Kein großer Wurf

Das Thema „Industrie 4.0“ oder die Transformation der Industrie durch die Digitalisierung, sowohl in der Produktion wie in den Verwaltungen und Servicebereichen, wurde und wird von der Gewerkschaft schon seit einigen Jahren aufgegriffen und diskutiert. Und das nicht ohne Grund, denn überall zeichneten und zeichnen sich tiefgreifende Veränderungen ab, ohne dass sie in den meisten Fällen qualitativ und quantitativ konkret fassbar sind. Im Jahr 2019 versuchte die IG Metall eine Bestandsaufnahme in Form einer Mitglieder- und Betriebsrätebefragung zu machen. Die Befragungen ergaben ein deutliches Bild. In vielen Betrieben hatte die Transformation eindeutig begonnen, aber in der Mehrzahl der Betriebe, so berichteten die KollegInnen, standen die Geschäftsführungen völlig unvorbereitet den bevorstehenden Veränderungen gegenüber. Gestützt auf diese Befragungen schätzte die Gewerkschaft ein, dass rund 200.000 Arbeitsplätze alleine in der Automobilindustrie gefährdet sind und rund 60 Prozent der Arbeitsplätze im gesamten Organisationsbereich der IG Metall stark oder sehr stark betroffen sein werden. Das alles war die Erkenntnis vor dem Beginn der Corona Krise.

 

Tarifvertrag Zukunft

Die Gewerkschaftsführung wollte deshalb in der Tarifrunde 2020 das Thema Transformation auf die Tagesordnung setzen. So schlug auf seiner Jahrespressekonferenz in Frankfurt a.M., Ende Januar 2020 der IGM-Vorstand ein sogenanntes „Moratorium für einen fairen Wandel“ vor. Konkret hieß das, dass die Gewerkschaft ohne festgelegte Forderung in Verhandlungen mit den Metallarbeitgebern gehen wollte, wenn diese bereit sind einen „Tarifvertrag Zukunft“ abzuschließen. Angestrebt wurde ein Pakt zur Verhinderung von Massenentlassungen, Standortverlagerungen und Betriebsschließungen. In dem Tarifvertrag „Zukunft“ sollten Regelungen zur Sicherung von Arbeitsplätzen festgeschrieben werden. Das bedeutet, dass die IG Metall über den Tarifvertrag, Einfluss auf Investitionen, Produkte und notwendige Qualifizierungsmaßnahmen für die Beschäftigten, nehmen wollte. Eine Absicht, die weit über bisherige Tarifverträge hinausgeht und in das Direktionsrecht des Kapitals eingegriffen hätte. Entsprechend deutlich wurde die Forderung von den Arbeitgeberverbänden zurückgewiesen.

Die Tarifkommissionen in den einzelnen Bezirken folgten den Vorstellungen des Vorstandes und gingen mit der Forderung nach einem Zukunfts-Tarifvertrag in die Verhandlungen, wobei für die Forderung nach einer Entgelterhöhung keine Bezifferung erfolgte. Sie sollte abhängig gemacht werden von dem Entgegenkommen der Unternehmer bei den anderen Forderungspunkten. So begannen die Verhandlungen, aber schon Ende März war alles vorbei. Die Pandemie änderte alles. Der IGM-Vorstand setzte die Tarifverhandlungen zur Zukunftssicherung aus und schloss alternativ einen „Solidartarifvertrag“ ab. Auf einer Pressekonferenz am 20. März sagte dazu Jörg Hofmann, Vorsitzender der IG Metall: „In dieser Krise sind solidarische Lösungen gefragt. Jetzt kommt es darauf an, dass die Beschäftigten Sicherheiten bekommen“. Und er fügte an: „Die großen Herausforderungen der Transformation bleiben weiter auf der Tagesordnung. Nach der Bewältigung der akuten Probleme werden wir uns wieder den Zukunftsthemen zuwenden “

 

