Was ist da passiert ?

 
In den letzten drei Jahren lebten viele Chilenen mit der Hoffnung, dass die während der Militärdiktatur geschriebene Verfassung endlich auf dem Misthaufen der Geschichte landet. So ist es leider nicht gekommen. Der von einer Verfassungsgebenden Versammlung (VV) geschriebene Entwurf ist bei der abschließenden Volksabstimmung krachend gescheitert. Knapp 4,91 Millionen Wähler (38%) stimmten Apruebo, doch fast 7,9 Millionen (62%) Rechazo. Damit hat die chilenische Bourgeoisie das erreicht, was sie spätestens seit ihrer Niederlage bei der Wahl der Constituyente angestrebt hat.
Eine herrschende Klasse kann die Gesellschaft nur mit Hilfe von Bündnissen mit anderen sozialen Schichten dominieren. Dazu gehört die Fähigkeit, diese zu rekonstruieren, wenn sie zerbrechen sollten. In Chile hat die Bourgeoisie darin viel Erfahrung. Wie das Abstimmungsergebnis zeigt, kann sie inzwischen mehr Unterstützung mobilisieren als vor dem Militärputsch. Damals entfielen bei der letzten Wahl 55,5%2 auf ihr Lager.
Die Erweiterung ihrer Basis ist eine Folge der Verankerung des neoliberalen Denkens. Davon ist auch die Linke betroffen. Der Individualismus erschwert die zielgerichtete Zusammenarbeit zum Erreichen eines gemeinsamen Zieles. Wobei im heutigen Chile, wie in vielen anderen Ländern, Positionen als links gelten, die vor 50 Jahren noch dem Liberalismus zugeordnet wurden.
Die soziale Explosion der letzten Jahre hat die ökonomische Basis Chiles, Grundlage des von der Bourgeoisie geführten Blockes, nicht angetastet. Daher war seine Wiederherstellung immer möglich. Das hat auf Seiten der Linken anscheinend niemand zur Kenntnis genommen.
Um die Rekonstruktion der Dominanz dieses Blockes nachvollziehen zu können, muss man bis zur sozialen Explosion im Oktober 2019 zurück gehen. Chile wurde damals von einem rechten Präsidenten regiert. Er widmete sich dem Abbau der sozialen Verbesserungen seiner Vorgängerin. Damit brachte er auch Teile seiner Basis gegen sich auf. Einige von ihnen beteiligten sich sogar an Demonstrationen. Sie waren bei den Kundgebungen eine Minorität, aber ihre Anwesenheit verlieh der Bewegung ihre Kraft.
Die Verfassung Chiles verbietet die Einführung eines Sozialstaates. Alle Versuche, daran etwas zu ändern, sind in den letzten 30 Jahren gescheitert. Daher forderten die Demonstranten ein neues Grundgesetz. Durch die Massenbewegung geriet die Rechte massiv unter Druck. Zur Beruhigung der Lage vereinbarte sie mit den Oppositionsparteien einen verfassungsgebenden Prozess. Mit ihrer Sperrminorität hatten sie in der Vergangenheit dafür gesorgt, dass es nur ihr genehme Änderungen gab. Der Druck der Straße zwang sie nun zu einem Weg, den sie mit parlamentarischen Mitteln nicht mehr stoppen konnte. Damit lag die gesetzgebende Macht für eine kurze Zeit in den Händen des Volkes. Deshalb kann man die soziale Explosion als Geschenk Gottes betrachten. Damit wurde eine Türe geöffnet, die sonst verschlossen geblieben wäre.
Die Rechte hat ihre Zustimmung zu diesem Prozess auch im Vertrauen darauf abgegeben, dass sie im Wahlvolk gut verankert ist. Das hätte ihr in der VV wieder die Macht zum Veto geben sollen, doch das verhinderte die Pandemie. Die Regierung verärgerte mit ihrer Coronapolitik aufs Neue ihre Basis. Deshalb streikte bei der Wahl der Constituyentes fast die Hälfte der rechten Wählerschaft und blieb zu Hause. So verlor die Rechte ihre Macht zum Veto. Daher kann man Corona als zweites Geschenk Gottes betrachten. Ohne die Pandemie hätte Chile jetzt möglicherweise eine neue Verfassung, einen Sozialstaat könnte man auf ihrer Basis wohl trotzdem nicht errichten.
Diese zwei Ereignisse wurden in der ARSTI 212 als Schritte eines revolutionären Prozesses zu einer bürgerlichen Revolution beschrieben. Die Bezeichnung bürgerliche Revolution war nicht korrekt. Die Bourgeoisie hatte die Macht ja schon in ihren Händen. Demokratische Revolution beschreibt die Vorgänge treffender. Schließlich waren es Ereignisse, die der Ausgangspunkt einer erfolgreichen Revolution hätten sein können, hin zu einer Umwälzung von neoliberalen zu sozialstaatlichen Verhältnissen.
Am Ende des damaligen Textes wurde die Notwendigkeit weiterer Überraschungen betont. Die sind leider nicht eingetreten. Daher konnte die herrschende Klasse ihre Dominanz wieder zurückgewinnen.
 
