Buchbesprechung:
“Sozialismus ohne Basis. Arbeiterschaft und Sozialismus in der DDR.” verlag am park Berlin, 2021, 184 Seiten, 15,- €
Arbeiterschaft und Sozialismus in der DDR
Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts traf der damals jugendliche Rezensent in der alten Friedensbewegung auf ein paar Mitglieder einer kleinstädtischen Grundeinheit der DKP. Sie wiesen den Vorwurf, nur der verlängerte Arm Moskaus zu sein, mit einem überraschenden Argument zurück: den inhaltlichen Differenzen zwischen der Landreform während der Zeit der Sowjetischen Militärregierung und der späteren Zusammenfassung der Neubauern in LPGs1 nach der Gründung der DDR.
Sie leiteten daraus ab, keine Unterscheidung zwischen DKP und SED machend, dass deutsche Kommunisten sehr wohl ihre eigene Agenda haben, und diese notfalls auch gegen Moskau durchsetzen. Das ließ einen sprachlos zurück. Bisher war man der Ansicht, dass alle Kommunisten das gleiche Programm verfolgen. Dazu sollte auch die Kollektivierung des Bodens gehören. Die Argumentation der DKPler stand auch in diametralem Gegensatz zu allen Erklärungen von rechts bis links, einschließlich der offiziellen DKP-Position, was in den Nachkriegsjahren in der SBZ2 und später in der DDR geschehen sei. Im Allgemeinen wurde die Gründung der LPGs als zwangsläufige Folge der Blockkonfrontation gesehen. Ein selbstständiges Handeln von Kommunisten aus der alten KPD kam da nicht vor.
Die Gründe für diese widersprüchliche Entwicklung hat jetzt Heiner Karuscheit in seiner Untersuchung Sozialismus ohne Basis. Arbeiterschaft und Sozialismus in der DDR dargelegt. Bevor wir uns dem Inhalt zuwenden, muss zuerst der Autor vorgestellt werden.
Karuscheit kommt aus der westdeutschen ML-Bewegung. Nach deren Zerfall wurde er Redakteur der Zeitschrift Aufsätze zur Diskussion (AzD). Sie war das Organ der Gruppe Neue Hauptseite Theorie (NHT). Deren Ziel war eine kritische Beschäftigung mit der ML-Bewegung auf marxistischer Basis.
Die NHT ist zerfallen, aber die AzD erscheinen noch heute. Dort versucht man auf wissenschaftlichem Niveau den Marxismus zu verteidigen und weiterzuentwickeln. Diese publizistischen Aktivitäten laufen in der Regel unterhalb des Radars der etablierten linken Publikationen ab. Doch im Jahr 2013 tauchte Karuscheit mit seinem Buch zum Ersten Weltkrieg3 wie der sprichwörtliche Phönix aus der Asche auf. Die Tageszeitung junge Welt veröffentlichte auf ihrer Themenseite sogar einen Vorabdruck.
Diese Schrift war der Beginn einer Reihe von Veröffentlichungen, zum Teil in Zusammenarbeit mit anderen Autoren, zu Fragen der deutschen und russischen Geschichte am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Auf den Ergebnissen dieser Arbeiten baut das hier besprochene Buch auf.
Karuscheit vertritt Positionen, die den traditionellen linken Sichtweisen, besonders solchen, die aus der Tradition des Spartakusbundes/KPD/SED kommen, zuwiderlaufen. Das gilt ganz besonders für sein Buch zum Ersten Weltkrieg. Dort finden sich folgende Thesen:
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Mit der Reichsgründung von 1871 wurde Deutschland nicht zu einem bürgerlichen Staat. Die Aufgaben der gescheiterten Revolution von 1848 harrten damit immer noch ihrer Erledigung. Die damalige SPD und ihr linker Flügel betrachteten das Kaiserreich aber als bürgerlichen Staat, ohne das jemals näher untersucht zu haben. Daher gab es für sie als nächsten Schritt in der geschichtlichen Entwicklung nur den Sozialismus.
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Die SPD des Kaiserreichs hat keinen Prozess der Verbürgerlichung durchlaufen, sondern eine Verpreußung. Das war die Folge davon, dass sie sich nicht in einen bürgerlichen Staat integrierte, sondern in den militärisch fundierten preußischen Obrigkeitsstaat.
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Der wesentliche Grund für den Ausbruch des 1. Weltkriegs lag nicht in der Konkurrenz zwischen den imperialistischen Ländern. Ausschlaggebend waren die innenpolitischen Verhältnisse in Deutschland. Die Klasse der Junker wollte mit einem Erfolg auf dem Schlachtfeld ihre Stellung als die das Land dominierende Klasse wieder festigen. Der Reichsgründungskompromiss zwischen Bourgeoisie und Junkertum war 1909 zerbrochen.
