Wie ein Spitzenagent der Nazis auf der Gewerkschaftsliste in den Bayerischen Senat kam

 

Uns ist aber kein Fall bekannt, in der ein*e Nationalsozialist oder eine Nationalsozialistin eine führende Position bei den Gewerkschaften in München erhalten hat.“

 

Diese Einschätzung aus der aktuellen Broschüre „75 Jahre DGB München“ wird niemand überraschen. Wie sollte es auch einem Nazi gelingen, eine bedeutende Funktion bei den Gewerkschaften in München zu bekommen. Die Männer und Frauen des gewerkschaftlichen Wiederaufbaus kannten sich in der Regel aus der Zeit vor 1933 bzw. aus dem Widerstand. Und doch war es so. Eine lange und verwinkelte Geschichte, die bis ins Jahr 1900 zurückreicht.

Ludwig Weißauer war der Erstgeborene des Volksschullehrers gleichen Namens und seiner Ehefrau Ottilie. Sie hatten sich kennengelernt, als er an der Volksschule in Oberdorfen, einer kleinen Ortschaft im Landkreis Erding, unterrichtete. Dem Vater war kein langes Leben beschieden. Er starb, als der kleine Ludwig gerade mal fünf Jahre alt war. Die Witwe zog mit den Söhnen Ludwig und Adolf zuerst nach Freising. Bald jedoch wurden sie vom Bruder der Mutter, Josef Schrallhamer, der katholischer Stadtpfarrer in München war, im Pfarrhaus aufgenommen. In München besuchte Ludwig das Gymnasium und machte 1920 das Abitur. Der Onkel erhoffte sich von ihm, dass er auch die geistliche Laufbahn einschlagen würde. Der jedoch studierte Jura und Volkswirtschaft und beendete sein Studium 1927 mit dem zweiten juristischen Staatsexamen. Seine erste Anstellung fand er für zwei Jahre beim Internationalen Arbeitsamt in Genf, damals eine Unterorganisation des Völkerbundes.

 