Die Strategie des Rechazo
Nach ihrer vernichtenden Niederlage bei der Wahl der VV orientierte die Rechte auf die Delegitimierung dieses Gremiums. Ziel war eine Ablehnung des Verfassungsentwurfs bei der abschließenden Volksabstimmung. Wie die Delegitimierung vonstatten gegangen ist, kann man in der ARSTI Nr. 215 nachlesen. Doch der entscheidende Punkt, warum die Rechte diese massive Durchschlagskraft erreichte, lag in der Wiedereinführung der Wahlpflicht. Sie wurde, nur für diese Abstimmung, in der Übereinkunft vom November 2019 beschlossen.
Der damalige Parteichef der Christdemokraten, Fuad Chahín, wird jetzt von den Medien gefeiert3, weil er sie in die Vereinbarung hat aufnehmen lassen. Sie betrachten die Wahlpflicht als einen “entscheidenden Faktor” für den deutlichen Sieg des Rechazo. Die Wahlbeteiligung erreichte einen Rekord von fast 86%, bei der Stichwahl um die Präsidentschaft lag sie bei 55%.
Dem kann man nicht widersprechen. Hatten die rechten Präsidentschaftskandidaten vor einem Jahr ca. 3,8 Millionen Stimmen erhalten, konnte dieses Lager jetzt 7,9 Millionen einsammeln, fast 4 Millionen mehr. Gabriel Boric verdankte seinen Sieg in der Stichwahl 4,6 Millionen Wählern. Im Vergleich hat Apruebo nur 240.000 zusätzliche Stimmen erhalten.
Es liegt nahe, dass Menschen, die sich Wahlen verweigern, weniger über politische Dinge nachdenken. Man kann sie leichter durch Propaganda beeinflussen. Deshalb wurde massiv auf die Wahlpflicht hingewiesen, verbunden mit der Ankündigung, diesmal die Strafen wirklich einzutreiben. Vor ihrer Abschaffung 2012 hatte man das nicht so ernst genommen. Diesmal wusste jeder, dass die Wahlenthaltung 180.000 Pesos kosten wird. Das ist fast die Hälfte des monatlichen Mindestlohns4. Da überlegt man es sich zweimal, ob man zu Hause bleibt.
Die Christdemokratie ist damit ihrer alten Rolle treu geblieben. Sie gibt sich als eine volksnahe Kraft der Mitte, betreibt aber das Geschäft der Bourgeoisie. Das war vor drei Jahren, ob es heute noch zutrifft, wird die Zukunft zeigen. Die Partei hat zu Apruebo aufgerufen, aber Dissidenten wie Chahín taten das Gegenteil. Der Umgang mit ihnen wird zeigen, wohin sich die DC entwickelt.
Dabei hat ein Teil der traditionellen Basis der DC, der die Zusammenarbeit mit der Rechten ausdrücklich wünscht, sich eine neue Partei geschaffen. Die Partido de la Gente (PDG, Partei der Leute) ist inzwischen die mitgliederstärkste Partei des Landes. Sie votierte für Rechazo.
Auf Seiten der Bourgeoisie findet man auch ehemalige Linke. Das sind diejenigen, die aus dem Scheitern Allendes den Schluss gezogen haben, dass sie die neoliberale Politik von heute schon 1970 hätten machen sollen. Aus Gründen der Tradition wollen sie sich nicht offen mit der Rechten verbünden. Zu diesem Kreis gehört der ehemalige Präsident Ricardo Lagos. Er bekleidete das Amt für das Mitte-Links Bündnis Concertación und veröffentlichte eine Erklärung, die sein Wahlverhalten offen ließ. Jemand hat sich die Datei näher angesehen und dabei bemerkt, dass in den Eigenschaften als Verfasser ein bekannter Aktivist des Rechazo steht.
Schon die letzten Wahlen hatten gezeigt, dass der herrschende Block seinen Einfluss wiederhergestellt hatte. Die Parlamentswahlen wurden von den rechten Parteien gewonnen, nur die gleichzeitig abgehaltene Präsidentschaftswahl haben sie verloren. Aus einem einfachen Grund: Chile akzeptiert bisher keinen Präsidenten, der offen die Diktatur verherrlicht.
