechts".
Wen wundert es, dass in solchen Zeiten der Antisemitismus - nach der Ermordung und Vertreibung der europäischen Juden – erneut eine Chance der Wiederbelebung in seiner Funktion als demagogische Waffe in sozialen und politischen Kämpfen erlebte. Die grundsätzliche Ersetzbarkeit dieses modernen Antisemitismus durch andere Vorurteile wie gegen Ausländer, Aussiedler, Asylanten oder Kommunisten verringert das Maß der akuten Gefahren keineswegs, zumal die Nachwirkungen der NS-Vergangenheit als verpflichtende Erinnerung überall abnehmen und "Normalisierungsprozesse" zu neuen Tabuisierungen führen. Formen der Vertiefung antisemitistischer Verhaltensweisen sind vor allem in der Umgangssprache, in Stereotypen über jüdische Minderheiten zu beobachten. Sie dokumentieren sich aber auch in dem verharmlosenden Umgang mit verhängnisvollen antisemitistischen Traditionen der Geschichtsschreibung. Oder ist es nur Zufall, wenn kurz vor dem deutschen Vereinigungsprozess in der großen Ausstellung über "800 Jahre deutscher Orden" im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg die von Heinrich von Treitschke herausgegebenen "Preußischen Jahrbücher" von 1862 ausgestellt wurden? Der renommierte Historiker Hartmut Boockmann würdigt im Katalog die "Qualitäten dieses bedeutenden Historikers" und charakterisiert gleichzeitig jenen "schwungvoll geschriebenen" Essay Treitschkes von 1862 als "höchst eindrucksvoll". Was aber steht in dem Essay Treitschkes über den deutschen Orden als Vorkämpfer deutschen Expansionsdranges gen Osten? Treitschke beschreibt dort die Ostsiedlung "als das reißende Hinausströmen deutschen Geistes über den Norden und Osten, das gewaltige Schaffen unseres Volkes als Bezwinger, Lehrer, Zuchtmeister unserer Nachbarn". Und zu den später von Hitler durchgeführten schonungslosen Rassenkämpfen im Osten vermerkte Treitschke schon 70 Jahre vorher: "Es weht ein Zauber über jenem Boden, den das edelste deutsche Blut gedüngt hat im Kampfe für den deutschen Namen und die reinsten Güter der Menschheit". Der preußische Propagandist sah das Wirken des Deutschen Ordens als "Siegeszug deutscher Gesittung", während für die Polen die Wegbereiter deutscher Kolonisation im Osten seit Jahrhunderten als Inkarnation brutaler deutscher Expansion und gewalttätiger Germanisierung gelten. Wie sehr der Revisionismus alte Traditionsbestände inzwischen reaktiviert und die politische Kultur im Sinne der lange zum Schweigen verurteilten Vertreter der "Jungkonservativen" Intellektuellen prägt, ist daran ablesbar, dass der in Wien amtierende Deutschorden-Hochmeister auf Einladung des polnischen Schlossmuseums 1993 auf seinen Hochsitz auf der Marienburg bei Danzig zurückkehren durfte - wenn auch vorläufig nur als Besucher. Die Gnade der sehr späten Geburt läßt der historischen Last offenbar keine Chance mehr, heißt es zu diesem Siegeszug deutscher Gesittung im "Spiegel", Nr. 25 von 1993. Wann wird "Seine Exzellenz der hochwürdigste Herr Hochmeister" der Kreuzritter sein Stammschloss zurückkaufen oder gar zurückfordern? Eine heute im Schlossmuseum zu Marienburg wieder ausgelegte Inschrift auf einer Postkarte kündigt seine Rückkehr an:
"Auf der Nagat grünen Wiesen
Steht ein Schloß im Preußenland,
Das die frommen deutschen Riesen
Einst Marienburg genannt."
"Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern, nicht zum Geschenk erhalten" (Georg Friedrich Rebmann, 1793)
Die Gefahren des Nationalsozialismus und Antisemitismus lassen sich auch daran ablesen, wie sensibel und verletzlich man in unserem Lande mit dem 9. November umgeht und ihn in geschichtliche Zusammenhänge einordnet. Denn der 9. November 1938 erinnert zugleich an Blutspuren, die auf eine gewollte Zerschlagung demokratischer Strukturen in Deutschland durch konservative und reaktionäre Kräfte hinweisen und die sich immer wieder gegen die Schneisen der Freiheit wenden, die schon Ende des 18. Jahrhunderts die "Morgenröte der Republik" in Deutschland ankündigten. Der 1938 aus Wien vertriebene und in Israel lehrende Historiker Walter Grab hat die lange verdrängten demokratischen Traditionen der deutschen Jakobiner wiederentdeckt, auch und zuerst in Schleswig-Holstein. Seine großangelegte Gesamt-Darstellung wurde bei der Büchergilde Gutenberg bewusst mit der Aussage eines der bedeutenden Köpfe der frühdemokratischen Bewegung, Georg Friedrich Rebmann, betitelt. Dieser schrieb schon 1798 den Deutschen ins Stammbuch: "Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern, nicht zum Geschenk erhalten". Die deutschen Feudalregierungen unterdrückten jedoch schnell die junge Demokratiebewegung. Schon am 9. November 1789 erließ der Oberrheinische Kreis in Frankfurt/Main ein "Warnungspatent gegen die Störer der öffentlichen Ruhe", die sich bald gezwungen sahen, in Frankreich politisches Asyl zu beantragen. Und für viele aus Deutschland vertriebene Demokraten endete die Hoffnung auf die Französische Revolution mit dem Staatsstreich von Napoleon Bonaparte, dem Erben und Vernichter der Revolution, der am 9. November 1799, dem 18. Brumaire, die Militärdespotie einleitete.