Schon vor 33 in der NSDAP

Sein gleichnamiger Neffe Ludwig Weißauer beschreibt das Äußere seines Onkels in den 60er Jahren so:„L. war hochgewachsen, schlank, besaß blaue Augen und rötlich-blondes Haar, das jedoch schon in jungen Jahren schütter wurde. Mit diesem Aussehen entsprach er dem Mustertypus eines arischen Menschen, wie ihn sich die Rassenideologie des NS-Regimes vorstellte. Stolz war er, wenn man ihn auf seine Ähnlichkeit mit dem damals berühmten Filmschauspieler Hans Albers ansprach.“(LW)* Von Genf zurückgekehrt, trat der aufstrebende Jurist der NSDAP bei, ging vorerst nach England, betrieb dort wirtschaftswissenschaftliche Studien und ließ sich anschließend in München als Rechtsanwalt nieder. Aber schon bald bekam er von der Partei das Angebot, die Verlagsleitung des Berliner SA-Kampfblattes „Der Angriff“ zu übernehmen. In dem Zusammenhang siedelte er nach Berlin über, wo er bis zum Kriegsende 1945 wohnhaft blieb. Dieser Auftrag sollte für Weißauer schnell problematisch werden. Die SA in Berlin war ein gäriger Haufen, wie man heute in rechten Kreisen sagen würde. Es waren nicht nur die Straßenschlachten mit den Organisationen der Arbeiterbewegung, auch interne Auseinandersetzungen wurden mit äußerster Härte geführt. Bereits am 3. April 1931 wurde Weißauer von Joseph Goebbels, dem Berliner Gauleiter der NSDAP, aus der Partei ausgeschlossen und mit ihm Melitta Wiedemann, die in der Redaktion der Zeitung und des Verlags arbeitete, und die für Weißauer bis zu seinem Lebensende eine besondere Rolle spielen sollte. Dazu gleich mehr. Chef der Berliner SA Truppe war der Polizeihauptmann a.D. Walther Stennes. Er und seine Anhänger in der SA haderten mit dem legalistischen Kurs Hitlers, der auf parlamentarischem Weg an die Macht kommen wollte, während Stennes eine härtere Gangart propagierte. Als Hitler Stennes absetzte, drang dieser mit seiner Truppe in das Berliner Parteigebäude ein, um seinem Nachfolger den Zutritt zu verwehren. Stennes zog in der Auseinandersetzung den Kürzeren. Seine Anhänger und solche, bei denen Sympathien unterstellt wurden, schloss man aus der Partei aus. Es sollen über 500 gewesen sein. Stennes flüchtete 1933 aus Deutschland und emigrierte über verschiedene Zwischenstationen nach China, wo er bis 1949 die zweitausend Mann starke Leibwache General Chiang Kai-sheks befehligte. Um Weißauers Parteiausschluss gab es zwischen Berlin und München einen interessanten Briefwechsel. Einige Wochen nach dem Ausschluss befasste sich der Untersuchungs und Schlichtung-Ausschuss N.S.D.A.P. Gau Groß-Berlin um den Fall und schickte folgendes Schreiben nach München:„Der bisherige Verlagsleiter des Verlages Der Angriff , Dr. Ludwig Weissauer ist gem. Vfg. des Gauleiters des Gaues Gross=Berlin als Stennesanhänger aus der Partei ausgeschlossen worden. Es wird um Mitteilung gebeten, ob W. Parteimitglied ist, welche Mitgl.Nr. er führt und welcher O.Gr. er organisatorisch angehört. In der Kartei des Gaues Gross = Berlin wird er nicht geführt.“ Eine Woche später kommt aus München folgende Antwort: „Auf Ihre Anfrage (…) geben wir Ihnen bekannt, dass Dr. Ludwig Weissauer (…) unterm 1.11.29 unter Nr. 160076 als Mitglied in die NSDAP aufgenommen und mit Rücksicht auf seine Wohnung, München, St. Paulsplatz 10 der O.Gr. München-Westend zugeteilt wurde. Bereits unterm 1.11.30 wurde Weissauer wegen unbekannten Aufenthaltes durch die Gauleitung München – Oberbayern abgemeldet. Weissauer ist deshalb seit diesem Zeitpunkt in der Reichskartei gestrichen.“ (Barch,R 9361-V/39628) Wie konnte ein Parteimitglied ausgeschlossen werden, das zu diesem Zeitpunkt kein Mitglied war? Ab hier wird Weißauers Biographie mysteriös.

 

Weiterhin Nationalsozialist

Nach bisherigen Erkenntnissen vermied er vermutlich wegen seiner geheimdienstlichen Tätigkeit einen späteren Beitritt, was aber keinen Zweifel über seine nationalsozialistische Gesinnung aufkommen lassen darf. Auch nach seinem Rauswurf aus der Partei schrieb er im Vorwort seines 1932 erschienenen Buches „Schicksal des deutschen Nationalismus“:„Der Verfasser ist Nationalsozialist“. Zurück zu Melitta Wiedemann. „Soweit bekannt, war sie die einzige Frau, die eine bedeutende Rolle in L.s Leben spielte.“ (LW)*

