Zur Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung in Chile
Revolutionen beginnen in der Regel damit, dass die Menschen ihre Lebensbedingungen nicht mehr ertragen. Sie legen ihre traditionellen Verhaltensweisen ab. Verstößt das gegen Gesetze, landen sie vor Gericht. In weniger demokratischen Gesellschaften werden sie gleich auf offener Straße zusammengeschossen. Daher wird den handlungsbereiten Frauen und Männern meist auch von der radikalsten Oppositionspartei von ihren Plänen abgeraten.
In Ländern mit großen inneren Verwerfungen, für deren Beseitigung die Rechtsordnung keinen gangbaren Weg vorsieht, können solche, eigentlich fahrlässigen, Aktionen der Funke sein, der eine soziale Explosion auslöst, die in eine Revolution übergeht. So ist das vor gut eineinhalb Jahren in Chile geschehen.
Niemand hat damit gerechnet, was die geringfügige Fahrpreiserhöhung in der Hauptstadt bewirken wird. Als Reaktion auf die neuen Tarife verabredeten sich Schüler zum kollektiven Schwarzfahren. Das hätte eine Nachricht für die lokale Berichterstattung bleiben können und im Folgenden die Gerichte beschäftigt.
Doch die harte Reaktion der Staatsmacht führte zur größten Massenbewegung in der Geschichte Chiles. Auf einen Schlag gingen von Nord bis Süd Hunderttausende auf die Straße. Sie protestierten gegen ihre miserablen Lebensbedingungen. Dafür machten sie die strikt neoliberale Organisation der Gesellschaft verantwortlich. Da die Verfassung das so vorschreibt, forderten sie ein neues Grundgesetz.
Die Proteste ließen auch nach Wochen nicht nach, die Gewerkschaften unterstützten die Bewegung mit Solidaritätsstreiks und, ein wichtiger Umstand, das Militär wollte nicht gegen die Bevölkerung aktiv werden. Das zwang die rechte Regierung von Sebastián Piñera zum Einlenken. Mit den Parteien der Mitte und einem Abgeordneten der Frente Amplio (FA) vereinbarte man ein Gesetz, das den Weg zu einem neuen Grundgesetz öffnete.
Die Regierung wollte damit Druck aus dem Kessel nehmen und hoffte auf Grund vieler Vorschriften, die sie in den Text hat einfließen lassen, dass ihr die Kontrolle nicht aus der Hand gleiten wird. Ein Pflock, den sie in den Text rammte, war die Verkleinerung der Sperrminorität in der Convención Constitucional (CC) (Verfassungsgebende Versammlung). Aktuell benötigen Verfassungsänderungen die Zustimmung von 3/5 der Parlamentarier. Das neue Grundgesetz muss jetzt von 2/3 der CC gebilligt werden.
Unter anderem deshalb stieß dieses Gesetz in Teilen der Volksbewegung auf massive Ablehnung. Besonders wurde Gabriel Boric von der FA für seine Zustimmung kritisiert. Manchen gilt sie, auch heute noch, als Verrat. Innerhalb der FA löste das eine Austrittswelle aus, darunter auch von prominenten Vertretern wie dem Bürgermeister von Valparaíso. Im Ergebnis scheint dieses Parteienbündnis damit aber gereift zu sein.
Es gibt gute Gründe für Kritik, aber der entscheidende Punkt ist, dass damit die Rechte ihre Macht zum Veto aus der Hand gegeben hat. Diese Sperrminorität, die ihr ein auf sie zugeschnittenes Wahlsystem verschaffte, war ein wichtiges Werkzeug, um die Verfassung aus den Zeiten der Diktatur vor grundsätzlichen Änderungen zu schützen. Mit diesem Gesetz ging die Richtlinienkompetenz über die Zukunft Chiles nach fast 50 Jahren wieder in die Hände des Volkes über. Nun lag es an ihm, die neue Lage klug zu nutzen.
Dieses Gesetz zum Start des verfassungsgebenden Prozesses war der erste, entscheidende, Erfolg der Massenbewegung, man kann es nicht häufig genug wiederholen. Sie hat die Rechte zu diesem Gesetz gezwungen. Man kann das vielleicht mit der Erstürmung der Bastille während der Französischen Revolution vergleichen. Da sich Chile als Demokratie versteht, wäre der Sturm des Regierungssitzes sinnlos gewesen. Auf der Straße den Weg zu öffnen, der im institutionellen Rahmen zwar vorhanden war, aber nicht beschritten werden konnte, war das Mittel der Wahl. Damit hatte diese bürgerliche Revolution ihren ersten Schritt getan.