Abbruch der Verhandlungen

Sicherlich war für die IG Metall im März 2020 die Situation sehr kompliziert und es wäre objektiv betrachtet nicht möglich gewesen eine derartige Tarifforderung durchzusetzen. In den meisten Betrieben wurde Kurzarbeit gefahren, es wurde über Personalabbau gesprochen und auch solcher angekündigt, Die Verunsicherung der Belegschaften war deshalb riesengroß. Von daher ist der Abbruch der Tarifverhandlungen nachvollziehbar, denn die IG Metall war zu diesem Zeitpunkt nicht streik- und handlungsfähig. Trotzdem fällt es schwer, diese Vereinbarung, „Solidartarifvertrag“ zu nennen. Besser kamen die Unternehmer noch nie aus einer Tarifrunde heraus. In der Vereinbarung wurde vor allem die Kurzarbeit geregelt. Sonderzahlungen, wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld, wurden auf das Jahr verteilt. Dazu gab es einen Arbeitgeberzuschuss in Höhe von 350.- Euro je Vollzeitbeschäftigtem. Durch diese Maßnahmen erhöhte sich das monatliche Entgelt und in der Folge auch das monatliche Kurzarbeitergeld. Nicht vereinbart wurden tabellenwirksame Lohn-und Gehaltserhöhungen. Auch einen Inflationsausgleich gab es für die Beschäftigten nicht. Das heißt, die Tarifrunde war eine absolute Nullrunde, die letzten Endes von den Belegschaften selbst finanziert wurde. Die Vereinbarung hatte eine Laufzeit bis Ende Dezember 2020.

 

Tarifrunde 2021

Mit Beginn des laufenden Jahres wurden die Tarifverhandlungen wieder aufgenommen. Die Forderung nach einem Zukunftstarifvertrag lag weiterhin auf dem Tisch, hinzu kamen eine Lohn-und Gehaltsforderung von vier Prozent, sowie die Forderung nach der Angleichung der Arbeitszeit im Osten (38 Std.), an die des Westens (35 Std), bzw. ein tarifliches Ausgleichsgeld in Höhe von 8,5 Prozent (eigentlich geht es hier alleine um die Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden. Da die Arbeitszeit aber in den Manteltarifverträgen geregelt ist, diese aber nicht gekündigt waren, musste man den Umweg über ein „Ausgleichsgeld“ beschreiten). Die Reaktion der Unternehmer war wie immer. Sie blockten alles ab. Fast alle namhaften Konzernchefs und Arbeitgeber-Verhandlungskommissionen bliesen in das gleiche Horn. Die Umsätze und Erträge seien eingebrochen und deshalb müsse das Lohnniveau sinken. Die Arbeitszeit müsse weitgehend flexibilisiert werden. Und die Angleichung der Arbeitszeit im Osten ginge schon gar nicht. Es sei eher die Angleichung der Arbeitszeit im Westen an die des Ostens angezeigt.

Am 1. März war dann die Friedenspflicht vorbei. Die IG Metall rief zu massiven Warnstreiks auf, die von den Mitgliedern auch befolgt wurden. Bereits in der ersten Woche waren mehr als 300.000 KollegInnen im Warnstreik. Bis zum Tarifabschluss in NRW waren es dann rund 800.000. Doch war der Verlauf der Aktionen nicht so, wie man das in der Vergangenheit gewohnt war. Durch die Pandemie fanden die sonst üblichen Kundgebungen nur bedingt statt. Die Streikenden trafen sich stattdessen zu Livestreams oder zu Autokorsos. Dadurch war die wirkliche Stimmung der Streikenden nur schwer einschätzbar.

 

Pilotabschluss in NRW

Am 30 April schließlich, kam es in Düsseldorf zu einem Pilotabschluss für die Metall-und Elektroindustrie, der die Felder „Beschäftigungssicherung“, „Einkommensentwicklung“ und „Zukunftsgestaltung“, so der IGM-Vorstand, abdeckt.

Danach besteht die Entgelterhöhung aus einer Anerkennungsprämie von 500.- Euro (Corona-Prämie) und einem sogenannten Transformationsgeld in Form einer Einmalzahlung von 2,3 Prozent eines Monatsentgelts, das sich im Jahr 2022 auf 18,4 Prozent und ab dem Jahr 2023 auf 27.6 Prozent erhöht. Das Transformationsgeld wird dann jährlich fällig. Es kann wahlweise ausgezahlt werden oder zum Teilentgeltausgleich bei Arbeitszeitabsenkungen, beispielsweise bei einer möglichen Einführung der 4-Tage-Woche, verwendet werden. Die Entscheidung darüber liegt bei den Betriebsparteien, das heißt, bei der Unternehmensleitung und dem Betriebsrat.

Ebenfalls vereinbart wurde, dass Auszubildende 300 Euro erhalten und Dual Studierende künftig während ihrer Ausbildung unter den Schutz und Geltungsbereich der Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie fallen.

Schließlich mit die wichtigste Vereinbarung: zur Gestaltung zukünftiger Transformationen in den Betrieben ist ein Einlassungszwang der Betriebsparteien, zur Aufnahme von Verhandlungen hin zu einem Zukunftstarifvertrag. Das heißt, es muss über Maßnahmen der Transformation verhandelt werden, wenn es eine Betriebspartei, zum Beispiel der Betriebsrat, verlangt.