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Aufgrund der Fehleinschätzung der Gesellschaft, in der sie wirkte, ging der linke Flügel der Arbeiterbewegung während der Novemberrevolution von falschen Voraussetzungen aus. Er kämpfte für die Einführung des Sozialismus und nicht für die Vollendung der Revolution von 1848. Das isolierte ihn von der Gesellschaft. Seine Ziele waren nicht einmal in der Arbeiterklasse mehrheitsfähig.
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Die Novemberrevolution war daher eine gescheiterte bürgerliche Revolution. Im Gegensatz dazu betrachtete sie die KPD der Zwischenkriegszeit als gescheiterte sozialistische Revolution.
Diese Positionen stoßen innerhalb der kommunistischen Bewegung auf Ablehnung. Daher wäre es nützlich gewesen, wenn einer der emeritierten Hochschullehrer, die in linken Publikationen veröffentlichen, eine Kritik des Buches vorgenommen hätte. Ein Fachhistoriker sollte seine Thesen mit der gleichen Gründlichkeit widerlegen oder bestätigen, wie es Karuscheit mit dem fraglichen Abschnitt der deutschen Geschichte gemacht hat. Das ist nach Wissen des Rezensenten nicht passiert.
Daher setzt Sozialismus ohne Basis die aufgeführten Thesen als gegeben voraus. Der Text beginnt mit dem Aufruf des Zentralkomitees der KPD vom Juni 1945, worin sich folgende programmatische Aussage findet: “Mit der Vernichtung des Hitlerismus gilt es gleichzeitig, … die Sache der bürgerlich-demokratischen Umbildung, die 1848 begonnen hat, zu Ende zu führen, …”. Für Karuscheit bedeutet das “eine vollständige Abwendung von der bis dahin verfolgten Revolutionsstrategie der KPD”. Diese Kehrtwendung erfolgte nicht ganz freiwillig. “Bereits 1938 hatte der »Kurze Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)« verlautbart, dass die Novemberrevolution in Deutschland keine sozialistische, sondern eine unvollendete bürgerliche Revolution gewesen sei”.4 Diese Linienänderung stieß an der Basis auf Widerstand, sie wurde aber nicht diskutiert. Ebenso wenig beschäftigte man sich mit der linksradikalen Politik der KPD in der Zwischenkriegszeit. Auch stellte man sich nicht die Frage, “mit welcher Politik es dem Nationalsozialismus gelungen war, die Mehrheit der Arbeiterschaft bis zum Schluss an die »Volksgemeinschaft« zu binden?” Die vorherrschenden Einstellungen legten “die unausgesprochene Schlussfolgerung nahe, dass die Partei die Rolle eines Vormundes übernehmen musste, um ein irregeleitetes Proletariat umzuerziehen.”
Da die deutschen Kommunisten nicht aus eigener Kraft an die Schaltstellen der staatlichen Macht gelangt waren, mussten sie sich den Vorgaben aus Moskau fügen. Das bedeutete aber nicht, dass sie damit ihre Ziele aufgegeben hätten. Ihnen spielte in die Hände, “dass die aus Moskau kommenden Direktiven in unterschiedliche Richtungen wiesen.” Das lag an “unterschiedlichen Auffassungen über die zu verfolgende Außen- und Revolutionspolitik”.
Diese Richtungen bezeichnet Karuscheit als Defensiv- und Offensivstrategie. “Stalin vertrat eine vorsichtig-defensive Konzeption.” Die Vertreter dieser Richtung betrachteten die erforderlichen Rüstungsanstrengungen bei einer offensiven Politik als Gefahr für den wirtschaftlichen Wiederaufbau. Sie setzten daher auf ein neutrales bürgerliches Gesamtdeutschland. Im Rahmen dieser Politik wurde mit der Bodenreform in der SBZ die Klasse der ostelbischen Gutsbesitzer entmachtet. Zu dieser Linie gehört auch die Stalin-Note vom März 1952. Sie hätte eine Wiedervereinigung Deutschlands zu Bedingungen erlaubt, wie sie Österreich akzeptiert hat. Damit wäre Deutschland zu einem neutralen Staat zwischen dem sich bildenden westlichen Bündnis und der UdSSR geworden.
Die Vertreter der Offensivstrategie waren überzeugt von der prinzipiellen Überlegenheit des Sozialismus und einer gleichzeitigen Verschärfung der Krise des Kapitalismus. Sie gingen davon aus, dass Konzessionen das imperialistische Lager nur aggressiver machen würde. Diese Richtung wünschte “eine rasche Umgestaltung der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands nach sowjetischem Vorbild”. Diese Fraktion vertrat ähnliche Vorstellungen wie die Kommunisten in der SED.
Daher reagierte die Führung der SED auf die Stalin-Note mit dem Sozialismusbeschluss vom Juli 1952. Ihr war klar, dass sie eine Wiedervereinigung zu einer Oppositionspartei machen würde. Mit dem Sozialismusbeschluss lieferte sie den Gegnern der Stalin-Note im Westen die Argumente, den Vorschlag der UdSSR abzulehnen. Damit vertiefte sie “die Spaltung Deutschlands vom Osten her”. Hier kam die Agenda der deutschen Kommunisten zum Tragen, die immer noch ihrer linksradikalen Linie folgten. Auch sie wurden von einem großen historischen Optimismus getragen. Sie erwarteten, dass eine erfolgreiche Entwicklung des Sozialismus die Menschen von seiner Überlegenheit überzeugen werde.