Eine bürgerliche Revolution deshalb, da sich die Menschen nach einem Sozialstaat wie im Westeuropa der 1970er Jahre sehnen. Dazu hat die neoliberale Ideologie den Menschen den Vorrang ihrer ganz persönlichen Sichtweise in die Köpfe gehämmert. Sie sind selbst dann noch von diesem Denken durchdrungen, wenn sie als Teil der Protestbewegung von Gemeinschaft und Solidarität sprechen. Das zeigen die zahllosen Kandidaturen zur Verfassungsgebenden Versammlung. Ein neues, kollektivistisches Denken kann wahrscheinlich erst dann wieder um sich greifen, wenn die Realität die Menschen dazu zwingt.
Ein Kennzeichen von Revolutionen ist, dass jedes auf sie zukommende Problem eigentlich zu ihrem Ende führen sollte. Nach allen Erfahrungen wird da die Bewegung zusammenbrechen oder niedergeschlagen werden. Schließlich geschieht etwas völlig Unerwartetes und die Revolution schreitet voran.
Die nächste Hürde auf dem Weg zur neuen Verfassung war eine Volksabstimmung im Oktober 2020. Wegen Corona fand sie erst ein Jahr nach der sozialen Explosion statt. Die Bürger wurden gefragt, ob sie überhaupt ein neues Grundgesetz wünschen. Hier erwartete zwar niemand das Ende des eingeschlagenen Wegs, die Zustimmung von fast 80% war aber doch eine Überraschung.
Den Grund für dieses Ergebnis hatten Meinungsforscher von cadem schon im Juli ermittelt. In einer Umfrage1 wurde untersucht, wie sich die Rechte selber sieht. Das Ergebnis zeigte eine tiefgreifende Spaltung dieses Lagers. Nur 50% von ihnen wollten die aktuelle Verfassung behalten. Erstaunliche 38% gaben aber an, für das Projekt stimmen zu wollen.
Der Optimismus der Regierung
Der nächste Schritt auf dem eingeschlagenen Weg war die zuerst für April, dann wegen der Pandemie auf Mai verschobene Wahl der Delegierten zur CC. Trotz ihrer deutlichen Niederlage in der Volksabstimmung ging die Rechte weiterhin davon aus, dass gegen sie keine neue Verfassung geschrieben werden kann.
Ein Beispiel ist das Interview des chilenischen Außenministers Andrés Allamand im November mit der spanischen Tageszeitung El País. "Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Mitte-Rechts-Parteien (Die Rechte bezeichnet sich in Chile als Mitte-Rechts. E.B.) ein deutlich höheres Ergebnis als ein Drittel erzielen wird, so dass die Zusammensetzung des künftigen Konvents ein Gleichgewicht zwischen den politischen Kräften des Landes herstellen wird."2
Die Hoffnung des Außenministers basierte auf dem Wahlrecht. Es begünstigt das Lager, das seine Kräfte zu einer einzigen Liste bündeln kann. Bei allen Differenzen sind die rechten Parteien dazu in der Lage. So konnten sie 2017 ihren Stimmenanteil von 38,7% in 46,5% der Mandate verwandeln. Warum hätte das nicht wieder gelingen sollen, gerade weil es den Vertretern der Opposition an der nötigen Einsicht zur Zusammenarbeit mangelte? Es gab einen Versuch, unterstützt durch den Gewerkschaftsdachverband CUT, die divergierenden Kräfte zu einer Einheitsliste3 zu bewegen. Doch daran bestand so gut wie kein Interesse.
Daher stützte auch der Abgeordnete und Wahlexperte der Radikalen Partei, sie gehört zur politischen Mitte, die Einschätzung von Allamand. Pepe Auth prophezeite für die rechte Liste Vamos por Chile 30% der Stimmen und 57 Sitze. “Der Rechten wird es schlecht ergehen. Sie wird das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte erzielen, gemessen am prozentualen Anteil der Wähler, aber die Aufsplitterung der Opposition in mehr als 5 Listen pro Wahlkreis wird es ihr ermöglichen, sich um 10 Prozentpunkte über zu repräsentieren.”4
Wie die Resultate aus Arica und Osorno zeigen, hätte das funktionieren können. Dort hat sich trotz gravierender Stimmenverschiebungen an der Vertretung dieser Gebiete wenig geändert. Bei der letzten Parlamentswahl5 konnte in Arica sowohl die Rechte, das Mitte-Links-Bündnis und die FA je ein Mandat gewinnen. Das ist im Wesentlichen so geblieben. Wieder entsenden die drei Lager jeweils einen Vertreter. Auf der rechten Seite liegt das Mandat weiterhin in den Händen der UDI. Die Liberale Partei (LP), eine Bruderpartei der deutschen FDP, hat diesmal das Mandat für die Mitte errungen, während das vor vier Jahren noch auf der Liste der FA geschah. Das Mandat der Linken ist jetzt einem Kommunisten zugefallen.