56 Jahre nach der ersten, in den Schulbüchern eher vergessenen deutschen Demokratie, der Mainzer Republik von 1792/93, riefen deutsche Demokraten im März 1848 erneut eine "freiheitliche Republik" aus. Während die Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche über die zu wählende Form der Republik stritt, wurden die Volkserhebungen mit Waffen erstickt. "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten", verkündete die seit Juli 1848 in Berlin erscheinende "Kreuzzeitung". Am 9. November 1848 beendete der preußische Militärputsch mit dem anschließenden Belagerungszustand über Berlin vorzeitig die demokratischen Hoffnungen. Ebenfalls am 9. November 1848 wurde der Kopf der Frankfurter Linken, Robert Blum, der als offizieller Vertreter der Paulskirchenbewegung den revolutionären Wiener Arbeitern, Handwerkern und Studenten im Oktober 1848 zur Hilfe geeilt war, durch ein Sondergericht zum Tode verurteilt und in Wien-Brigittenau trotz seiner Immunität als Parlamentsmitglied von der siegreichen Reaktion hingerichtet.
"Die Waffen nieder!"
Die Konterrevolution blieb auf der ganzen Linie siegreich. Erneut waren die verfolgten radikalen Demokraten gezwungen, auszuwandern und vornehmlich in der Schweiz, in Frankreich und in England Exil zu suchen.
In schon bewährter preußischer Tradition konstatierte 65 Jahre später der Kommandeur des in Zabern stationierten Infanterieregiments angesichts der
Zabern-Affaire am 9. November 1913 im damals deutschen Elsass: "Ich betrachte es als ein Glück, wenn jetzt Blut fließt." Diese Aussage war auch als Antwort des deutschen Militarismus auf die Sozialdemokratie zu verstehen, die sich mit ihrer Budgetverweigerung und der Kritik an den Wehrvorlagen gegen die Kriegsvorbereitung stemmte und für den Frieden und die internationale Solidarität eintrat. Der österreichisch-serbische Konflikt wie auch die Krisen in Bosnien und Marokko hatten nach 1910 die Kriegsgefahr erhöht und den Herrschenden Anlaß zum Wettrüsten durch Nachrüstungsbeschlüsse gegeben. Noch bevor Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht den engen Zusammenhang zwischen der Rüstungspolitik der Regierung und dem Krupp-Konzern aufdeckten und dafür ins Gefängnis wanderten, hatte August Bebel in seiner letzten großen außenpolitischen Rede die "Götterdämmerung der bürgerlichen Welt" verkündet. August Bebel am 9. November 1911 in der 11. Sitzung der XII. Legislaturperiode im Berliner Reichstag: "Nach meiner Meinung steht hinter dem großen Generalmarsch der große Kladderadatsch... Er kommt nicht durch uns. Er kommt durch Sie selber... Die Götterdämmerung der bürgerlichen Welt ist im Anzuge... Sie stehen heute auf dem Punkt, Ihre eigene Staats- und Gesellschaftsordnung zu untergraben... Was wird die Folge sein? Hinter diesem Krieg steht der Massenbankrott, steht das Massenelend, steht die Massenarbeitslosigkeit, die große Hungersnot (Widerspruch von rechts). Das wollen Sie bestreiten? (Zuruf von rechts: Nach je-dem Krieg wird es besser!)"