Nach der Rekonstruktion ihrer Dominanz hätte die herrschende Klasse die Dinge ihren Lauf lassen können. Das war ihr offensichtlich zu riskant. Das Land wurde mit einer unvorstellbaren Propagandakampagne überzogen. Dem konnte Apruebo kaum etwas entgegensetzen. Wie das Onlinemedium El Desconcierto meldete, hat die Kampagne für Rechazo viermal so viele Geldspenden erhalten wie Apruebo5. Dazu kommen die Mittel für indirekte Werbung, unter anderem für zahllose Influencer in den sozialen Medien, die tauchen in den offiziellen Zahlen gar nicht auf.
Auch die Massenmedien unterstützten die Kampagne. Sie gehören ja auch den Besitzenden. Es wurden Behauptungen aufgestellt, die weitgehend auf Lügen basierten. Es wurde behauptet, dass man den Leuten bei einem Sieg des Apruebo das Häuschen wegnimmt. Angeblich würde die neue Verfassung ihnen die Ausübung ihrer Religion verbieten und hätte die Zerstörung von Kirchen zur Folge. Die Regelungen über die Ureinwohner würde diesen mehr Rechte einräumen als anderen Chilenen. Außerdem schützen sie die Mapuche-Terroristen vor der Strafverfolgung. Die Definition Chiles als plurinationaler Staat führe zur Abspaltung von Landesteilen. Auch die nationalen Symbole sollen abgeschafft werden. Am Ende glaubte die rechte Basis wirklich, dass es sich bei dem Entwurf um eine Art von kommunistischer Verfassung handelt.
Ein Beispiel für das Niveau der Auseinandersetzung war der Vorwurf an Karol Cariola, dass einer ihrer Vorschläge an den Holocaust erinnern würde.6 Was hatte die kommunistische Abgeordnete, die eine der beiden Sprecher der Kampagne für Apruebo war, gemacht? Sie hatte ihre Unterstützer dazu aufgefordert, ihre Häuser mit entsprechenden Plakaten zu verzieren.
Aus Deutschland schaut man fassungslos auf dieses Szenario. Da geht es um einen Verfassungsentwurf, der von seinem sozialen Inhalt in etwa dem Grundgesetz entspricht. Doch auch, wie Jorge Baradit, einer der Constituyentes nach der Niederlage formuliert: "Wir haben alle bisher zum Schweigen gebrachten und abweichenden Stimmen aufgenommen, aber wir haben nicht vorhergesehen, wie sie in den Köpfen der Chilenen koexistieren werden.“
Die Artikel des Verfassungsentwurfs sind gegendert. Es wurde die paritätische Besetzung aller öffentlichen Funktionen mit Frauen und Männern vorgeschrieben. Indirekt wurde das Recht auf Abtreibung garantiert. Diversen Minderheiten räumte man ihre Rechte explizit ein. Dazu kamen in einer Demokratie eigentlich selbstverständliche Dinge wie die, dass dem Staat verboten ist, Menschen verschwinden zu lassen. Hier schlägt sich das durch die Diktatur verursachte Trauma wieder.
Dazu kommt, dass der zweite Sprecher der Kampagne Vlado Mirosevic war. Der bekannte Abgeordnete der Liberalen Partei ist über ihre internationalen Verbindungen mit der deutschen FDP verbunden. Er ist damit ein Parteifreund von Christian Lindner. Glaubte man wirklich, er könnte sich für den Kommunismus einsetzen?
Der geniale Zug der rechten Kampagne war das Motto “Rechazar para reformar”. Das lässt sich in etwa mit “Ablehnen, um zu reformieren” übersetzen. Doch das, was dann reformiert werden soll, wurde offen gelassen. Diese Losung war auch deshalb so wirksam, weil sie an den auch an der rechten Basis verbreiteten Wunsch nach einer Veränderung andockte. Dort ist man überzeugt, dass nach dem Sieg des Rechazo etwas viel besseres kommt.
Nun ja, in den Tagen nach ihrem Sieg stellten immer mehr Politiker der Rechten die Notwendigkeit von Reformen in Frage. Das führte dazu, dass Javier Macaya, Präsident der UDI, die Mitglieder seiner Partei daran erinnern musste, was sie der Öffentlichkeit versprochen hatten7. Das hat es in sich. Die UDI wurde von Jaime Guzmán gegründet, dem maßgeblichen Autor der aktuellen Magna Charta. Viele seiner Anhänger würden den Text am liebsten so erhalten wie er ist.
 