Das ist die Folge der Umgruppierungen im chilenischen Parteiensystem. Die Kommunisten haben das Bündnis der Parteien der Mitte verlassen und mit der FA die Liste Apruebo Dignidad gegründet. Da ist der LP wohl aufgefallen, dass eine Zusammenarbeit mit Kommunisten von ihren Freunden aus der Liberalen Internationalen6 nicht so gern gesehen wird. Deshalb sind sie zur Lista del Apruebo, dem Bündnis der Mitte, gewechselt, wo sich nach dem Ausscheiden der Kommunisten auch die Christdemokraten wieder eingefunden haben.
Doch zurück nach Arica. Dort haben die drei erfolgreichen Listen gerade einmal 48,25% der Stimmen eingesammelt. Eine Mehrheit der Wähler verteilt sich auf 6 weitere Bündnisse und unabhängige Bewerber. Aufgrund ihrer Zersplitterung sind sie aber nicht in der CC vertreten. Hätten sich die beiden Einzelbewerber zu einer Liste verbündet, wäre das Mandat der Rechten an sie gefallen. Hier ist es genau so gelaufen, wie von Auth vorhergesagt.
Die linksradikale Kandidatur
In Arica konnte auch die trotzkistische Partei der Revolutionären Arbeiter (PTR) 3,7% einsammeln. Das sind ungefähr 2/5 der Stimmen, die dort die kommunistischen Bewerber auf sich vereinigen konnten. Landesweit ist dieses Verhältnis aber nur 1:5 (KP: 4,99%, PTR: 0,92%). Die Stärke der PTR ist eine Konsequenz der kommunistischen Teilnahme an den Wahlbündnissen der Mitte. Es wurde von nicht wenigen als Verrat betrachtet, dazu gab es aber keine Alternative. Das zeigt die Wahlrechtsreform während der letzten Regierung Bachelet. Sie hat die Voraussetzung für das heutige Erdbeben geschaffen. Daher kann man im linksliberalen Online-Medium El Desconcierto lesen: “Trotz der Tatsache, dass die KP eine Regierungspartei von Bachelet gewesen ist, hat sie die bestehende Ordnung herausgefordert.”7 Das dient zur Erklärung, warum die KP als einzige der historischen Parteien keine Verluste zu verzeichnen hatte.
Die Stimmen für die PTR sind ein Indiz, dass es in der chilenischen Linken immer noch Träumer eines irgendwie “revolutionären Weges” gibt. Doch gerade die Geschichte der Regierung der Unidad Popular zeigt, dass das Herumfuchteln mit Gewehren, in Worten oder real, in bürgerlich-demokratischen Ländern in die Katastrophe führt. Dazu kommt, dass am Ende sogar Fidel Castro während der letzten Jahre der Diktatur den chilenischen Linken zur Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Opposition geraten hat. Dafür hätte man aber den bewaffneten Kampf aufgeben müssen. Das wurde von den Führungskadern der radikalen Organisationen abgelehnt und führte in eine weitere Niederlage. Die KP verlor ungefähr die Hälfte ihrer Anhänger und der MIR löste sich auf.8
Wenden wir uns jetzt Osorno zu. Gegenwärtig wird dieser Wahlkreis von zwei Sozialisten und zwei Rechten im Parlament vertreten. Bei der Wahl zur CC waren nur drei Sitze zu vergeben. Das vierte Mandat ist dem Kontingent der für die Ureinwohner reservierten Sitze zugefallen. Jetzt vertreten zwei Rechte und ein Sozialist diese Region in der CC. Auch hier hat Vamos por Chile 1/3 seiner Wähler eingebüßt und verdankt seine Stärke der Auffächerung der Opposition auf fünf Listen und zwei unabhängige Kandidaturen.