Die Laufzeit des neuen Tarifvertrages reicht bis zum 30. September 2022.

Sowohl der IGM-Vorstand, als auch Gesamtmetall empfahlen ihren regionalen Mitgliedsverbänden die Übernahme des Pilotabschlusses von NRW auch für die übrigen Tarifgebiete. Dem wurde auch, bis auf den IGM- Bezirk „Berlin-Brandenburg-Sachsen“ gefolgt. Dort blockierten die Unternehmer die Forderung nach einem Tariflichen Ausgleichsgeld nach wie vor. Deshalb beschloss der IGM Vorstand, die Warnstreiks zu verschärfen. Es wurde grünes Licht gegeben für 24-Stunden-Warnstreiks. Diese begannen massiv nach den Osterfeiertagen vorrangig in der Automobil- und Zulieferindustrie mit den Schwerpunkten Zwickau, Leipzig und Chemnitz. Offensichtlich zeigten sie Wirkung. Am 15. Mai wurde zwischen der IG Metall und dem sächsischen Arbeitgeberverband (VSME) die Übernahme des Pilotabschlusses aus NRW vereinbart und gleichzeitig eine konkrete, kurzfristige Verhandlungsverpflichtung verabredet. So soll bis Ende Juni ein klar abgesteckter tariflicher Rahmen für betriebliche Lösungen zur Angleichung Ost geschaffen werden.

 

tragfähige Antworten

Das war also die Metall-Tarifrunde 2021. Der IGM-Vorstand scheint mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Jörg Hofmann jedenfalls kommentierte den Abschluss so: „Dieser Tarifabschluss bietet tragfähige Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit: auf die akuten Probleme infolge der Corona Pandemie ebenso wie auf die strukturellen Herausforderungen, die die Transformation für unsere Branchen mit sich bringt“.

Die Frage ist, ob die Mitglieder das ebenso sehen. Immerhin mussten sie bereits im vergangenen Jahr deutliche Entgelteinbußen hinnehmen. Kurzarbeit und der Wegfall von Sondervergütungen, wie das Urlaubs- und Weihnachtsgeld ließen das Jahreseinkommen schrumpfen. Nach Aussagen der Rentenversicherung sind die Einkommen in der Republik im vergangenen Jahr um 2,3 Prozent gesunken. Die Verluste lassen sich auch nicht mehr aufholen, denn im vergangenen und dem laufenden Jahr gab und gibt es keine tabellenwirksamen Entgelterhöhungen. Das ist wohl der Punkt mit der negativsten Wirkung dieses Tarifabschlusses, denn die fehlenden Erhöhungen der Entgelttabellen wirken in die Zukunft hinein.

Die anderen Regelungen sind schwieriger zu beurteilen. So kann die Einführung einer 4-Tage-Woche mit Hilfe des „Transformationsgeldes“ während der Umstellung auf eine digitalisierte Produktion durchaus hilfreich sein. Eine 4-Tage-Woche beseitigt aber einen möglichen Personalüberhang auf Dauer nicht, da sie zeitlich begrenzt ist.

Mehr hergeben könnte der Einlassungszwang zu einem betrieblichen Zukunftstarifvertag. Leider ist dieser Vertragspunkt nur sehr allgemein formuliert. Das verwundert nicht, berührt er doch einen neuralgischen Punkt im Unternehmerlager. Nämlich das Direktionsrecht des Kapitals; ein Recht, das von ihm in der Vergangenheit immer mit Zähnen und Klauen verteidigt wurde. Doch mit dem vereinbarten Einlassungszwang bieten sich für konsequente, kämpferische Betriebsräte und Belegschaften durchaus Chancen betriebliche Regelungen, die wirklich zu Gunsten der Belegschaften wirken, zu erzwingen. Es bleibt abzuwarten, was die Betriebsräte und Belegschaften aus dieser Möglichkeit machen.