Wenige Tage nach dieser Rede des deutschen Sozialistenführers demonstrierten am 17. November 1911 in Berlin 150.000 Bürger und Arbeiter für den Frieden und jubelten dem französischen Arbeiterführer Jean Jaurès zu. Auf den Friedenskundgebungen in Wien, Paris, London, Rom, Amsterdam, Budapest und Prag demonstrierten ebenfalls am 17. November 1911 Hunderttausende ge-gen den drohenden Krieg. Und am 24./25. November 1912 verabschiedete der außerordentliche Kongress der Sozialistischen Internationale in Basel einstimmig eine Friedensresolution. Das war auch ein Erfolg der "Deutschen Friedensgesellschaft" (DFG). Die auf Initiative von A.H. Fried, Bertha von Suttner und dem Bremer Ludwig Quidde am 9. November 1892 aus Anlaß der Militärvorlage im Reichstag gegründete mitgliedsstärkste Organisation des Pazifismus in Deutschland hatte von Anfang an darauf gesetzt, dass Friedensbewegung und Sozialismus sich einander ergänzen. Nach Heinrich Ströbel, einem der einflussreichen linken Vertreter der SPD und DFG, ließ sich der Sozialismus sich nur im Zustande des Friedens realisieren. Kriege dagegen dienten allein den Profitinteressen der Rüstungsindustrie. Bertha von Suttner, die Herausgeberin der "Monatsschrift zur Förderung der Friedens-Idee" "Die Waffen nieder!" wurde 1905 als erste Frau Friedensnobelpreisträgerin, eine Ehre, die mit Ludwig Quidde (1927) und Carl von Ossietzky (1935) nur noch zwei wichtigen deutschen Repräsentanten der Friedensbewegung vor Willy Brandt (1971) zuteil wurde.
9. November 1918 - eine verschenkte Revolution?
Konnten auch Pazifismus und Sozialismus den 1. Weltkrieg nicht verhindern - mit bedingt durch das unerwartete Einschwenken der SPD auf die Politik des "Burgfriedens", so gewannen beide großen Einfluss auf die Neugestaltung Deutschlands nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs. Am 9. November 1918 wurden in Berlin zwei Republiken ausgerufen: die "freie deutsche Republik" durch Philipp Scheidemann und die "freie sozialistische Republik" durch Karl Liebknecht. Schon zwei Tage vorher hatte der Pazifist, Jude und USPD-Vertreter Kurt Eisner den "Freistaat Bayern" verkündet und sich zum ersten Ministerpräsidenten der "sozialistischen Republik Bayern" wählen lassen.
Eisners Parole "Freiheit und Sozialismus" sollte später von einem seiner Nachfolger, von Franz Joseph Strauß, in "Freiheit statt Sozialismus" umgewandelt werden. Zu der von der SPD initiierten Feier aus Anlaß der 75. Geburtsstunde des Freistaates Bayern verweigerte der damalige CSU-Chef und Bundesfinanzminister Waigel nicht nur aus Termingründen, "sondern auch aus grundsätzlichen Erwägungen heraus" am 7. November 1993 seine Teilnahme. SPD-Landeschefin Renate Schmidt werde sicher verstehen, dass "ich die Geburtsstunde des demokratisch verfassten Bayern nicht mit der Ausrufung der Räterepublik durch Kurt Eisner in Verbindung zu bringen vermag" (vgl. "Süddeutsche Zeitung", Nr. 257, 6/7.11.1993). Ein Historikerstreit auf bayerisch: Kurt Eisner hatte nichts mit der Bayerischen Räterepublik zu tun. Zur Ausrufung der Räterepublik kam es erst am 7. April 1919 – als Folge der Ermordung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner am 21. Februar 1919 durch den rechtsradikalen Grafen Arco. Er war ein Anhänger der 1912 gegründeten Thule-Gesellschaft: Eine Geheimloge von Antisemiten als „Germanenorden“. Er hatte sein Attentat handschriftlich begründet und schrieb nach einer langen Runde durch diverse Kneipen im Odeons Kasino - bei einer Flasche Cognac - den folgenden Text nieder:
I. Eisner
1. Strebt verdeckt nach Anarchie, um seine u. der Räte Bleiben zu erreichen.
2. Ist Bolschewist.
3. Ist Jude.
4. Ist kein Deutscher.
5. Fühlt nicht Deutsch.
6. Untergräbt jedes vaterländische Denken u. Fühlen.
7. Ist ein Landesverräter. Das ganze Bayernvolk ruft Weg mit ihm!
Er geht nicht! Also!!!
II Mein Grund!
Ich hasse den Bolschewismus! Ich bin und. denke Deutsch! Ich hasse die Juden!
Ich liebe das wahre Bayernvolk! Ich bin bis in den Tod treuer Monarchist!
Ich bin treuer Katholik!
Man wird sagen: Er ist ein Mörder! Grund ist genug vorhanden zum Morden!
Also fühl ich mich freigesprochen! Über Alles achte ich die Ehre unseres Bayernvolkes!
III. Und Eisner vernichtet sie durch seine bloße Präsidentschaft!
Mein letzter Wunsch! Heraus mit dem Selbstbewusstsein!
Freiheit u. Größe dem Bayernvolke! Wer will einen 2. Despotismus Kurt I.?
Drum Hoch Wittelsbach! Hoch Rupprecht!