Einen weiteren Grund bilden wahrscheinlich die reservierten Sitze. In diesem Stimmkreis haben etwa 18.000 Wähler an diesem separaten Wahlgang teilgenommen. Ihre Stimmen fehlen den Wahlkreislisten. Es ist reine Spekulation, wie die Ergebnisse mit den indigenen Wählern ausgefallen wären, aber nur 0,5 Prozentpunkte mehr für Apruebo Dignidad hätte der Rechten ein Mandat gekostet.
Die Wahl der indigenen Vertreter
Betrachtet man diese Wahlgänge, fällt eines auf: je größer eine Ethnie ist, desto weniger von ihnen beteiligen sich. Sei es, dass ihnen die Kandidaten nicht zusagen und sie deshalb den allgemeinen Stimmzettel nehmen, sei es, dass sie sich durch den chilenischen Staat besetzt fühlen und ihn nicht durch eine Wahlteilnahme anerkennen wollen.
Setzt man bei den Indigenen eine vergleichbare Wahlbeteiligung von 43,4% wie im Landesdurchschnitt voraus, haben sich auf den Osterinseln mit 54% überdurchschnittlich viele Rapa Nui an dieser exklusiven Wahl beteiligt, doch sie zählen auch nur 3.623 Stimmberechtigte.
Dagegen liegen die Mapuches mit 1.063.980 eingeschriebenen Wählern am unteren Ende der Wahlbeteiligungen. Nur gut 22% von ihnen haben sich an dieser Stimmabgabe beteiligt. Das überrascht, fallen doch gerade die Mapuches, oder, besser gesagt, einige ihrer politischen Strömungen wegen der lautstark erhobenen Forderungen nach Selbstbestimmung auf.
Dass die Wahlbeteiligung wichtig für die Zukunft der indigenen Bewegung ist, war allen klar. So fragte der Bewerber Adolfo Millabur in einem Gespräch mit der Zeitschrift The Clinic: ““Wie groß wird die Zahl der Wähler sein? Davon hängt ab, ob man am Tag danach ein politisches Gewicht besitzt.”9 Daher gab er die Losung “Mapuche wählt Mapuche” aus.
Es ist schwer zu sagen, wie sich diese Vertreter in der CC verhalten werden. Der Wahlkampf von einigen ihrer Bewerber wurde von linksliberalen Plattformen begleitet. Daneben macht sich auch die Rechte Hoffnungen. Aus ihrer Sicht vielversprechende Kandidaten erhielten auch finanzielle Zuwendungen. So Santo Reinao Millahual, der eine meldepflichtige Spende von Juan Sutil erhalten hat. Der Unternehmer Sutil ist vorsitzender des Verbands für Produktion und Handel (CPC).10
Die Verluste der Rechten
In den agrarisch und touristisch geprägten Regionen wurde ihr massiver Stimmenrückgang durch die äußeren Umstände aufgefangen. Doch in den drei dicht besiedelten Regionen und den Minengebieten hat das nicht mehr funktioniert. So entfallen 21 von landesweit 35 verlorenen Mandate auf die Stimmbezirke in Concepción, Valparaíso und der Hauptstadt. Der Rest geht auf das Konto der herabgesetzten Zahl der zu vergebenden Sitze sowie der Verluste in den Bergbaugebieten. So konnte in Atacama bei der letzten Parlamentswahl auch die Rechte ein Mandat gewinnen, nun ging sie leer aus.
Das elektorale Erdbeben hinterließ auch in den inzwischen berühmten Kommunen im Osten der Hauptstadt seine Spuren. Dort wohnen die Profiteure der neoliberalen Politik. Einige von ihnen findet man im Stimmkreis 11, der ist eine rechte Hochburg. Hier konnte sie bei der letzten Parlamentswahl fünf von sechs Sitzen einsammeln. Dazu waren 237.460 Stimmen notwendig, was ein Ergebnis von 63% bedeutete.
Nun konnten sie nur noch 167.670 Wähler von sich überzeugen. Das entspricht einem Stimmenanteil von 43,6% und hatte den Verlust eines Mandats zur Folge. Dieses Beispiel zeigt, dass die Rechte selbst in ihrer Herzkammer einen Verlust von 30% verkraften musste. Im ganzen Land ist das noch viel dramatischer. Da lauten die Vergleichszahlen 2.321.340 zu 1.174.502 Stimmen, ein Rückgang um fast 50%.
Diese Einbußen haben den elektoralen Schutzwall um die Stellungen der Rechten zusammenbrechen lassen. Deshalb hat sie ihr Wahlziel verfehlt, das ist für sie eine historische Niederlage. Die Zukunft Chiles bleibt damit weiterhin offen.