Doch das war Wunschdenken. Da dieses System den Menschen von oben oktroyiert wurde, machten sie es nicht zu ihrer Sache. Wie man an Cuba und Venezuela sehen kann, sind Menschen bereit, für den Sozialismus viel zu erdulden. Doch müssen sie dafür zuerst den Sozialismus zu ihrer Sache machen.
Genau entgegengesetzt verhielten sich die Menschen in der DDR. Ihre Arbeitsmoral war schlecht. Sie verließen die DDR und gingen in den kapitalistischen Teil Deutschlands, wo ein höheres Konsumniveau auf sie wartete. Am Ende kam es wegen einer Akkorderhöhung zum Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953.
“Damit gab die Arbeiterschaft die Antwort auf den ihr übergestülpten Sozialismusbeschluss ein Jahr zuvor - die Herrschaft der SED war am Ende. Sie wurde damals noch einmal durch das Eingreifen der sowjetischen Armee gerettet …”.
Mit dem Eingreifen in der DDR war der Machtkampf in Moskau entschieden und die Parteilinke stellte die Weichen für die weitere Entwicklung der UdSSR. Wie wir heute wissen, begann damit der Marsch in den Abgrund.
In der DDR führten die Ereignisse von 1953 zu einer absurden Situation. “Auch wenn die Rebellion der Arbeiter am 17. Juni 1953 gescheitert war, hing die Erfahrung ihres Aufstandes wie ein Damoklesschwert über der SED und verschaffte den Arbeitern … strukturelle Macht, alle wiederkehrenden Anläufe, das Leistungsprinzip in der Produktion durchzusetzen, zum Scheitern zu bringen. Kaum meldete das MfS das leiseste Murren der Unzufriedenheit, ließ die SED das Vorhaben fallen wie eine heiße Kartoffel.”
In der DDR war die Arbeiterklasse also doch an der Macht, wenn auch nicht im Sinne von Kommunisten. Solche Verhältnisse kann man gelegentlich auch in bürgerlich-kapitalistischen Staaten beobachten. Sobald strategisch wichtige Teile der Arbeiterklasse beginnen ihre Unzufriedenheit zu äußern, geben die Herrschenden sofort nach.
Die Rote Armee hatte die Herrschaft der SED gesichert. Daher musste ihre Herrschaft enden, als die UdSSR dazu nicht mehr bereit war. So ist es dann auch gekommen. Für Karuscheit kehrte damit “die von der KPD/SED 1918/19 ebenso wie 1952/53 negierte bürgerliche Revolution 1989/90 zurück”. Er sieht das als eine positive Entwicklung. Diese Revolution “schob einen Klotz beiseite, der dem gesellschaftlichen Fortschritt im Wege stand”. Ohne dem Verschwinden dieses Klotzes war und ist, seiner Ansicht nach, “kein neuer Anlauf zur Ablösung der bürgerlichen Ordnung durch eine assoziierte Gesellschaftsordnung möglich”.
Diese Ansicht wird vielen nicht behagen. Doch letztendlich muss man sich dieser Sicht anschließen. Der Sozialismus kann nur durch einen freiwilligen Akt, im Rahmen der jeweiligen historischen Möglichkeiten, eingeführt werden. Mit Direktiven von oben geht das nicht, schon gar nicht, wenn sie von der Basis abgelehnt werden. Greift man zu solchen Maßnahmen, untergräbt man die eigenen intellektuellen Grundlagen.
Das kann man auch am weiteren Lebensweg der eingangs erwähnten DKPler sehen. Nach dem Fall der Mauer ging einer zur SPD. Ein anderer hat sich später im Rahmen der Linkspartei dafür entschuldigt, Mitglied der DKP gewesen zu sein. Das sind keine guten Voraussetzungen, dass sich Menschen wieder an den Schriften von Marx und Engels orientieren, wenn sie mit ihren Lebensbedingungen unzufrieden sind.
Titel und Titelbild lassen einen zähen Text in der Art von SED-Dokumenten erwarten, doch das Gegenteil ist der Fall. Das Buch liest sich überraschend gut. Ihm ist eine weite Verbreitung zu wünschen, auch wenn man sich den Standpunkten des Autors nicht anschließen möchte. Man erfährt darin viel Neues aus den internen Diskussionen in der UdSSR und SED.
Emil Berger
1. Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft
2. Sowjetische Besatzungszone
3. Heiner Karuscheit, Deutschland 1914. Vom Klassenkompromiss zum Krieg., Hamburg 2014
4. Alle nicht nachgewiesenen Zitate sind dem besprochenen Buch entnommen.