Ein Blick auf die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen in Lateinamerika seit dem Jahr 2018 zeigt: Fortschrittliche Kandidaten werden wieder gewählt und setzen sich gegen rechts-konservative durch. Ob diese Entwicklung, die sehr zu begrüßen ist, bereits eine Linkswende in der politischen Entwicklung bedeutet, bedarf aber einer genaueren Analyse. Das kann in einem kurzen Artikel nicht geleistet werden Ich versuche trotzdem, auf einige Aspekte näher einzugehen und dabei vorschnelle Schlussfolgerungen zu vermeiden.

Eine Abfolge erfreulicher Wahlergebnisse

Es begann 2018 in Mexiko, wo es dem Sozialdemokraten Andres Manuel Lopez Obrador, genannt AMLO, mit einem gemäßigten Mitte-Links-Bündnis gelang, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Im darauffolgenden Jahr folgte dann in Panama mit Laurentino Cortizo ein weiterer Sozialdemokrat. Im selben Jahr konnte sich in Argentinien der Peronist Alberto Angel Fernandez mit einem Mitte-Links-Bündnis durchsetzen. Komplizierter gestaltete sich die Lage in Bolivien, wo der Präsident Evo Morales erneut kandidierte und nach erfolgreicher Wahl weggeputscht wurde. Er musste aus dem Land flüchten und konnte erst zurückkehren, als sich im Oktober 2020 Luis Arce, der Kandidat des Movimiento al Socialismo (MAS) bei einem erneuten Wahlgang durchsetzte. Ein bedeutendes Jahr für die fortschrittlichen Kräfte war 2021, ein Jahr, in dem bei drei Wahlen linke Kandidaten ins Präsidentenamt kamen. Im April wurde der Volksschullehrer und linke Gewerkschafter Pedro Castillo, ein absoluter Außenseiter, überraschend gewählt.* Im November konnte in Honduras Xiomara Castro als erste Frau die Wahl für sich entscheiden. Sie ist die Ehefrau des früheren Präsidenten Jose Manuel Zelaya, dessen Amtszeit 2009 durch einen Putsch beendet worden ist. Apropos Zelaya. An der Vorbereitung des Putsches damals war die FDP nahe Friedrich-Naumann-Stiftung beteiligt. Repräsentant der Stiftung in Honduras war ein gewisser Christian Lüth, der 2013 Pressesprecher der AfD und 2017 Sprecher der AfD Bundestagsfraktion wurde. Im Februar 2020 musste er die AfD verlassen, weil er sich gegenüber einer Bloggerin als „Faschist“ geoutet hatte:„Wir können die (Migranten) nachher immer noch alle erschießen. Das ist überhaupt kein Thema. Oder vergasen, oder wie du willst. Mir egal.“ (Dazu auch: „Darf in Lateinamerika wieder geputscht werden“ in ARSTI Nr.166 S. 16ff) Das Jahr 2021 endete mit der Wahl des Chilenen Gabriel Boric zum Präsidenten. In der Stichwahl gelang es ihm, einem sog. gemäßigten Linken, seinen ultrarechten Kontrahenten mit einem deutlichen Vorsprung zu besiegen. Zur Problematik dieser Wahl in Chile empfehle ich den aufschlussreichen Artikel von Emil Berger in der ARSTI Nr.215, S. 22ff nachzulesen. Dazu auch in der letzten Ausgabe der ARSTi vom selben Autor eine Einschätzung „Zum Scheitern des Verfassungsprozesses in Chile“. Auch im Jahr 2022 konnte die Serie der erfolgreichen Wahlen in Kolumbien und gerade erst in Brasilien fortgesetzt werden. Auf diese beiden Länder möchte ich im Anschluss näher eingehen.