Das ist passiert, obwohl die Opposition nichts dafür getan hat. Mit ihren zahllosen Listen arbeitete sie mehr an der Stärkung der rechten Verteidigungsanlage als an ihrer Schleifung. Niemand hatte mit diesem Ergebnis gerechnet. Damit ist die Wahl der Constituyentes der zweite Schritt der aktuellen bürgerlichen Revolution in Chile.
Was sind die Gründe für den Absturz der Rechten? Da werden zwei Gründe genannt. Der Umgang der Regierung mit der sozialen Explosion und ihre Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie. Wie dem Autor aus Chile berichtet wird, haben viele Menschen der Regierung scheinbar noch lange Zeit zugestanden, die Probleme lösen zu wollen. Doch dieses Restvertrauen hat sie mit ihrer gewalttätigen Reaktion auf die Demonstrationen wie auch mit dem Unvermögen, die sozialen Folgen der Pandemie in den Griff zu bekommen, verspielt.
Diese Einschätzung wird von den Meinungsforschern gestützt. Schon die Untersuchung von cadem hatte herausgefunden, dass eine knappe Mehrheit der rechten Basis die Gründe für den Protest in sozialer Unzufriedenheit sieht und nicht in einer allgemeinen Gewaltbereitschaft.
Wie man hört, beteiligten sich auch Wähler rechter Parteien an den Demonstrationen im Oktober 2019. Dort erlebten sie die gewalttätigen Angriffe der Polizei auf friedliche Menschen. Was ist ihre Reaktion darauf? Sie teilen die Anliegen der Protestierenden und sehen mit eigenen Augen die Reaktion der Carabineros. Dadurch laufen sie nicht von heute auf morgen zu einer anderen, bisher als Gegner wahrgenommenen Partei über. Doch sie sind wie alle anderen empört über das nur auf Eigennutz ausgerichtete Verhalten der Berufspolitiker. Es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass sie in das Lager der Nichtwähler wechseln.
Das wird durch eine Studie11 von Pulso Ciudadano aus dem März 2021 untermauert. Dort geben 51,6% an, zur Wahl gehen zu wollen. Bei den Anhängern der Opposition liegt die Zahl bei über 70%, dagegen konnten sich das nur 51,6% der Rechten vorstellen.
In dieser Untersuchung wurde auch die Zustimmung zur Regierung abgefragt. Danach waren nur noch 10,7% mit deren Politik einverstanden. Im November 2019, während der Hochzeit der Massenbewegung, lag dieser Wert mit 4,6% zwar noch tiefer, er hatte sich im September 2020 mit 24% aber wieder erholt.
Hier kommt das Missmanagement im Kampf gegen die Pandemie zum Ausdruck. Im September 2020 waren fast 20% der Ansicht, dass sich Chile in Sachen Corona auf einem guten Weg befindet. Nur 36% der Interviewten sahen eine Tendenz zur Verschlechterung. Im März dieses Jahres war dieser Wert auf 50% gestiegen. Nur noch 13% sahen das Land auf einem guten Weg.
Diese Zahlen lassen, über den Daumen gepeilt, folgenden Schluss zu. Die 10% der Chilenen, die der Regierungspolitik noch etwas Positives abgewinnen können, sind gleichzeitig die 50% der rechten Basis, die noch wählen geht. Da die Wahlbeteiligung bei unter 50% liegt, werden daraus die 20,56%, die Vamos por Chile landesweit erhalten hat.
Mit Beginn der Lockdowns befürchteten viele, dass die gerade erwachte Bewegung ein Opfer von Corona werden könnte. Schließlich erhielt die Regierung damit die Chance, Zeit zu gewinnen. Mit einer guten Strategie gegen die Pandemie hätte sie verlorenes Vertrauen zurückgewinnen können. Doch dazu war sie nicht in der Lage. Die Epidemie hat ihr den Rest gegeben.
Hier kommt einem eine Erklärung Lenins in den Sinn, die gerne in folgendem Satz zusammengefasst wird: "Eine revolutionäre Situation gibt es dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen.“12 In Chile können wir das gerade im Rahmen des Übergangs von einer gefesselten zu einer, wenn der Prozess einen positiven Abschluss findet, voll entfalteten bürgerlichen Demokratie erleben.