Selbst herausragende Intellektuelle des deutschen Kaiserreiches, aber entschiedene Gegner von Kurt Eisner und der Novemberrevolution wie Max Weber verteidigten die Tat vom Grafen Arco. „ Mit solchen Sklavenseelen, die (wie Eisner, J.W.) als politische Masochisten in Schuldgefühlen wühlen, kann keine aufrechte Demokratie gemacht werden“. Und er forderte für die Führer der Spartakus-Gruppe das Irrenhaus (MWG I/16, S.441). „Wenn man erst Liebknecht und Rosa los wäre! Sie sind eine furchtbare Gefahr“. Das schrieb Marianne Weber am 29. November 1918 an ihre Schwägerin Helene. Auch Thomas Mann begrüßte - im Gegensatz zu seinem Bruder Heinrich und seinen in Lübeck geborenen Zeitgenossen Erich Mühsam und Gustav Radbruch - die Zerschlagung der Räterepublik: „Der gegenteilige Ausgang wäre eine unausdenkbare Katastrophe.“ (Tagebücher 1918-1921, 1979,S. 221).
Gegen die von der Konterrevolution zu "Novemberverbrechern" diffamierten Anhänger der schnell erstickten Novemberrevolution begann ein beispielloser Kampf von rechts mit der Ermordung prominenter Sozialisten und Liberaler wie Kurt Eisner, Matthias Erzberger, Hugo Haase, Gustav Landauer, Paul Garais, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Walter Rathenau. Die im Auftrag des Reichsjustizministers Gustav Radbruch vorgelegte Denkschrift von Emil Julius Gumbel über "Vier Jahre politischer Mord" von 1922 und 1924 ist nach wie vor ein eindrucksvolles und erschütterndes Dokument über die Skrupellosigkeit der Verschwörer der deutschen nationalistischen Geheimbünde, Freicorps und ihrer Helfershelfer in der Reichskanzlei. Die "Revolutionäre wider Willen" (H.A. Winkler) aus den Kreisen der MSPD um Noske und Ebert traten diesen Kräften nicht entgegen. Die Schwäche der Konkursverwalter des Obrigkeitsstaats, die aus Angst vor dem Bolschewismus notwendige gesellschaftliche Strukturreformen unterließen, nutzten die Gegner jeder Demokratisierung. Insofern ist die Zerstörung der Weimarer Republik durch Faktoren und Widersprüche mitbestimmt, die bei ihrer Gründung schon angelegt waren. Vor allem die fundamentale Schwäche der gespaltenen Arbeiterbewegung in der Endphase der Weimarer Republik muß mit aus dem Scheitern der Revolution von 1918/19 und der gleichzeitigen militärischen Unterdrückung oppositioneller Arbeitermassen durch die Führung der Mehrheitssozialdemokratie erklärt werden. Eindrucksvoll ist dieser Zusammenhang nach dem Verbot der SPD im Juni 1933 von prominenten sozialdemokratischen Politikern selbst aufgearbeitet worden. So schreibt Rudolf Hilferding am 23. September 1933 an Karl Kautsky: "Unsere Politik in Deutschland war seit 1923 sicher im Ganzen und Großen durch die Situation erzwungen und konnte nicht viel anders sein. In diesem Zeitpunkt hätte auch eine andere Politik kaum ein anderes Resultat gehabt. Aber in der Zeit vor 1914 und erst recht von 1918 bis zum Kapp-Putsch war die Politik plastisch, und in dieser Zeit sind die schlimmsten Fehler gemacht worden".
Mit dieser Kritik an der Politik der Führung der SPD stand Hilferding keinesfalls allein. Der Zusammenbruch von Weimar zwang dessen Träger zur selbst-kritischen Besinnung auf die Entstehungsphase der Republik und schärfte den Blick für politische Fehlleistungen. In dem "Prager Manifest" von 1934 und in der 1935 vorgelegten Gesamtdarstellung der Weimarer Republik von Arthur Rosenberg sind wichtige Analysen vorgenommen worden, die Alfred Döblin in seinem Erzählwerk "November 1918. Eine deutsche Revolution" umfangreich verdichtete. Dennoch überrascht, welche Schwierigkeiten nach wie vor in der deutschen Geschichtsschreibung herrschen, Schwierigkeiten, die in erster Linie mit der Darstellung der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie zusammenhängen. Denn vor dem Hintergrund der Mitverantwortung von Ebert und Noske für die Massenmorde zwischen 1918 und 1920 konnte nur ein kompliziertes, gebrochenes Verhältnis zur Deutschen Revolution von 1918/19 entstehen. „Die einen haben uns entrüstet vorgeworfen, dass wir Sozialdemokraten eine Revolution, die anderen ebenso entrüstet, dass wir keine Revolution gemacht hätten". Das schrieb der Syndikus des Deutschen Metallarbeiterverbandes vor 1933, Ernst Fraenkel, am 9. November 1943 in der deutschsprachigen New Yorker "Neuen Volkszeitung", und er fügte hinzu: „In diesem Vorwurf spiegelt sich die Logik eines Umsturzes wider, der eine politische Umwälzung herbeiführte, aber eine soziale Revolution vermied. Und weil der 9. November somit eine halbe Revolution war..., ist uns 14 Jahre später eine ganze Niederlage bereitet worden."