Beispiel Kolumbien

Im Juni dieses Jahres wurde der Wirtschaftswissenschaftler Gustavo Petro als Kandidat eines breiten Bündnisses (Coalicion Pacto Historico), das die linke Mitte bis zur radikalen Linken umfasst, im zweiten Wahlgang zum Präsidenten Kolumbiens gewählt. Mit einem Ergebnis von 50,44 Prozent gegen seinen Herausforderer, dem Geschäftsmann Rodolfo Hernandez, gelegentlich auch als kolumbianischer Trump bezeichnet, der immerhin 47,31 Prozent erreichte, schaffte er einen denkbar knappen Vorsprung. An Petros Seite steht als Vizepräsidentin die afrokolumbianische Juristin Francia Marquez, eine im Land sehr bekannte politische Aktivistin. Bei den Parlamentswahlen, die im März stattgefunden hatten, erreichte der Pacto Historico (PH) bereits beachtliche Erfolge, hat allerdings in beiden Häusern, im Repräsentantenhaus und im Senat, keine Mehrheit. Die Wahlbeteiligung lag bei 45,9 Prozent, also nicht gerade berauschend. Im Repräsentantenhaus hat der PH 25 von 187 Sitzen. Die neue Regierung muss sich also die Mehrheiten für die Gesetzesvorhaben jeweils suchen. Petros Regierung übernimmt ein – wie es schon das Wahlergebnis zeigt – gespaltenes Land. 70 Jahre ununterbrochene Gewalt, Hunderttausende Ermordete, Millionen von Vertriebenen und zuletzt 30 Jahre Neoliberalismus. Korruption bestimmt staatliches Handeln in weiten Bereichen. Gesundheits-und Bildungswesen liegen im Argen. Kolumbien hat die schlechteste Menschenrechtsbilanz in ganz Lateinamerika. Die Ausgangsbedingungen für die Regierung unter Gustavo Petro sind alles andere als günstig. Noch sind erhebliche Teile der Bevölkerung in euphorischer Aufbruchstimmung und hoffen auf rasche Verbesserungen ihrer Lebenssituation. Sollten sich diese nicht im erwarteten Umfang einstellen, könnte die Unterstützung schnell nachlassen. Die Amtszeit dauert vier Jahre, ein kurzer Zeitraum für ein anspruchsvolles Programm. In Kolumbien hat der Präsident nur eine Amtsperiode zur Verfügung, eine zweite ist ausgeschlossen.