Warum “die oben nicht mehr können”
Die Formulierung „wenn die oben nicht mehr können“ trifft es sehr gut. Die chilenische Bourgeoisie ist sicher nicht unfähig. Das hat man in den Jahren nach dem Staatsstreich von 1973 beobachten können. Sie hat die darin liegenden Möglichkeiten hervorragend genutzt. Doch jetzt hat sie sich anscheinend im Netz ihres eigenen Erfolges verheddert.
Zum Ausgleich der Verdienstausfälle wegen der Lockdowns gab es mehrere Gesetzesprojekte zur Auszahlung von jeweils 10% der Einlage aus dem Konto der privaten Rentenversicherung. Das dritte derartige Gesetz wollte Piñera mit Hilfe des Verfassungsgerichts zu Fall bringen.
Das hat er nicht freiwillig getan. Schließlich unterstützt auch eine deutliche Mehrheit der rechten Basis diese Möglichkeit. Ihm sitzen aber internationale Anleger im Nacken. Wie man lesen kann, betrachtet der Zusammenschluss der US-amerikanischen Versicherungsgesellschaften diese Gesetze als “illegale Enteignung”13. Die Gruppe Ohio hat deshalb die Schiedsgerichte angerufen, die im Freihandelsvertrag zwischen Chile und den USA vorgesehen sind. Sie denkt auch darüber nach, vor internationale Gerichte zu ziehen.
Der Antrag des Präsidenten vor dem Verfassungsgericht führte im April zu gewalttätigen Ausschreitungen14. Diese sind nur die Spitze des Eisbergs der sozialen Spannung im Land. Die Lage beruhigte sich erst, als das Gericht den Wunsch Piñeras zurückwies. Das hat aber wohl nicht wenige Rechte zusätzlich gegen ihre politischen Vertreter aufgebracht.
Hier rächt sich für die Bourgeoisie die Art und Weise ihrer aktuellen Herrschaftssicherung. Das neoliberale Prinzip sieht vor, dass die demokratischen Systeme der einzelnen Länder durch internationale Verträge ausgehebelt werden können. Diese schaffen den Sachzwang, damit die einzelnen Länder nur noch nach wirtschaftsliberalen Grundsätzen zu regieren sind. Jetzt hat dieser Sachzwang den Handlungsspielraum der chilenischen Bourgeoisie zu sehr eingeschränkt. Sie konnte nicht mehr die sozialen Zugeständnisse machen, die zur Aufrechterhaltung ihrer Dominanz notwendig gewesen wären.
Der Untergang der Christdemokraten
Hat die Rechte ihr strategisches Ziel verfehlt, so ist die Christdemokratie bei der Wahl der Constituyentes regelrecht untergegangen. Nur der Parteivorsitzende und ein Unabhängiger auf ihrem Ticket konnten ein Mandat erlangen. Bei den Kommunal- und Regionalwahlen des gleichen Tages ist es ihnen mit ca. 700.000 Stimmen etwas besser ergangen. Trotzdem spricht der ihnen nahestehende Politikwissenschaftler Carlos Huneeus vom “Zusammenbruch der PDC als Organisation”15 Er befürchtet das langsame Verschwinden der Christdemokraten aus der chilenischen Politik.
Ein Teil seines Textes beschäftigt sich auch mit dem Verhältnis der PDC zur Unidad Popular während der Regierung Allende. Er wirft der Linken insgesamt vor, nicht zur Zusammenarbeit mit der PDC bereit gewesen zu sein. In Bezug auf den linksradikalen Teil der damaligen Sozialisten hat er Recht. Trotzdem betreibt er damit christdemokratische Geschichtsklitterung reinsten Wassers.
In seinem Text fehlt der Umstand, dass in Chile immer dann etwas für die breite Masse der Bevölkerung erreicht worden ist, wenn alle Kräfte von der PDC, bzw. deren Vorläufer, bis zur KP am gleichen Strang gezogen haben. Das änderte sich aber mit der Entwicklung der PDC zur dominierenden Partei der Mitte.
Die PDC entstand auf Basis der zwei Sozialenzykliken der katholischen Kirche. Dort nehmen die Kommunisten die Rolle des Antichristen ein, mit dem sich eine Zusammenarbeit verbietet. Bis zur Bildung der Nueva Mayoría hat sich die PDC an dieses Verbot gehalten. Erst 2013 kandidierte sie erstmals zusammen mit Kommunisten auf einer Liste. Das führte zu internen Spannungen und vor der nächsten Wahl verließ sie das Bündnis.