Die von der Führung der MSPD eingeschlagene und mit der Übernahme der Regierungsmacht auch zu verantwortende Politik der Konfrontation mit den Massenbewegungen (Januar- und März-Kämpfe in Berlin, Zerschlagung der Räterepubliken in Bremen und Bayern, der Märzereignisse im Ruhrgebiet oder der Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen von 1923) musste schon deshalb scheitern, weil sie einmal die neue Republik in ihrer demokratischen Struktur zu ungefestigt ließ und sie zum anderen gegenüber allen Bedrohungen von rechts anfällig machte. Die mit einer solchen Politik einhergehenden beträchtlichen Mitglieder- und Wählerverluste schränkte die politische Handlungsfreiheit der Sozialdemokratie entscheidend ein, zumal sie mit einer prinzipiellen Abwehrhaltung gegenüber der KPD und der sozialistischen Linken - bei einer gleichzeitigen grundsätzlichen Koalitionsbereitschaft bis ins Lager der bürgerlichen Rechten hinein verbunden war.
1938 hat das damalige führende Mitglied der KPD, Herbert Wehner, diesen Weg der deutschen Sozialdemokratie als einen "Irrweg" charakterisiert, "auf dem die Arbeiterklasse von Anfang an den schweren Gefahren seitens der Reaktion ausgesetzt waren. Der Rückblick auf den 9. November 1918 lehrt, dass die Politik des Sozialdemokratismus (d.h. die Theorie und Praxis der Arbeitsgemeinschaft mit der Bourgeoisie) die demokratischen Errungenschaften gefährdet und die Arbeiterklasse entwaffnet... und die - in anderen Formen - heute noch den gemeinsamen Kampf der Arbeiterklasse gegen den Faschismus hemmen" (Herbert Wehner, Wandel und Bewährung, 1981, S. 14 u. 22).
Am 50. Jahrestag des 9. November 1918 kam Wehner als inzwischen prominenter Sozialdemokrat zu einer anderen Interpretation jener "fundamentalen Schwächen und Fehler der sozialdemokratischen und anderer demokratischen Kräfte jener Zeit". ER verweist dabei insbesondere auf Fehlentscheidungen der KPD. Aber es bleibt für ihn nach wie vor die Frage zu klären: „Welcher Gewinn Deutschland und unserem deutschen Volk durch diese Partei entstanden wäre, wenn die SPD ihre Entwicklung unter anderen Bedingungen, die mit dem Datum des 9. November 1918 verknüpft sind, hätte nehmen können" (Wehner, 1981, S. 396).
Auch für die liberalen Vertreter der Weimarer DDP gab der 9. November 1918 immer wieder Anlaß zum Nachdenken über die deutsche Geschichte. Der Chefredakteur des "Berliner Tageblatts", Theodor Wolff, sah z.B. in dem 9. November 1918 "die größte aller Revolutionen", die "wie ein plötzlich losbrechender Sturmwind das kaiserliche Regime mit allem, was oben und unten dazu gehörte, gestürzt hat" (10.11.1919): "Man kann sie die größte aller Revolutionen nennen, weil niemals eine so festgebaute, mit so soliden Mauern umgebene Bastille so in einem Anlauf genommen worden ist."
9. November 1918/1923/1938 aus der Sicht der Nazis
Auf jeden Fall begünstigte eine solche Politik die rechtsradikale und ultrakonservative Anhängerschaft. Den 9. November 1918, die Novemberrevolution rückgängig zu machen, war von Anfang an das erklärte Ziel der Nationalsozialisten. Das Werk jener "Novemberverbrecher, die 1918 das deutsche Heer erdolcht hatten", war für Hitler das gemeinsame Werk des Kommunismus, Sozialismus und Liberalismus. Mit der Bolschewismus-Furcht besaßen die Nazis ein wirkungsvolles Instrument, das ebenso gegen die politisch gespaltene Linke wie gegen den Linksliberalismus eingesetzt werden konnte. Und weil diese "Novemberverbrecher" das Werkzeug der Juden waren, verknüpften die Nazis äußerst geschickt den Antikommunismus mit dem Antisemitismus. So ist es sicher kein Zufall, dass Hitler den 9. November 1923 zum Putsch gegen die Republik mit dem Marsch auf die Feldherrnhalle in der "Stadt der Bewegung" nutzte und dabei mit Erich Ludendorff den alten kaiserlichen Militärführer als Mitstreiter gewinnen konnte.