Die neue Regierung ist nicht nur mit einem Bündel schier unlösbarer innergesellschaftlicher Konflikte konfrontiert. Auch die globalen Krisen haben erhebliche Auswirkungen. Derzeit ist es vor allem der starke Dollarkurs, der die Lebenshaltungskosten in Kolumbien in die Höhe treibt. Der Wechselkurs zwischen Peso und Dollar hat im Laufe des Jahres einen konstanten Aufwärtstrend „erlitten“. Im Januar betrug er noch 3981 Pesos zu einem Dollar. Am 20. Oktober war er auf 4921 Pesos geklettert. Damit verlor die Landeswährung 25,75 Prozent ihres Wertes. Und das bei einer Auslandsverschuldung, die eine der höchsten in Lateinamerika ist. Die direkten Auswirkungen sind im Land deutlich zu spüren, da die Wirtschaft vom Import stark abhängig ist. 35 Prozent der konsumierten Waren werden importiert und 55 Prozent der im Inland produzierten Waren benötigen Rohstoffe, die von außerhalb kommen. Die Bedingungen, gegen die Petro im Wahlkampf angetreten ist und die ihn ins Amt gebracht haben,sind jetzt zu den Problemen geworden, die er lösen muss. Die Gesellschaft wird von einer starken Inflation heimgesucht – verursacht von der globalen Wirtschaft, in die sich Länder wie Kolumbien integrieren müssen, auf die sie aber nur minimalen Einfluss haben und das in einer hochgradig destabilisierten Weltlage. Schon bei seiner Antrittsrede monierte Petro die Leitzinspolitik der USA und stellte fest: „Lateinamerika wird ausgeplündert. Unsere Währungen fallen alle, nicht nur der kolumbianische Peso.“ Und er folgerte daraus: „Es ist an der Zeit, dass die Länder Lateinamerikas angesichts der globalen Krise zusammenkommen und ihre eigene Agenda entwickeln.“ Es wäre nicht der erste Versuch. Bisher haben alle Bemühungen kaum gefruchtet.So konnte sich der Binnenmarkt in den vergangenen Jahrzehnten nicht ausreichend entwickeln. Ob unter diesen Bedingungen in einer Regierungsperiode die außenwirtschaftliche Abhängigkeit verringert und die nationale Produktion in einem größeren Ausmaß gestärkt werden kann? Wir werden es in vier Jahren wissen. Noch spricht wenig dafür. Das ambitionierteste Vorhaben der Regierung ist der sog. „totale Frieden“. Was besagt diese eigenartige Begrifflichkeit? Alle bewaffneten Gruppen, d.h. nichtstaatliche Akteure sollen dazu gebracht werden, die Waffen abzugeben und das in einem Land, das buchstäblich in Waffen schwimmt. Um dieses Vorhaben möglichst schnell in die Wege zu leiten, wurden die seit 2019 unterbrochenen Friedensgespräche mit der ELN (Nationale Befreiungsarmee) am 21. November wieder aufgenommen. Diesmal nicht in Havanna, sondern in Caracas unter Begleitung der Garantiestaaten Venezuela, Kuba und Norwegen. Damit die Verhandlungen aufgenommen werden konnten, mussten die Haftbefehle gegen die Verhandlungsführer der ELN durch die kolumbianische Generalstaatsanwaltschaft aufgehoben werden. Die nach den FARC-EP zweitgrößte bewaffnete Formation hat bereits fünf erfolglose Verhandlungen mit den rechten Regierungen hinter sich. Woran scheiterten die Verhandlungen bisher? Antonio Garcia, der Oberkommandierende der ELN begründete es unlängst so:Nach Ansicht der Regierungen ist das erste Frieden, verstanden als Demobilisierung und Entwaffnung, so dass später die Veränderungen stattfinden, die soziale Gerechtigkeit und Demokratie bringen werden. Wir denken, es sollte umgekehrt sein:Nur Veränderungen, soziale Gerechtigkeit, Demokratie können Frieden bringen.“ Die ELN ist seit 2016 die einzige marxistische Organisation in Lateinamerika, die noch einen bewaffneten Kampf führt. Der Verlauf der Friedensverhandlungen der ELN mit der Regierungsdelegation wird deshalb spannend, weil eine zeitnahe Demobilisierung der Guerilla kaum denkbar ist. Eine politische Organisation, die auf über ein halbes Jahrhundert Kampf zurückblickt und mitansehen musste, wie sich eine Regierung nicht an das Abkommen mit der FARC-EP hielt, wird vermutlich auf eine längere Phase des beiderseitigen Waffenstillstands orientieren. Von daher ist mit einer schnellen Einigung nicht zu rechnen. Zum Konzept „totaler Frieden“ gehören auch der Aufbau verlässlicher rechtsstaatlicher Strukturen und die Trennung von Militär und Polizei. Agierte bisher das Militär de facto als „Staat im Staate“ und sah seine Hauptaufgabe im vorgeblichen Kampf gegen die Drogen und in der Umsetzung der Aufstandspolitik in enger Absprache mit den US-Beratern und paramilitärischen Gruppen, müssen vor allem die höheren Offiziere ihre neue Rolle in Zusammenarbeit mit einer fortschrittlichen Regierung akzeptieren. Im Zusammenhang mit der Regierungsinitiative „totaler Frieden“ beschlossen die beiden Kammern des Parlaments die Abschaffung der obligatorischen Wehrpflicht und die Einführung eines Sozialen Friedensdienstes. Erfolgreich war die neue Regierung bereits in einer außenpolitischen Angelegenheit, nämlich der Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen zum Nachbarland Venezuela und der Öffnung der beiderseitigen Grenze. Vor der Grenzschließung 2015 durch die kolumbianische Vorgängerregierung betrug der Außenhandel mit Venezuela umgerechnet etwa 8 Milliarden US-Dollar jährlich. Für die Bevölkerung beider Länder war die Grenzschließung ein Fiasko und hatte schlimme wirtschaftliche Auswirkungen vor allem für die Leute aus den Grenzgebieten, aber auch für den Binnenmarkt der beiden Länder und die Staatshaushalte.

Eine progressiv ausgestaltete Steuerreform

Die bisherigen Regierungen waren stets bemüht, die Steuergesetzgebung so zu gestalten, dass Reiche und Konzerne schonend behandelt wurden. Petros Regierung wollte eine progressiv ausgestaltete Steuerreform, die höhere Einkommen und Besitz stärker besteuert als bisher. Diese Reform sollte dem Staatshaushalt 15 Milliarden Dollar zusätzlich einbringen. Die Steuerreform hat inzwischen das Parlament passiert und – wie erwartet – in stark gerupfter Form zwar insgesamt ein verbessertes Ergebnis erbracht, aber deutlich unter dem erhofften Volumen. Trotzdem kann sich nach 100 Tagen Regierungszeit das Ergebnis sehen lassen.