 

Kein Angleichungsdurchbruch im Osten

Am 15. Mai einigte sich die IG Metall und der sächsische Arbeitgeberverband auf die Übernahme des Abschlusses von NRW. Das Thema „Ausgleichsgeld“ bzw. die Angleichung der Arbeitszeit soll ab Juni 2021 angegangen werden. Bis dahin soll ein „klar abgesteckter tariflicher Rahmen für betriebliche Lösungen zur Angleichung Ost geschaffen werden“. In einer Presseerklärung vermeldet die IG Metall: „Beim Ringen um die Angleichung der tariflichen Ansprüche im Osten zeichnet sich eine Lösung ab“. Doch stimmt das wirklich, zeichnet sich wirklich eine Lösung ab. In der Absichtserklärung wird von „betrieblichen Lösungen“ gesprochen. Das heißt, die Angleichung wird nicht im Flächentarifvertrag, sondern in Haustarifverträgen geregelt. Damit werden zwangsläufig, die gewerkschaftlich schwachen Betriebe auf der Strecke bleiben. Schon heute sind die Belegschaften in allen Fragen der Entlohnung, der Arbeitszeit, bei Urlaub und Sonderzahlungen tief gespalten. So entfallen in Sachsen beispielsweise auf die Metall-und Elektroindustrie 1.700 Unternehmen. Aber nur rund 140 davon sind in einer Tarifbindung. Davon sind knappe 60 Unternehmen verbandsgebunden, d.h. in diesen Unternehmen gilt der Flächentarifvertrag. In den anderen tarifgebundenen Unternehmen gilt ein Anerkennungstarif- oder Haustarifvertrag, mit oftmals schlechteren Konditionen. So bekommt nur die Hälfte der 190.000 Beschäftigten der Branche überhaupt tarifliche Leistungen.

Wie es im Juni dann weitergeht, lässt sich nur schwer sagen. Alles wird von der Haltung der Arbeitgeberverbände abhängen. Birgit Dietze, die Bezirksleiterin des Bezirks Berlin-Brandenburg-Sachsen gibt immerhin den Rahmen vor: “Sollten wir mit den Arbeitgebern bis Ende Juni keinen tragfähigen tariflichen Rahmen vereinbaren können, werden wir mit unseren starken Belegschaften Haus für Haus die Angleichung erstreiten“. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies geschieht ist groß. Die Folge wäre, dass die großen Betriebe der Automobilindustrie und ihre Zulieferer in der Arbeitszeit angeglichen würden, der Rest der Belegschaften aber, aufgrund ihrer gewerkschaftlichen Schwäche, nicht. Sie müssten weiterhin unbezahlt drei Stunden mehr in der Woche schuften Die Spaltung der Belegschaften würde also zunehmen, was weitreichende Folgen für zukünftige Tarifbewegungen hätte.

 

Kein großer Wurf

Das Ergebnis der Tarifrunde 2021 kann sicherlich nicht als „großer Wurf“ bezeichnet werden. Insbesondre die Tatsache, dass zwei Jahre hintereinander die Entgelttabellen nicht erhöht wurden ist mehr als bitter. Auf der anderen Seite hat die IG Metall noch nie eine Tarifbewegung unter solchen Bedingungen wie in den vergangenen zwei Jahren führen müssen. Unzählige Betriebe in Kurzarbeit, bei anderen dagegen brummende Konjunktur, dann wieder Verlagerungsankündigungen von Betriebsstätten und die Ankündigung von Personalabbau bei namhaften Unternehmen. Das verunsicherte in beträchtlichem Maße die KollegInnen. Für sie stand die Arbeitsplatzsicherung im Mittelpunkt ihres Interesses. Trotzdem gelang es der Gewerkschaft nach dem Ende der Friedenspflicht Druck aufzubauen. Das galt auch für die wenigen Betriebe in Sachsen, Berlin und Brandenburg. Hunderttausende beteiligten an Streikaktionen, was schließlich zu der Einigung in NRW führte.

Die Frage ist: wäre ein besseres Ergebnis möglich gewesen? Das ist im Nachhinein immer schwierig zu beantworten. Im Jahr 2020 war die Lage aufgrund der Corona Krise so, dass die IG Metall schlichtweg nicht streikfähig war. Das war nicht nur wegen der politischen Vorgaben zur Reduzierung der Pandemie (Abstand halten, Maskenpflicht) ein Problem, sondern auch aus ökonomischen Gründen. Die wichtigsten Betriebe fuhren Kurzarbeit, so dass ein Streik ins Leere gelaufen wäre. In diesem Jahr, war die Lage zwar ein wenig besser, doch ist nur schwer vorstellbar wie unter den Corona Bedingungen ein Erzwingungsstreik hätte durchgeführt werden können.

Der Abschluss aus NRW ist inzwischen in allen Tarifbezirken der ME-Branche übernommen. Die Resonanz aus der Mitgliedschaft, ist trotz der vorhandenen Kröten nicht negativ. Die Mehrheit der KollegInnen geht davon aus, dass man mit dem Tarifvertrag Arbeitsplätze sichern kann. In unsicheren Zeit kann das viel sein. Ansonsten : Kein großer Wurf…