Nachdem der erste Hitler-Putsch gescheitert war, versammelten sich die Nazis jährlich am 8./9. November zu Gedenkfeiern im Münchener Bürgerbräukeller. Aber erst nach der Machtergreifung konnten die Juden als "Sündenböcke" systematisch verfolgt werden. Dem Aufruf vom 1. April 1933 an die Bevölkerung, jüdische Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte zu boykottieren, der Bücherverbrennung im "Kampf gegen den undeutschen Geist" vom 10. Mai 1933 und den Nürnberger Gesetzen vom 15.September.1935 zum "Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" folgte nach einer Phase relativer Ruhe die Eskalation in Form der Pogromnacht vom 9. November 1938. Sie ist als bewusst geplante Vorstufe von Auschwitz zu interpretieren.
Auch am 9. November 1938 mußten die "Juden als Vorposten für den Bolschewisierung" herhalten. „Den 9. November 1918 hätten die Juden nicht umsonst gemacht, dieser Tag würde gerecht werden", notierte Hitler am 23. Januar 1939.
So folgte der Zerschlagung der Arbeiterbewegung von 1933 die Entrechtlichung, Ausbürgerung, "Entjudung der deutschen Wirtschaft" und baldige Vernichtung der Juden. Deutschland ohne Sozialisten, Kommunisten, Liberale und Juden - das hieß, den 9. November 1918 ungeschehen machen.
Der 9. November ein Nachdenktag über die deutsche Geschichte mit Folgen bis heute
Wer dieses scheinbar Unfassbare erklären will, muß mit den Gedenktagen zum 9. November nicht nur Geschichte in Erinnerung rufen. Es gilt auch, unseren Blick für gegenwärtige gesellschaftliche Umbrüche und deren Folgen zu schärfen. Erinnern für die Zukunft heißt, sich nicht allein auf historische Details einzulassen, sondern zu untersuchen, wie die NS-Zeit und der Judenpogrom im öffentlichen Bewusstsein heute wahrgenommen und verarbeitet werden, wie z.B. politisch Verantwortliche in den Kommunen, Ländern und der Bundesregierung mit ethnischen und politischen Minderheiten und Asylbewerbern umgehen.
Auf jeden Fall ist der 9. November wohl weniger ein Tag zum Feiern, sondern eher ein Datum, das zur Trauerarbeit der Deutschen auffordert. Für uns also weniger ein Gedenktag als ein Tag, der Gründe zum "Nachdenken über die deutsche Geschichte" (Thomas Nipperdey) gibt. Erinnerung an die gescheiterten, aber nicht vergeblichen deutschen Revolutionen von 1848 und 1918, an den nach dem Golfkrieg vom modernen Bellizismus immer mehr bedrohten Pazifismus in Deutschland, an den Hitler-Putsch von 1923, an die brennenden Synagogen und die Arisierung von 1938. Aber auch an die friedliche Protestbewegung in der DDR und die Öffnung der Berliner Mauer vom 9. November 1989 oder den "Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit" mit einer Nichtangriffsvereinbarung zwischen der damaligen Sowjetunion und Deutschland vom 9. November 1990.
Und vergessen wir nicht zu fragen: Mit welchen Erbschaften deutscher Politik haben wir es heute zu tun? Was tradiert sich aus der Geschichte des Deutschen Reiches bis 1945 und der beiden deutschen Staaten ab 1949 in die gesamt-deutsche Gegenwart? Wohin verläuft der "deutsche Weg", nachdem die Nachkriegsordnung Vergangenheit geworden ist? Fragen die in Ost und Westdeutschland schon vor 1989 u.a. von Arno Klönne in „Zurück zur Nation?“ (1984) beunruhigend thematisiert wurden. Manfred Weißbecker aus Jena legte 2011 eine seine Forschungen zusammenfassende Studie über „Das Firmenschild: Nationaler Sozialismus“ vor. Dieser nationale Sozialismus verbreitete antidemokratische, nationalistische, bellizistische, völkisch-rassistische Denkweisen mit antisemitischen Zuschnitt. Und Peter Brandts langjährige Wortmeldungen im Doppelband „Einheit und Freiheit“ von 2017 behandeln Kontroversen zu deutschen Fragen, die er in seinen Aufsätzen und Büchern von 1982 bis 2017 als „Veränderungspotentiale und Beharrungskräfte in der deutschen Geschichte“ interpretiert. In meinem „Krieg der Erinnerungen von Ahrensbök über New York nach Auschwitz und zurück“ von 2016/17 folge ich u.a. dieser Spurensicherung als Vorübungen für eine Erinnerungskultur der deutschen Demokratie. Dabei darf nicht übersehen werden, dass schon lange vor dem 9. November 1918 und 1938 völkische Propaganda zu antisemitischen Denunziationen und Verfolgungen führte. Auch Parteigruppierungen im sozialistischen Lager erlagen gelegentlich als nationale Revolutionäre im Gefolge von Johann Gottlieb Fichte, Ferdinand Lassalle und Ernst Niekisch dem Brückenschlag zwischen nationalen Strömungen innerhalb der Arbeiterbewegung und völkischem Denken der antidemokratischen und rechtskonservativen Anhänger der „Konservativen Revolution in Deutschland“ (Armin Mohler, 1972, 4.Auflage 1994). Und der nationale “Sozialismus“ von rechts (Jan Peters) erlebte nicht erst in Corona-Zeiten mit den Carl Schmitt Schülern um den neuen „Gauleiter“ Alexander Gauland erneut eine Welle der Zustimmung.