Die Volksabstimmung gegen die Regierung Boric
Der Präsident hatte sich ganz klar für Apruebo ausgesprochen. Daher erklärte man das Plebiszit auch zu einer Abstimmung über seine Politik. Nach einem halben Jahr im Amt und ohne parlamentarische Mehrheiten kann man nicht viel erwarten. Die herrschende Inflation ist eine Folge des westlichen Wirtschaftskrieges gegen Russland. Doch das Mantra war: Die Regierung tut nichts.
Ein anderes Thema war die innere Sicherheit. Hier befindet sich die Regierung in einer Zwickmühle. Ihre Basis steht den Forderungen der Mapuches aufgeschlossen gegenüber. Die terroristischen Aktionen werden eher verdrängt. Das Vorgehen der Polizei gegen Indigene steht bei ihnen, nicht ohne Grund, im Verdacht, dass Vorwürfe konstruiert werden.
Die Coordinadora Malleco Arauco (CAM), die bekannteste Organisation radikaler Mapuches, hat ihre Politik mit dem Amtsantritt der neuen Regierung nicht geändert. Die Menschen in der Araucania fürchten sich weiter vor Landbesetzungen, Holzdiebstählen und Brandanschlägen. Bei einem Besuch der Innenministerin in der Gegend äußerte sie sich in einer Art zum Thema, die nach allgemeiner Meinung zeigte, dass sie von den Problemen keine Ahnung hat.
In diesem Umfeld räumte Hector Llaitul, der Chef der CAM, ein, dass seine Gemeinschaft Holzdiebstähle begeht um an die Mittel für Waffenkäufe zu gelangen. So ein Geständnis hätte in Deutschland sofort Konsequenzen. Doch es passierte - nichts. Als er endlich festgenommen wurde, hieß es, dass die Aktion nicht von der Regierung ausgegangen ist. Das gehört auch nicht zu ihren Aufgaben. Im Zusammenhang mit der Verhaftung gelangten abgehörte Telefongespräche an die Presse. Sie legen nahe, wenn sie nicht manipuliert worden sind, dass man ihn schon letztes Jahr hätte festsetzen können. Man fragt sich, warum das nicht passiert ist.
Ein paar Tage vor der Abstimmung fand ein Aufsehen erregender Anschlag statt. Eine in Konkurrenz zur CAM stehende Gruppe hatte in Contulmo eine unter Denkmalschutz stehende Mühle abgebrannt. Sie gehörte einer deutschstämmigen Familie. Die bewaffnete Aktion kostete einem Rentner ein Bein und einem Wächter ein Auge. Für diese Situation wurde Boric verantwortlich gemacht. Doch die rechte Vorgängerregierung hatte auch keine Lösung.
Im April kam es bei den Umfragen zu einer drastischen Veränderung der Zahlen. Bis März lag Apruebo ca. 10% Prozentpunkte vor Rechazo. Das änderte sich Anfang April. Was war geschehen? Eine Kommission der VV hatte den Antrag Con mi plata no (Mit meinem Geld nicht) abgelehnt. Mit mehr als 60 0008 Unterstützern steht er auf Platz eins aller bei der VV eingereichten Petitionen.
Dieser Antrag eines Vereins gleichen Namens setzt sich, grob gesagt, für die Fortsetzung des bestehenden Systems der Altersvorsorge ein. Das geht davon aus, dass die Einzahlungen bei der Rentenversicherung der Besitz des Einzahlers sind. Daher kann man sie auch vererben. Je nach Vereinbarung bedeutet es aber auch, dass man ab einem festgelegten Zeitpunkt gar keine Rente mehr erhält.