Kolumbien – ein Eckpfeiler der US-Interessen in Südamerika

Kolumbien ist auf die Bevölkerung bezogen – nach Brasilien der zweitgrößte Staat Südamerikas und grenzt als einziges Land sowohl an den Atlantik als auch an den Pazifik. Nicht zuletzt diese Lage führte dazu, dass das Land in der US-Strategie gegenüber den Staaten Südamerikas schon sehr früh die zentrale Rolle zugewiesen bekommen hatte. Zwischen den USA und Kolumbien existiert ein Militärabkommen. Der ehemalige Präsident Ernesto Samper kommentierte es so: „Wir stellen unser Land als Flugzeugträger zur Verfügung, damit von dort aus Überwachungsoperationen für ganz Südamerika durchgeführt werden. [...] Das ist, als ob man jemandem seinen Balkon zur Verfügung stellt, der gar nicht im Hause wohnt, aber dort Spiegel und Videokameras zur Überwachung der Nachbarn installiert.“1 Im Rahmen des Abkommens wurden bisher insgesamt neun Stützpunkte des US-Militärs errichtet, die sich über das Land verteilen. Vor der Zuspitzung der Ukraine-Krise befürchteten nicht wenige Beobachter, die US-Administration würde über diese Stützpunkte eine Militärintervention gegen Venezuela vorbereiten. Je mehr aber der Konflikt Ukraine-Russland-USA in den Vordergrund gerückt ist, hört und sieht man von Venezuela in den Medien nichts mehr. Kolumbien wurde im letzten Jahrzehnt näher an die NATO herangeführt. Bereits im Juni 2013 hatte Präsident Juan Manuel Santos angekündigt, er strebe einen Beitritt zur NATO an. Fünf Jahre später erfolgte der erste Schritt. Als erstes lateinamerikanisches Land wurde Kolumbien „globaler Partner“ des Nordatlantikpaktes. Zu den sog. globalen Partnern gehörten zu diesem Zeitpunkt Afghanistan, Australien. Irak, Japan, Südkorea, Neuseeland, Pakistan und die Mongolei.Über viele Jahrzehnte hinweg hat die NATO nach eigenen Angaben ein großes Netz von Partnerschaften mit Drittländern aus dem euro-atlantischen Raum, dem Nahen Osten und Nordafrika, dem Mittelmeerraum und der ganzen Welt aufgebaut. Einer vollen Mitgliedschaft spricht vor allem ein wichtiges Kriterium entgegen: Beitrittswillige Staaten dürfen keine ungelösten Konflikte in die Allianz einbringen. Und von diesen ungelösten Konflikten hat Kolumbien einige, wie bereits erwähnt. Petros Dilemma besteht darin, dass er zwischen der Forderung der Bevölkerung nach progressivem Wandel und dem Erbe der imperialen Vorherrschaft der USA gefangen ist. Kolumbien muss Mittel und Wege finden, um sich der weiteren Ausdehnung der US-Militärherrschaft in Form der NATO zu widersetzen. In einer Zeit, in der die USA bestrebt sind, ihre Außen- und Wirtschaftspolitik gegen das aufstrebende China in Stellung zu bringen, wird es für Kolumbien nicht einfacher werden. Bezeichnend für die sich verändernde Handelsbilanz ist, dass Kolumbien im Jahr 2021 14,8 Mrd. USD aus China importierte, verglichen mit 14,1 Mrd. USD aus den USA. Eine Entwicklung, die in Washington sicher mit Argwohn verfolgt wird. Was damit gemeint ist, steht ziemlich unverblümt auf 48 Seiten eines Berichts vom Oktober 2022, der sich „Nationale Sicherheitsstrategie 2022“ nennt und die außenpolitischen, strategischen Prioritäten der USA beschreibt. Lateinamerika firmiert in dem Bericht als „unsere Nachbarschaft“, die „vor dem Ehrgeiz und der Gier anderer internationaler Akteure geschützt“ werden müsse, „die unsere immensen natürlichen Reichtümer plündern wollen“. Diese Akteure werden auch benannt: China, Russland, Iran und Indien.