Exkurs: Spätestens seitdem Heinrich von Treitschke am 15. November 1879 in den „Preußischen Jahrbüchern“ den Berliner Antisemitismus-Streit mit der Parole „die Juden sind unser Unglück“ entfacht hatte, verstärkte sich in Deutschland unter dem Vorzeichen eines integralen Nationalismus der Prozess der Entliberalisierung der politischen Kultur. Er kulminierte in der Kontrastierung der „Ideen von 1914“ mit denen von 1789. Dieses Intellektuellenprodukt der „Mandarine“, der „Kritiker aus Beruf“ (Max Weber, 1919), stützte den anschwellenden Chauvinismus und Antisemitismus in Deutschland. Zu den führenden Propagandisten dieser einflussreichen Idee, - der in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges vermeintlich Gestalt gewordenen „Volksgemeinschaft“-, gehörte neben Werner Sombart, Hermann Oncken, Friedrich Meinecke und Ernst Niekisch der Bremer Großkaufmann, Verleger, Kunstmäzen und Bauherr Ludwig Roselius, gefördert von seinem gleichaltrigen Bremer Schul- und Jugendfreund Johann Plenge (1874-1963). Dieser Soziologe hatte das Schlagwort von den „Ideen von 1914“ geprägt, die den „Ideen von 1789“ entgegengesetzt wurden. Roselius verhalf Plenge 1921 zu einem Lehrstuhl an dem Staatswissenschaftlichen Institut der Universität Münster. Das von Roselius gestiftete Institut sollte dazu beitragen, mit den „Ideen von 1914“ der „deutschen Propaganda zum Sieg“ mit Hilfe des „völkischen Geistes“ zu verhelfen.
Dieser „völkische Geist“ ist älter als der Blut und Boden Mythos der NSDAP. Er eroberte schon vor über 100 Jahren Deutschland. An der Gründungsphase beteiligt war das „große Sammelbecken bürgerlicher Annexionisten und extremer Konservativer“, die sich fünf Monate nach der Gründung der USPD in der „Deutschen Vaterlandspartei“ (DVLP) unter dem Vorsitz vom Großadmiral a.D. von Tirpitz als Gegenentwurf vereint hatten (vgl. H-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. IV, S.125-128). Eine Partei, die im September 1917 von einflussreichen Industriellen, Kaufleuten und Hochschullehrern wie Hugo Stinnes, Alfred Hugenberg als damaliger Krupp-Direktor und Wilhelm von Siemsen, Carl Duisberg, Ernst von Borsig bis zu Heinrich Claß von den „Alldeutschen“ gegründet wurde. Dazu kamen Vertreter der Finanz- und Großhandelskreise wie Emil Possehl (Lübeck), Friedrich Bendixen (Hamburg) und Ludwig Roselius (Bremen). Diese gewannen großen Einfluss auf die Kultur und Bildungsarbeit. Dazu stießen die Großagrarier und Teile des deutschen Adels, deren Interessen Wolfgang Kapp vertrat. Er sollte mit dem nach ihm benannten Kapp-Putsch von 1920 scheitern. 1.250 000 Mitglieder folgten im Juli 2018 in 2536 Ortsgruppen den antisemitischen und nationalistischen Parolen. „Kann man noch bezweifeln“, so 1946 der lernfähige Nestor der Historiker Friedrich Meinecke als ehemaliger Anhänger des „Geistes von 1914“, „dass Alldeutsche und Vaterlandspartei ein genaues Vorspiel für den Aufstieg Hitlers waren?“ (Meinecke, Die deutsche Katastrophe, 1946, S.50). Ohne als prinzipielle Gegner des Parlamentarismus zur ersten Reichstagwahl am 19. Januar 1919 anzutreten, rief die DVLP mit folgendem antisemitisch und völkisch geprägten Flugblatt zur Wahl auf:
Selbst die liberale DDP mit Walter Rathenau (AEG) und seinen expansiven „Mittteleuropa“-Plänen von 1914 war für sie nicht mehr wählbar, von den „Spartakus-Sozis mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht bis zu den „Mehrheits-Sozis“ um Philip Scheidemann als jüdische „Kohnsorten“. Namensgeber für die „jüdischen Kohnsorten“ war Oscar Cohn, Rechtsanwalt aus Berlin und Leiter des deutsch-russischen Handelsbüros. Er stand damals als populäres Mitglied der SPD und als langjähriger Abgeordneter im preußischen Landtag, vor allem als Vertreter von „Poale Zion“ und Mitarbeiter im Arbeiterfürsorgeamt der jüdischen Organisationen in Deutschland exemplarisch für die Juden, die aus der Sicht der Antisemiten und Rechten zu viel Einfluss auf die deutsche Politik ausübten.