Das, was der Verein als Wunsch der Bevölkerung ausgibt, ist ein elementares Bedürfnis der chilenischen Bourgeoisie. Mit der Privatisierung der Rentenversicherung haben die Unternehmer die Altersvorsorge unter ihre Kontrolle gebracht. Mit dem Geld der Bürger machen sie seit Jahrzehnten ihre Gewinne. Es ist klar, dass sie darauf nicht verzichten wollen. Da die privaten Rentenversicherungen ein Stützpfeiler der chilenischen Kapitalakkumulation sind, wäre das für sie existenzbedrohend. Das erklärt den massiven Einsatz der herrschenden Klasse gegen den Verfassungsentwurf.
Laut NO+AFP verwalten die privaten Rentenversicherungen (AFP) über 184 Milliarden US-Dollar9. Dem steht gegenüber, dass 50% der von diesen Instituten monatlich ausgezahlten Renten unter 162.000 Pesos liegen, das sind ungefähr 175 Euro. Daher möchte diese Initiative die privaten Rentenversicherungen abschaffen. Ihre Petition wurde angenommen. Da sie aber nur von ca. 24 000 Bürgern unterstützt wurde, war die Berichterstattung entsprechend.
Der Verfassungsentwurf schließt aus, dass Kunden der AFPs Ansprüche verlieren. Trotzdem wurde genau das suggeriert. Allein der Name der Initiative unterstellt das. Das hat offenbar gewirkt. Traut man den Meinungsforschern, liegt darin der Grund für den drastischen Absturz von Apruebo. So erklärte das Roberto Izikson, ein Direktor von CADEM, während einer Diskussion10 bei CNN Chile. In der ersten Aprilwoche stellten sie die drastische Veränderung fest. Rechazo setzte sich auf einen Schlag mit ungefähr 10 Prozentpunkten vor Apruebo. Danach hat sich nicht mehr viel geändert.
Hier spielt auch die Ablehnung einer 5. vorzeitigen Auszahlung aus den AFPs eine Rolle. Damit hatte man wegen der Pandemie begonnen. So ließ man Menschen finanzielle Mittel zukommen, die wegen der Quarantäne-Maßnahmen nicht arbeiten konnten. Da das Geld von ihnen selber kam, war es keine im neoliberalen System verpönte Transferleistung. Macht man das aber zu häufig, untergräbt man damit die eigene private Altersvorsorge. Die Menschen brauchen im Alter ja trotzdem Geld zum Leben. Daher dürfen sie die angesparten Mittel nicht vor der Zeit aufbrauchen. Das trägt die Gefahr in sich, dass sie in Zukunft staatliche Transferleistungen benötigen. Neoliberale stehen diesen Auszahlungen deshalb zwiespältig gegenüber.
Diese Rückzahlungen haben bei vielen zu der Erwartung geführt, dass das so weitergehen wird. Sie wollen an ihr Geld, um z.B. ihre Hypothek abzuzahlen, schließlich ist ihr Häuschen auch Teil der Altersvorsorge. Das ist in der neoliberalen Logik, dass Rentenansprüche Privatbesitz sind, nachvollziehbar. Warum soll nicht der Einzelne nach seinem Gusto darüber verfügen können?
Im Kongress wurden sowohl der Vorschlag der Regierung wie auch der einer Abgeordnetengruppe aus der rechten Mitte abgelehnt. Von manchen wurde das als Beweis gesehen, dass ihnen Apruebo doch an ihr Geld will. Das Kuriose ist, dass diejenigen, die im Ruf stehen, alles enteignen zu wollen, sich für die 5. Rückzahlung ausgesprochen haben. Auf dem Onlineportal der KP, El Siglo, steht: “Die Leute haben absolut Recht, wenn sie Auszahlungen fordern." Und weiter: ”Dies ist eine faire Forderung, die die absolute Illegitimität des AFP-Zwangssparsystems bestätigt."11
Nach El Siglo war Boric gegen diese Auszahlung. Er folgte damit seinen Beratern und den Wünschen der AFPs. Hier zeigt sich, dass der Präsident kein Linker ist. Mit dieser Position stellt er sich in die Kontinuität der neoliberalen Politik der Regierungen der Concertación.
 