Beispiel Brasilien

Kommen wir zu Brasilien, dem wegen seiner Größe, seiner Bevölkerungszahl und seiner zentralen Lage bedeutendsten Land Südamerikas. Ende Oktober konnte Luiz Inacio Lula da Silva in der Stichwahl mit 50,9 Prozent und einem Vorsprung von knapp über zwei Millionen Stimmen die Mehrheit fürs Präsidentenamt erringen. Jair Bolsonaro, der aktuelle Präsident, musste sich mit 49,10 Prozent geschlagen geben. Für Lula war es mit 60,3 Millionen Stimmen sein bisheriges Rekordergebnis. Dass Bolsonaro trotz des miserablen Versagens während seiner Amtszeit, erinnert sei an die 685.000 Coronatoten, doch so viele Stimmen bekommen hatte, weist auf die Stärke des reaktionären Lagers hin, die nicht zu unterschätzen ist. Bolsonaros liberale Partei steht weiterhin an der Spitze einer rechten Mehrheit im Parlament und hat mehr Abgeordnete in den beiden Kammern als das von der Partei der Arbeiter (PT) angeführte Bündnis „Hoffnung Brasilien“. Diese Konstellation wird die Vorhaben einer Regierung unter Lula behindern, wo immer das möglich ist. Bei diesen angekündigten Vorhaben geht es u.a. um den Kampf gegen den Hunger, von dem wieder über 30 Millionen Menschen betroffen sind, ein Wohnungsbauprogramm und Eingliederungshilfen für arme Familien. Außerdem sollen die illegalen Abholzungen im Amazonasgebiet, die unter Bolsonaro vor allem im Interesse des Agrobusiness geduldet bzw. sogar gefördert wurden, beendet werden. Außenpolitisch will sich Lula wieder stärker an den BRICS-Staaten orientieren. Im Regierungsprogramm sind viele sozialstaatliche Elemente zu erkennen, doch für Leute vom Schlag eines Bolsonaro ist das kommunistisches Teufelszeug. Beim Basteln eines Wahlbündnisses war Lula bereit, einige Kröten zu schlucken. So eine Kröte ist sein künftiger Vize, der konservative Exgouverneur von Sao Paulo, Geraldo Alckmin. Er hatte 2016 das Amtsenthebungsverfahren gegen die linke Präsidentin Dilma Rousseff mitgetragen. Die Breite des Bündnisses, die Lula den Wahlsieg bescherte, beinhaltet Sprengstoff. Möglicherweise sind da zu viele divergierende Interessen gebündelt worden. Volker Hermsdorf zeigt in seinem Kommentar am Tag nach der Stichwahl weitere Gefahren für die neue Regierung auf: „Auch wird sich die künftige Regierung einer rechtskonservativ geprägten Medienlandschaft gegenübersehen, in der sich die wichtigsten Fernseh-,Rundfunksender und Printmedien in Besitz von wenigen, politisch einflussreichen Unternehmerfamilien befinden. Die brasilianische Rechte kann sich daneben auf große Teile des Militärs und evangelikale Gruppierungen stützen, die mittlerweile über 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Und wie auch immer die politische Zukunft von Jair Bolsonaro aussehen wird: Diejenigen, die weiterhin aus der Abholzung des Regenwaldes Profit schlagen wollen und noch immer über Instrumente verfügen, um Millionen für ihre Ziele zu mobilisieren, sind nicht von der Bühne abgetreten. Lulas Erfolg in der Stichwahl könnte sich also durchaus noch als Pyrrhussieg erweisen.“ (jW vom 30.10.2022)

 

Reichen fortschrittliche Präsidenten, um von einer Linkswende zu sprechen?

Ist aus dem Umstand, dass sich bei den Präsidentschaftswahlen der letzten Jahre zumeist eher linksorientierte Kandidaten durchsetzen konnten,schon eine Linksentwicklung der lateinamerikanischen Gesellschaften abzuleiten? Bezieht man die Parlamentswahlen mit ein, sieht die Situation schon anders aus. Häufig müssen sich die fortschrittlichen Regierungen bei den einzelnen Gesetzesvorhaben eine Mehrheit im Parlament suchen und dabei erhebliche Zugeständnisse machen. Noch entscheidender dürften aber die ökonomischen Rahmenbedingungen sein, die den Spielraum für das Regierungshandeln bestimmen. Dazu ein kurzer Blick zurück. Mit der neoliberalen Offensive in den 1980er und 1990er Jahren wurde Lateinamerika stärker in den globalisierten Kapitalismus eingebunden. Traditionelle Strukturen wurden aufgebrochen, die Rohstoffexporte verstärkt, die zeitweise erreichte Industrialisierung wurde abgebremst, der Einfluss des Auslandskapitals durch umfassende Privatisierungen erhöht und bestimmte Sektoren der Bourgeoisie wurden stärker in die vom Finanzkapital dominierte Weltwirtschaft integriert. Neoliberale Politik verstärkte die sozialen Ungleichheiten und vertiefte die sozialen Gegensätze zwischen Arm und Reich. In dem vor wenigen Wochen erst erschienenen Atlas der Weltwirtschaft wird folgende Einschätzung gegeben: „Von kontinuierlicher Aufwärtsbewegung kann in vielen Ländern Mittel- und Südamerikas keine Rede sein. Zu verschiedenen Zeitpunkten gerieten einzelne Länder in große Krisen, die sich aus dem unheilvollen Wechselspiel von politischer Instabilität und Schwankungen der Rohstoffpreise sowie der Wechselkurse speisten. Einige Länder entfalteten in den 2000er Jahren zwar Dynamik. Doch bei fast allen ist dieser Prozess seit ungefähr zehn Jahren zum Erliegen gekommen. Costa Rica und das wesentlich ärmere Bolivien verbesserten ihre Position noch ein paar Jahre länger. Seit dem Platzen der Rohstoffblasen schwächeln Brasilien, das heute schlechter abschneidet als vor 30 Jahren, und Argentinien wieder. In Venezuela ist die Lage geradezu verzweifelt: Der Absturz der Wirtschaft hat sich seit 2014 rasant beschleunigt und das Wohlstandsniveau ist von rund 45 Prozent des US-amerikanischen im Jahr 1991 auf mittlerweile unter 10 Prozent gefallen. Die Hyperinflation hat ein Ausmaß erreicht, das eine seriöse statistische Erfassung der realen ökonomischen Vorgänge nahezu unmöglich macht.“2