Dieses Wahlplakat, das sei hinzugefügt, fand ich 2006 in NYC im Nachlass von Kurt Fritz Rosenberg (1900-1977). Der Rechtsanwalt aus Hamburg war am 19. Januar 1920 als Student von Max Weber in München dabei, als rechtsgerichtete Studenten sich während der Vorlesung über Webers Stellungnahme zur Ermordung von Kurt Eisner empörten: „Der Attentäter Graf Arco, so Weber, habe zweifelsohne unter dem Gefühl der großen Schande gehandelt, welche der Mann über uns gebracht hat, gegen den er sich wendete. Er hat sich vor Gericht tadellos benommen. Es ist trotzdem eine schlimme Schwäche, ihn zu begnadigen, solange das bestehende Gesetz gilt, und ich hätte ihn erschießen lassen.“ Denn: „nicht Arco, sondern Eisner werde so als Märtyrer in der Erinnerung fortleben. Vom Grafen Arco bleibe nichts anderes als eine Kaffeehaussehenswürdigkeit“. (Zu Max Webers zitierter handschriftlicher Aufzeichnung vom 19.1.1920 vgl. die Max Weber- Gesamtausgabe (MWG) I/16, S.270. Webers öffentliche Erklärung zum Fall Arco erschien in den Münchener Neuesten Nachrichten vom 23-1.1920).
Die nächste Vorlesung von Max Weber endete im Tumult, initiiert von den völkischen Anhängern des Eisner-Mörders, darunter Mitglieder der Thule-Gesellschaft und spätere Gründer der NSDAP. Der Rektor löste die Versammlung auf. Die Rechtsradikalen riefen: „Erst die Juden raus!“ Sie bildeten eine „Brücke“ zur Erledigung dieser „Angelegenheit“. Rosenberg dazu: „Man fand einige wenige, als typisch erkennbare arme Teufel und beförderte sie mit Schimpfen und Schlägen auf die Straße. Dabei leerte sich der Saal allmählich…Wir waren voller Empörung“. Und Rosenberg fügte seinen Aufzeichnungen aus München hinzu: „Das war der Anfang!“
Der Weg war schon damals vorgezeichnet, der zu 1933 führte und nicht nur sein Lebensschicksal als Jude prägte. Er konnte der sich und seine Familie – von der Mutter in Hamburg abgesehen - 1938 durch die Flucht in die USA retten. Rosenberg selbst wusste sich seit 1920 dem Motto verpflichtet, das ihm der Repräsentant der deutschen Friedensbewegung, Hellmut von Gerlach, in der „Weltbühne“ vom 20 Januar 1920 , am Tag nach dem Tumult in München, vermittelt hatte: „Nicht aus Liebe zum Sozialismus, sondern aus Vernunft und Liebe zu unserem Volk muss für jeden bürgerlichen Demokraten die Losung lauten: Front gegen rechts! Bündnis mit links!“ Dafür fand Rosenberg schon 1920 in München wie in Hamburg und Bremen keine Mehrheit. Im Gegenteil: Auch in der Arbeiterhochburg Bremen hatten sich die Bürger, angeführt von Ludwig Roselius und Theodor Spitta, an der Zerschlagung der Bremer Räterepublik mit Hilfe der Division Gerstenberg am 4. Februar 1919 beteiligt. Sie setzten dabei mit den Völkischen der DVLP und den Bremer Mehrheitssozialdemokraten auf die Unterstützung von Friedrich Ebert und Gustav Noske (vgl. Peter Kuckuk, Bremen in der Deutschen Revolution 1918/19, 2017, S.246-302; zu Kurt Rosenberg siehe Jörg Wollenberg, „Ist erst die Olympiade aus, schmeißen wir alle Juden heraus!“ Judenverfolgung im Spiegel der Tagebücher und Erinnerungen von Kurt Fritz Rosenberg, in: Derselbe, Die andere Erinnerung, Spurensicherung, Band II, 2017; S. 100-110.
2012 erschienen die Tagebücher von Kurt Rosenberg im Göttinger Wallstein-Verlag unter dem Titel „Einer. Der nicht dazugehört“).