Die Probleme der PDC sind das Ergebnis dieses Hin und Her in Bezug auf das Bündnis der Mitte. Vor vier Jahren setzte sie auf eine Eigenkandidatur und handelte sich damit eine deutliche Niederlage ein. Nun war sie wieder auf der Liste der Parteien der Mitte zu finden.
Ein Verschwinden der Christdemokraten aus der Politik kann man sich eigentlich nicht vorstellen. Doch das wäre eine positive Entwicklung. Ihre Anhängerschaft wird damit sicher nicht zur Linken übergehen, aber ihre neue politische Vertretung wird keinen so ideologisch begründeten Antikommunismus mehr vertreten wie die PDC.
Der Erfolg der Unabhängigen
Die großen Gewinner der Wahl sind Unabhängige jedweder Art. Auf der Seite der Wahlbehörde finden sich Dutzende Listen und Einzelbewerber. Doch manche dieser Listen sind nicht so unabhängig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Sie haben landesweite Strukturen gebildet und werden in der CC Fraktionen bilden.
Am bekanntesten ist die Lista del Pueblo (Liste des Volkes). Sie hat 24 Sitze und vertritt damit 16,1% der Wähler.16 Laut Wikipedia17 vertritt sie einen bunten Strauß linksliberaler und linker Positionen. Dagegen wird ihr Standort im politischen Gefüge mit links bis linksextrem angegeben.
Ein weiterer unabhängiger Zusammenschluss sind die Independientes No Neutrales (Unabhängig aber nicht neutral). Sie firmieren manchmal auch unter Nueva Constitución, da sie mit der Losung “Für eine neue Verfassung für Chile” in den Wahlkampf gezogen sind.
Bei diesem Block verzichtet Wikipedia auf eine politische Einordnung. Betrachtet man die gewählten Vertreter, kommt einem dieser Zusammenschluss wie eine Gründung aus dem Lager der Mitte vor. Daher sehen sie auch große Unterschiede zur Lista del Pueblo. Ihr vorrangiges Ziel scheint gewesen zu sein, Menschen ohne parteipolitische Vergangenheit in die CC zu entsenden. Diese Independientes No Neutrales haben 8,5%18 der Wähler hinter sich versammelt, was ihnen elf Sitze beschert hat.
Diese zwei unabhängigen Listen sind eigentlich nur parteiunabhängig. Bei ihnen stellt sich die Frage, ob da gerade neue Parteien entstehen. Bei der Lista del Pueblo spricht viel dafür. Ihr Sprecher hat schon angekündigt, dass sie bei den Wahlen im Oktober antreten wollen.19
Zu diesen Unabhängigen, deren Bindungen man mehr oder weniger kennt, gesellen sich in der CC weitere 13 Mitglieder, die aus unabhängigen Listen oder als Einzelbewerber den Sprung in die CC geschafft haben. Sie vertreten 15,5% der Wähler.
Die Kräfteverhältnisse in der Verfassungsgebenden Versammlung
Die Sitzverteilung der einzelnen Fraktionen sieht in dem 155 Sitze zählenden Gremium wie folgt aus: Die Rechte verfügt über 37, die Parteien der Mitte über 25 und die Linke 28 Mandate. Damit stellen die Parteien eindeutig die Mehrheit der Delegierten.
Deutlich kleiner ist das Lager der Unabhängigen. Dieser Teil wird von der Lista del Pueblo mit 24 Vertretern angeführt, gefolgt von der Gruppe der Ureinwohner mit 17 Sitzen. Danach kommen erst die Independientes No Neutrales, die elf Köpfe zählen. Mit 13 Delegierten ist die Gruppe der nicht organisierten Unabhängigen etwas größer.
Man muss abwarten, wie sich letztlich die Fraktionsgrößen herausbilden werden. Welchem Lager schließen sich die Einzelvertreter an? Bleiben die parteilosen Constituyentes, die aber mit Hilfe einer Partei zu ihrem Sitz gekommen sind, im jeweiligen Orbit?
Die Sperrminorität liegt bei 52 Mandaten. Davon ist jede Fraktion weit entfernt. Das zwingt alle, im Guten wie im Schlechten, zu Kompromissen. Im Gesetz ist festgelegt, dass der Versammlung ein Zeitraum von neun Monaten für ihre Arbeit zur Verfügung steht. Braucht sie mehr Zeit, kann sie um drei Monate verlängern. Kommt das Gremium in diesen zwölf Monaten zu keinem von einer 2/3-Mehrheit getragenem Ergebnis, wird das Projekt erfolglos abgebrochen.