Sie waren gleich alt und haben sich während ihrer Tätigkeit in Berlin kennengelernt. Frau Wiedemann war eine mehr als schillernde Figur. Geboren in Sankt Petersburg als Tochter begüterter deutscher Eltern, die später im Zusammenhang mit der Oktoberrevolution nach Teheran übersiedelten, genoss sie eine humanistische Bildung. In den frühen Zwanzigerjahren ging sie nach Deutschland und arbeitete als Journalistin. Ihr militanter Antibolschewismus führte sie zur Nazibewegung. In der Redaktion des Angriff wurden ihre Qualifikationen – sie beherrschte neben Deutsch auch Russisch und Englisch – und ihr Antisemitismus vor allem von Joseph Goebbels, der sie als „das einzige Mannsbild“ in der Redaktion bezeichnete - sehr geschätzt. In einem Interview von 1971 behauptete sie, im März 1931 aus der NSDAP ausgetreten zu sein, was schlicht gelogen war, war sie doch – wie wir gesehen haben – am 1.April 1931 zusammen mit Ludwig Weißauer ausgeschlossen worden. Ja, Melitta Wiedemann und die Wahrheit! Sie wollte auch 1943 zusammen mit hohen SS-Führern versucht haben,Hitler zu entmachten und die massenhafte Ermordung der gefangenen Rotarmisten zu verhindern. Diese und ähnliche Geschichten erzählte sie gerne und oft nach dem verlorenen Krieg. Bleiben wir bei den Fakten. Der Parteiausschluss scheint weder Ludwig Weißauer noch Melitta Wiedemann geschadet zu haben. Frau Wiedemann wurde Mitte der dreißiger Jahre u.a. Schriftleiterin zweier Presseorgane der braunen Deutschen Christen. Von 1939 bis 1944 war sie Hauptschriftleiterin und Herausgeberin der Nazizeitschrift Die Aktion, die sich als Kampfblatt gegen Plutokratie und Volksverhetzung bezeichnete und die besonders dem Hass gegen Jüdinnen und Juden verpflichtet war. Wie und wann sie Berlin verließ und nach München verzog, ist nicht bekannt. Jedenfalls wollte sie unter allen Umständen vermeiden, in die Hände der sowjetischen Besatzungsorgane zu fallen.

In München hatte sie weniger zu befürchten. Dort hatte sich inzwischen ihr früherer Chef, Ludwig Weißauer, mit dem sie lt. Auskunft von Weißauers Berliner Sekretärin, Frau Rüttinger, die Wohnung geteilt hatte, eingefunden und wohnte zusammen mit seiner Mutter wieder beim Onkel im Pfarrhaus von St. Paul. Aber was hat dieser Weißauer in der Zeit von 1933 bis 45 gemacht? Eigentlich hätte er nach den Vorfällen von 1931 in Berlin und nach seinem Parteiausschluss bei den Nazis eine persona non grata sein müssen. Dem war nicht so. Ganz im Gegenteil. Weißauer legte in diesen zwölf Jahren eine beachtliche Karriere hin.

 

Spitzenagent des SD

Zunächst kehrte er in seinen Beruf zurück. In einem Brief vom 31.Mai 1931, der von einer Tante stammt, heißt es:„Ludwig hat jetzt in Berlin auch eine Kanzlei, was der noch alles treibt, da bin ich gespannt. Von seinen letzten Kämpfen hast du ja sicher gehört. Man hat ihm übel mitgespielt. Ich kann es schon verstehen…“. Als dann nach der Machtübergabe an die Nazis Onkel Josef Schrallhamer bei Predigten in seiner Kirche in München den Nazis unangenehm auffiel und er festgenommen wurde, schaffte es ein Hilferuf nach Berlin zum Neffen nach wenigen Tagen, eine Entlassung aus der Haft zu bewirken. Auch das ein Hinweis auf den nach wie vor vorhandenen Einfluss Weißauers. Günther W. Gellermann schreibt in der Einleitung seines 1995 erschienenen Buches „Geheime Wege zum Frieden mit England…“:„Die Person des deutschen Agenten, Dr. Ludwig Weißauer, der, so lassen seine eigenen, wenig präzisen Angaben vermuten bereits vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wirtschaftliche und diplomatische Aufträge auf der Geheimdienstebene wahrgenommen hat, lässt viele Fragen offen.“ In der spärlich vorhandenen Literatur wird er gelegentlich als Rechtsberater Hitlers bezeichnet. Während des von General Franco angezettelten Bürgerkriegs, also im Zeitraum von 1936 bis 39, muss er sich u.a. in Spanien aufgehalten haben. Wie lange und in welcher Mission, ist (noch) nicht bekannt. Auch in Abessinien, das von Mussolinis Truppen besetzt war, soll er gewesen sein. Ebenso in Brasilien und in China. Im Unterschied zu anderen aus der oberen Naziriege bleiben seine Tätigkeiten zumeist im Dunkeln, da er sie in geheimer Mission als Auslandsagent des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) ausübte. Das RSHA, zu Kriegsbeginn im September 1939 von Heinrich Himmler gegründet, fasste die Sicherheitspolizei (Sipo), den Sicherheitsdienst (SD) und die Geheime Staatspolizei (Gestapo) zusammen. Es war die Terrorzentrale des 3. Reichs und organisierte u.a. die Ermordung der jüdischen Bevölkerung.