Die Anhänger des Apruebo
Verschiedene Aussagen Lenins werden häufig in folgendem Satz zusammengefasst: „Eine revolutionäre Situation gibt es dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen.“ Angewendet auf Chile kann man sagen, dass “die unten” zeitweilig nicht mehr wollten. Doch “die oben” konnten immer, d.h. sie waren immer handlungsfähig. Daher ist es fraglich, ob Apruebo ohne weitere Überraschungen überhaupt eine Chance auf Erfolg gehabt hätte, auch bei vernünftigem Handeln aller seiner Verfechter. Trotzdem soll auf die Defizite dieses Lagers eingegangen werden.
Wie schon beschrieben, basierte der spektakuläre Erfolg für die Parteien der Linken und unabhängiger Listen nur zu einem kleinen Teil auf zusätzlichen Stimmen. Die gesellschaftliche Basis hatte sich nicht wirklich verändert. Angesichts dieser prekären Lage hätten die die VV dominierenden Kräfte der Mitte und der Linken einen Text schreiben müssen, der auch von einem Teil der rechten Wähler unterstützt werden kann. Besonders jenen, die sich bislang der Wahl verweigert hatten.
Das Thema Abtreibung zeigt, dass das nicht geschehen ist. Im §61 des Entwurfes garantiert der Staat die Rahmenbedingungen für einen selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch. Man kann sich vorstellen, dass das ein Kernanliegen der Vertreter der feministischen Bewegung war. Doch wozu hat das geführt? Die chilenische Bischofskonferenz klagte, dass “der Verfassungsvorschlag Rechte der Natur anerkennt und seine Besorgnis für Tiere als fühlende Wesen ausdrückt, aber keine Würde und kein Recht für ein menschliches Wesen im Bauch seiner Mutter”12.
Zu dieser Frage hat das Meinungsforschungsinstitut Monitor Social interessante Zahlen veröffentlicht13. So stand der Suchbegriff Abtreibung kurz vor dem Plebiszit bei Google auf dem zweiten Platz der Suchanfragen in Kombination mit Verfassung. Nur der Begriff Pensionen zusammen mit Verfassung wurde in Chile häufiger eingegeben. Das zeigt, wie vielen Menschen das Thema wichtig ist. Vielleicht wäre es besser gewesen, diese Frage offen zu lassen.
Jetzt, nach der Niederlage, wird das ausgesprochen. So von Pierina Ferreti, der Direktorin der Stiftung Nodo XXI, in einem Interview mit der Tageszeitung junge Welt: “Die Verfassungsbefürworter haben zu wenig gesehen, dass es nicht ausreicht, einen Entwurf auf einem linken Grundkonsens zu schreiben. Denn so wurden moderate konservative Kräfte ausgegrenzt, die ja in der Bevölkerung eine durchaus starke Strömung sind. Aus meiner Sicht ist es der richtige Weg, mit diesen moderaten Rechten zu verhandeln und ein größeres politisches Lager zu schaffen, das sich gemeinsam für einen neuen Verfassungsentwurf einsetzt, sie damit also in die Pflicht zu nehmen. Ich befürchte, dass wir dazu viele gute Positionen aufgeben müssen, aber so können wir am Ende eine Mehrheit für eine progressivere Verfassung gewinnen.”14 Dem ist nichts hinzuzufügen.
Zu diesem strategischen Fehler, der aber aufgrund der Zusammensetzung der VV wohl nicht zu vermeiden war, kam noch die Dummheit einzelner Constituyentes und von Unterstützergruppen des Apruebo. Sie erleichterten den Rechten ihre Arbeit ungemein.
Das begann schon am ersten Sitzungstag. So konnte man Giovanna Grandón von der Liste des Volkes als Pikachu bewundern. Das ist eine Figur aus der Welt des Videospiels Pokemón. Für sie war das naheliegend, hatte sie sich doch in dieser Verkleidung die Popularität erarbeitet, die ihr den Sitz eingebracht hat.
Jetzt klagt sie: “Meine Selbstkritik ist, dass ich mir zur Mittagszeit nicht die Kleidung von Pikachu hätte anziehen dürfen.” 15 Es gibt Bilder, wie sie in dieser Aufmachung am Rednerpult steht. Sie wurden in der Kampagne des Rechazo als Symbolbild für die Arbeit der VV verwendet. Darin wird das Ganze als Zirkusveranstaltung dargestellt.
Wie abgehoben von der Realität des Landes Grandón agierte, zeigt ihre Aussagen, dass sie sich darauf vorbereitete, zur Plaza de la Dignidad zu gehen, um den Sieg zu feiern. Offensichtlich hatte sie alle Meinungsumfragen ignoriert.
Ein anderes Beispiel ist die Abschlusskundgebung in Valparaiso. Dort führte das Kollektiv Las Indetectables, es gehört zur LGBTI+ Bewegung, mit der chilenischen Fahne eine symbolische Abtreibung durch. Das führte zu einem Aufschrei der Empörung. Sowohl wegen “pornografischer Akte bei einer Massenveranstaltung während der Anwesenheit von Kindern”16, als auch wegen der Schändung eines nationalen Symbols.
 