In Chile geht man davon aus, dass es in der Versammlung zwar zu harten Auseinandersetzungen kommen wird, sich die Akteure am Ende aber einigen werden. Es fällt schwer, diesen Optimismus zu teilen. Alle Differenzen, die zu der großen Zahl an oppositionellen Listen geführt haben, werden in dem Gremium mit aller Wucht aufeinanderprallen. Dazwischen die Rechte, die jede Möglichkeit zur Obstruktion nutzen wird.
Dazu kommt die militärische Frage. Der revolutionäre Prozess ist bisher nur wegen der Neutralität der Streitkräfte nicht beendet worden. Wird das so bleiben? In einer Verfassung werden auch Festlegungen zur Rolle der Armee getroffen. Ist dem linken Flügel der CC bewusst, dass das eine sehr delikate Angelegenheit ist? Gehen die Kontrollrechte der Gesellschaft über diese Institution aus der Sicht der Militärs zu weit, kann sie das zurück ins Lager der Herrschenden treiben, mit fatalen Konsequenzen.
Für das Fortschreiten des revolutionären Prozesses muss man auf weitere Überraschungen hoffen. Eine Rolle könnte dabei die Bevölkerung spielen. So wie der Gang Piñeras vor das Verfassungsgericht eine Reaktion der Straße provozierte, kann etwas Vergleichbares auch der Verfassungsgebenden Versammlung blühen.
Emil Berger
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https://www.cadem.cl/encuestas/las-derecha-mira-a-la-derecha-en-medio-de-sus-dias-mas-criticos/
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https://elpais.com/internacional/2020-11-14/andres-allamand-seria-un-gravisimo-error-que-chile-se-refundara-en-la-nueva-constitucion.html
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https://www.theclinic.cl/2021/01/07/alejandro-goic-el-llanero-solitario-de-la-unidad-opositora/
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https://www.ex-ante.cl/https-www-ex-ante-cl-pepe-auth-chile-vamos-va-a-sacar-un-30-por-ciento-en-la-convencion-constitucional-pero-la-dispersion-opositora-le-favorecera/
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Die Wahl zum Parlament fand 2017 statt und ist, mit Einschränkungen, am ehesten für Vergleiche geeignet. Im weiteren Text beziehe ich mich immer auf diese Wahl. Die Zahlen sind von http://servel.cl, https://servelelecciones.cl und eigenen Berechnungen.
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https://de.wikipedia.org/wiki/Liberale_Internationale#Vollmitglieder
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https://www.eldesconcierto.cl/reportajes/2021/05/25/datos-el-perfil-de-las-comunas-de-la-rm-que-apostaron-por-las-listas-de-independientes.html
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https://www.eldesconcierto.cl/opinion/2020/11/08/dos-plebiscitos-dos-caminos.html
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https://www.theclinic.cl/2021/05/11/adolfo-millabur-nuestro-llamado-es-mapuche-vota-por-mapuche/
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https://www.elmostrador.cl/destacado/2021/05/14/rene-cortazar-y-los-padrinos-del-partido-del-orden-que-buscan-un-lugar-en-la-convencion-constitucional/
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https://chile.activasite.com/wp-content/uploads/2021/03/Pulso_Ciudadano_Marzo_Q1.pdf
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Dieser Satz fasst einen Absatz aus »Der “linke Radikalismus”, die Kinderkrankheit im Kommunismus« zusammen. Er findet sich in LW, Band 31, S. 71
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https://www.elmostrador.cl/destacado/2021/05/18/sanhattan-y-el-dia-despues-del-voto-la-suma-de-todos-sus-miedos/
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https://www.elmostrador.cl/dia/2021/04/23/siguen-los-cacerolazos-y-barricadas-cuarta-noche-de-manifestaciones-ante-requerimiento-al-tc-por-tercer-retiro/
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https://www.elmostrador.cl/destacado/2021/05/25/el-desplome-del-pdc-como-organizacion/
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https://www.latercera.com/politica/noticia/diez-claves-para-entender-el-balance-de-fuerzas-de-la-convencion/NSUCSMOQOZD4JCPBCLWZHV5WUI/
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https://www.latercera.com/politica/noticia/diez-claves-para-entender-el-balance-de-fuerzas-de-la-convencion/NSUCSMOQOZD4JCPBCLWZHV5WUI/
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https://www.eldesconcierto.cl/reportajes/2021/05/20/rafael-montecinos-fundador-y-vocero-de-la-lista-del-pueblo-no-llegaremos-a-ningun-tipo-de-primaria-con-jadue-y-boric.html