Wie Weißauer zum SD gekommen ist; wer ihn im RSHA protegierte, entzieht sich bisher unserer Kenntnis. 1940 erhielt Weißauer eine zivile Beschäftigung als Beamter im Reichsluftfahrtministerium, zugeordnet dem Luftgaukommando Hamburg. Auch das eine gute Tarnung, die ihm später bei seiner Festnahme durch die Amerikaner von Vorteil sein sollte. Im Reichsluftfahrtministerium meldete er sich, wenn er ins Ausland reiste, und das war oft der Fall, bei Graf von Baudissin (Scharführer der SA und NSDAP-Mitglied) im Luftwaffenverwaltungsamt ab. Dieser Verwaltungsjurist war 1960/61 stellvertretender NATO-Botschafter in Paris und nach 1975 Rechtsanwalt in München. Jeder hätte dem anderen schaden können, da war es für beide Seiten nützlicher zu schweigen. Im Juli 1940 erhielt Weißauer einen Auftrag, der strengste Geheimhaltung erforderte. Im geheimen Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 war Finnland dem Interessensgebiet der UdSSR zugeschlagen worden. Die finnische Regierung befürchtete deshalb einen Angriff der Roten Armee und wollte sich Rückendeckung verschaffen. Im Juli 1940 trat Weißauer an den neuen Gesandten Finnlands in Berlin, T. M. Kivimäki, heran. Es kam zu mehreren Gesprächen.Bei einem dieser Gespräche „ließ Weißauer Kivimäki wissen, dass es konkrete deutsche Pläne, die Sowjetunion anzugreifen, gäbe.“ (14) Noch im Juli reiste Weißauer nach Stockholm und Helsinki, um über hochrangige Kontaktpersonen herauszufinden, wie sich Finnland und Schweden bei einem Angriff auf die UdSSR durch Deutschland verhalten würden. Die finnische Regierung machte deutlich, dass sie sich an dem Angriff nicht beteiligen, aber das eigene Territorium verteidigen würde. Im März 1942 wurde Weißauer für seine Verdienste vom Präsidenten Finnlands zum „Kommandeur des Ordens der Weißen Rose“ ernannt und erhielt das „Komturkreuz des Ordens der Weißen Rose von Finnland“.

 

Verhandlungen mit England

Weißauer war Mitte 1940 mit einem weiteren Auftrag betraut worden. Seine Aufenthalte in Schweden sollten Bewegung in die Verhandlungen mit England bringen. Seit dem 3. September 1939 war GB Kriegspartei, war aber vorerst nur mit Kriegsvorbereitungen beschäftigt. Im Juni 1940 fand ein Gespräch zwischen dem Unterstaatssekretär im britischen Außenministerium, Butler, und dem schwedischen Gesandten in London statt. Es gab im britischen Außenministerium durchaus ernstzunehmende Kräfte, die auf eine Einigung mit Deutschland orientierten. Strikt dagegen war jedoch Premierminister Winston Churchill, der jede Vormachtstellung eines Staates auf dem Kontinent ablehnte. Hitler und die deutsche Führung wiederum wollten einen Zweifrontenkrieg vermeiden und waren zu Zugeständnissen bereit. Eine Einigung mit England sollte erreicht werden, bevor der Angriff auf die Sowjetunion begann. Die Schweden sollten vermitteln und die einzelnen Schritte über Weißauer mit Hitler absprechen. Über Wochen wurde auf der Geheimdienstschiene verhandelt, wobei die englische Seite zuletzt auch die US-Regierung miteinbezog. Als dann schließlich Hitlers Vorschläge definitiv abgelehnt wurden, reagierte die deutsche Führung im August 1940 mit verstärkten Luftangriffen auf England. Im Oktober 1941 wurde Weißauer zum Regierungsrat a. Kr. (auf Kriegsdauer) ernannt und anschließend zum Luftgaukommando Rostow versetzt. Im April 1942 erfolgte eine Abordnung ins Reichsministerium Ost. Er bekam die Aufgabe zugewiesen, die wirtschaftlichen Maßnahmen der Heeresgruppe Nord , mit Sitz in Lettland, mit denen der Heeresgruppe Süd abzustimmen. An seinen Vorgesetzten in der Abteilung Führungsstab Politik im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, Dr. Otto Bräutigam, lieferte er auch Berichte über die Stimmung in der Bevölkerung in den baltischen Gebieten. Bräutigam war in die systematische Ermordung der Jüdinnen und Juden in den besetzten Gebieten des Ostens eingebunden. Trotzdem wurde er in der BRD Leiter der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes. Auch Weißauer muss über die Mordaktionen bestens Bescheid gewusst haben. Man war mit seiner Arbeit mehr als zufrieden. Und so wurde er am 1. April 1944, zwar etwas spät, aber immerhin, zum Oberfeldintendanten (Oberregierungsrat) befördert.