Die Niederlage
Das Ergebnis zeigt das Ausmaß des Scheiterns. Das Ganze wird noch bitterer, betrachtet man Einzelergebnisse. Das kann man sich aber sparen. Rechazo hat in fast allen Kommunen und allen Regionen des Landes gewonnen, mit Ausnahme von vier Stadtteilen in Santiago. Der Unterschied liegt nur in der Stärke seines Siegs. Er reicht von 55% in der Hauptstadt bis zum Maximum von 74% in der Region Ñuble.
Selbst in lokalen Brennpunkten zog Apruebo den kürzeren. Ein Beispiel ist Petorca. Den Ort dürften inzwischen viele kennen, steht er doch für die Exzesse beim Anbau von Avocados. Der lokale Fluss ist inzwischen ausgetrocknet. Die Kleinbauern können ihre Felder nicht mehr bewässern und es gibt kaum Trinkwasser. Die Bewohner müssen es sich mit Tankwagen liefern lassen. Das kostet natürlich. Nur die Produzenten der Avocados, sie arbeiten für den internationalen Markt, haben Wasser. Die Rechte dafür haben sie gekauft. Die Verfassung verhindert, dass man sie ihnen wieder entzieht. Die neue Verfassung sollte das ändern.
Daher hätte man vermutet, dass die Bürger Petorcas hinter Apruebo stehen. Doch auch hier kommt Rechazo auf 56%. Das wird so erklärt: Den Einwohnern dieses Ortes ist ihre traditionelle Lebensweise sehr wichtig. Die sahen sie durch den Verfassungsentwurf in Gefahr.
Wie geht es weiter? Der Teil der Rechten, der sich jetzt noch zu Reformen verpflichtet fühlt, will das ohne die Regierung durchziehen. Sie erklärten dem Präsidenten, dass er sich da raushalten soll. Das sei jetzt wieder Sache der parlamentarischen Gremien. Dort hat die Regierung keine Mehrheit. Damit befindet sich Chile wieder in der Situation wie vor der sozialen Explosion.
Am Tag nach der Niederlage demonstrierten Oberschüler und Studenten für Veränderungen. Es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei und es brannten Mülltonnen. Es ist fraglich, ob damit die Linke Sympathien in der Bevölkerung gewinnt.
 