 

Weißauers Nachkriegskarriere

Ob der Exagent des SD nach dem Krieg bei den Amerikanern hätte anheuern können? Viele andere machten oder versuchten es zumindest. Er entschied sich für einen anderen Weg. Als Rechtsanwalt eröffnete er eine Kanzlei und zog 1958, nach dem Tod seiner Mutter aus dem Pfarrhaus in eine gegenüberliegende Mietwohnung mit drei Zimmern. Wohl nicht zufällig wohnte zwei Stockwerke über ihm eine alte Bekannte und Weggefährtin, nämlich Melitta Wiedemann, auch sie früher in den Diensten des SD. Der Neffe Weißauers vermutet, es sei “nicht von der Hand zu weisen, dass sie später von L.s Zuwendungen lebte. Er musste für sie sorgen, weil sie zu viel aus der gemeinsamen Vergangenheit wusste.” (LW)* Der Neffe gibt interessante Einblicke in das Verhältnis von Ludwig Weißauer zu Melitta Wiedemann. “Ich selbst wohnte als Student während meiner gesamten Studienzeit von 1962 – 1967 unentgeltlich bei meinem Onkel L. Täglich kam gegen 18.00 Uhr Frau W., die bei ihm als Sekretärin in der Kanzlei arbeitete, mit dem Abendessen im Henkelkorb aus dem 2. Stock herunter. Obwohl sich die beiden seit über 50 Jahren kannten, waren sie stets per Sie. Dann saßen wir zu dritt beim Essen. Ich wurde Zeuge von häufigen Streitgesprächen, was dann manchmal dazu führte, dass es für ein paar Tage kein Essen gab. Ich verstand nicht viel davon, da mir beider Vergangenheit unbekannt war.” Und noch einige Bemerkungen des Neffen geben Hinweise,wie Weißauer in diesen Jahren “tickte”: “Er war stets von großer Angst besetzt. Fenster und Türen waren immer verriegelt, am Telefon meldete er sich nie mit Namen. L. hatte während des “Kalten Krieges” ständig Angst vor einem Atomkrieg, den er kommen sah.” Er sei ein einsamer Mensch gewesen. Auch nach dem Krieg habe er keine wirklichen Freunde besessen. Es gab aber offensichtlich noch ein anderes Leben, das mit seiner beruflichen Tätigkeit zusammenhing. Er konnte auf Kenntnisse zurückgreifen, die er damals in Genf beim Internationalen Arbeitsamt erworben hatte. Kommen wir zu der für uns interessantesten Frage. Wie konnte es dem Dr. Ludwig Weißauer mit dieser Vergangenheit gelingen, in die Führungsspitze des DGB in München zu kommen und über diese Schiene in den Bayerischen Senat? Solange es den Senat gab, waren die Sitze sehr begehrt. Was die elf Gewerkschaftssitze betraf, waren sie in der Regel den verdienten Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften, zumeist altgediente Sozialdemokraten, vorbehalten. Es gibt keinen Hinweis auf einen SPD-Beitritt Weißauers. Allerdings hatte er über seine rechtsanwaltliche Tätigkeit Kontakte in dem gewerkschaftlichen Bereich. Wie wir gesehen haben, hatte er sich schon früh bei der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf Kenntnisse angeeignet, die ihm den Zugang verschafften. Und so war er seit 1950 Syndikus der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger in der Gewerkschaft Kunst im DGB Bayern und soll auch Mitglied des DGB- Landesbezirksvorstandes gewesen sein. Mit