Emil Berger

  1. Ergebnisse siehe: https://preliminares.servelelecciones.cl/#/votacion/elecciones_constitucion/global/19001

  2. https://es.wikipedia.org/wiki/Elecciones_parlamentarias_de_Chile_de_1973#Resultados

  3. https://www.latercera.com/la-tercera-pm/noticia/gran-senor-voto-obligatorio-la-exigencia-dc-que-se-transformo-en-uno-de-los-protagonistas-del-referendum/QEPWKEF3RZBTJHZRS7XT7DUPKU/

  4. https://de.tradingeconomics.com/chile/minimum-wages

  5. https://www.eldesconcierto.cl/opinion/2022/08/26/cuanto-y-a-quienes-financia-el-gran-empresariado-en-este-plebiscito.html

  6. https://www.epicentrochile.com/2022/08/02/karol-cariola-tras-polemica-por-sus-dichos-nunca-hable-de-marcar-casa/

  7. https://www.eldesconcierto.cl/nacional/2022/09/09/derecha-en-llamas-macaya-compara-a-overoles-blancos-con-los-cabezas-calientes-patriotas.html

  8. https://www.latercera.com/pulso/noticia/pensiones-en-la-convencion-iniciativa-popular-mas-votada-con-mi-plata-no-es-rechazada-en-comision-y-aprueban-propuesta-de-noafp/BGSVRERN25D5VHEITWMQLGCSVI/

  9. https://coordinadoranomasafp.cl/

  10. https://www.youtube.com/watch?v=DXRdc-EH8Ow

  11. https://elsiglo.cl/2022/04/09/analisis-5o-retiro/

  12. http://www.iglesia.cl/4629-los-obispos-de-chile-frente-a-la-propuesta-constitucional.htm

  13. https://www.monitorsocial.cl/_files/ugd/657f14_9abf4b0c53ec42eeb403d9c6d5d64b98.pdf

  14. https://www.jungewelt.de/artikel/434531.niederlage-f%C3%BCr-chilenische-linke-die-rechte-hat-nicht-gewonnen.html?sstr=die%7Crechte%7Chat%7Cnicht%7Cgewonnen

  15. https://www.latercera.com/la-tercera-pm/noticia/no-debi-ponerme-el-traje-de-pikachu-primo-el-individualismo-la-hora-de-las-culpas-entre-los-convencionales-derrotados/D5OPD7KVLBG4XGJIYZPYHHMH4A/

  16. https://www.gamba.cl/2022/08/en-acto-del-apruebo-en-valparaiso-se-introdujeron-una-bandera-chilena-por-el-ano-frente-a-cientos-de-ninos/