Ludwig Linsert, der 1950 Münchener Kreisvorsitzender und von 1958 – 1969 Landesvorsitzender des DGB war, scheint er nach Aussage mehrerer Gewerkschafter einen freundschaftlichen Umgang gepflegt zu haben. Beide waren Senatskollegen. Linsert von 1956 bis 1969 und Weißauer von 1957 bis 1961. Linsert kam aus dem Widerstand. Seine ISK – Gruppe (Internationaler Sozialistischer Kampfbund) war 1938 von der Gestapo zerschlagen worden. Er selber war zu einer zweijährigen Zuchthausstrafe verurteilt und nach seiner Haftentlassung zur Strafdivision 999 eingezogen worden. Fiel Ludwig Linsert bei seinen Kontakten mit Weißauer nichts auf? Gewerkschaftsfunktionäre, die damals mit Weißauer zusammenarbeiteten, äußerten sich in den 90er Jahren zu seiner Person: Karl Hauptmannl, von 1954 bis 1970 Vorsitzender der GEW Bayern und Senator a.D.:„Weißauer war sehr beliebt, leutselig, machte den Eindruck eines bedeutenden Menschen, in politischen Problembereichen äußerst zurückhaltend und keinesfalls provozierend.“ Der aus Nürnberg stammende Walter Roth, Senatsvizepräsident a.D. und ehem. Leiter der Abteilung Beamte und öffentlicher Dienst im DGB Bayern über seinen Kollegen:„Weißauer war ein sehr angenehmer Kollege im Senat, er besaß hohes Ansehen, war sehr gebildet, wirkte elegant, war sehr zurückhaltend, ein sehr leiser Kollege.“ Warum sollte man auch bei einem so sympathischen Menschen kritische Fragen stellen? 1970 erschien Weißauers letztes Buch mit dem Titel „Die Zukunft der Gewerkschaften“. Darin sprach er sich gegen einen Staatssozialismus und für einen Gewerkschaftssozialismus aus. Darauf einzugehen, würde zu weit führen. Als Rechtsanwalt hatte er noch ein weiteres Standbein, das der Todesanzeige seiner Mitarbeiter zu entnehmen ist. Er war langjähriger Vertragsanwalt des Deutschen Bundeswehrverbandes im Wehrbereich VI. In dieser Todesanzeige, steht auch der Hinweis auf seinen Dienstgrad in der Wehrmacht:Oberfeldintendant. Es heißt da auch, er sei „an einer Spätfolge des Krieges“ gestorben: Das ist insofern merkwürdig, weil sein Neffe, der es besser wissen musste, sein Lebensende ganz anders schilderte:„In den letzten beiden Lebensjahren litt er an einem Leberkrebs, der auf eigenen Wunsch nie stationär behandelt wurde. Er hatte jahrelang täglich eine Flasche Rotwein mit Mineralwasser getrunken. Er magerte sehr stark ab, schließlich konnte er das Bett nicht mehr verlassen, Frau Wiedemann und ein Medizinstudent, der nach mir das Zimmer bewohnte, pflegten ihn fürsorglich.“ Weißauer starb im Februar 1973. Bis zuletzt konnte er seine nicht unbedeutende Nazivergangenheit geheim halten. Und er hatte vermutlich bis zuletzt kein Problem damit.

Hans Elas

Geschichtswerkstatt Dorfen

 

Günther W. Gellermann: „Die geheimen diplomatischen Missionen des Dr. L. Weißauer“, in: (ders.): Geheime Wege zum Frieden mit England. Ausgewählte Initiativen zur Beendigung des Krieges 1940/42. Bernard und Graefe, Koblenz 1995

(LW)* aus einer undatierten Aufzeichnung des Neffen von Dr. Ludwig Weißauer