Man kann sicher nicht alle Staaten Lateinamerikas über einen Kamm scheren. In Uruguay funktioniert der Rechtsstaat weitgehend, und nicht zuletzt durch die Errungenschaften in der Regierungszeit der Frente Amplio konnten Probleme gelöst werden. Das Land ist allerdings bezüglich der Größe und Bevölkerungszahl ziemlich überschaubar. Ganz anders sieht es im mittelamerikanischen El Salvador aus, wo seit Monaten Ausnahmezustand herrscht. Der Jesuit Jose Maria Tojeira beschreibt die Situation wie folgt: „Über 80 Prozent der jungen Erwachsenen haben keinen Sekundarabschluss, und wenn sie doch einen schaffen, dann ist ihr Bildungsniveau trotzdem völlig unzureichend. Die Jugend von heute hat drei Optionen: Sie ist dazu verdammt, zwischen Armut, Kriminalität und Migration zu wählen.“3 Verschärft wird die Lage durch die Auswirkungen der Klimakrise. Tropenstürme, Überschwemmungen und Trockenheit lassen die Landbevölkerung verzweifeln. Auch in Ecuador wird immer wieder in Teilen des Landes der Ausnahmezustand verhängt, weil Drogenhandel und Kriminalität überhand nehmen. Reinaldo Iturriza , der nach dem Tod von Hugo Chávez in der ersten Regierung von Nicolás Maduro zunächst 2013/14 Minister für Kommunen und dann bis 2016 Kulturminister gewesen war, beschreibt die Entwicklung in Venezuela wie folgt: „Es gibt eine wirtschaftliche Verbesserung, aber sie erreicht die Mehrheit der Bevölkerung nicht. Seit etwa einem Jahr wächst die Wirtschaft wieder, nachdem sie über acht Jahre auf etwa ein Viertel des ursprünglichen Wertes geschrumpft war. Die Ursachen dafür sind vielschichtig. Es stimmt, dass die Kaufkraft in Teilen der Bevölkerung gestiegen ist. Es ist aber eindeutig, das der Großteil der Menschen in Venezuela trotz des Wachstums heute eine Kaufkraft besitzt, die weit unter den Vergleichswerten vor etwa zehn Jahren liegt. Es hat in dieser langen Krise eine brutale Entwertung der Löhne gegeben. Der Einfluss der Hyperinflation auf die Löhne in der Zeit zwischen Ende 2017 und Anfang 2021 ist enorm. Bis vor kurzem hat der Staat eine sehr bedeutende Rolle als regulierender Faktor gespielt. Etwa ab 2016 hat er sich aus immer mehr Bereichen des Marktes zurückgezogen und sie anderen wirtschaftlichen Akteuren und ihrer Profitlogik überlassen. Es gab in Venezuela Zeiten mit deutlichen Versorgungsproblemen, diese Engpässe haben aufgehört zu existieren. Aber zugleich wurden Millionen Menschen von der Möglichkeit des Konsums ausgeschlossen, weil sie nicht die notwendigen Mittel haben. Sozioökonomisch erinnert die aktuelle Situation an die 1990er Jahre, also an die Zeit, in der der Chavismus als politische Identität entstanden ist.“4

Vielleicht (noch) keine linke, aber eine progressive Welle

Die Tendenz der Ergebnisse bei den Präsidentschaftswahlen in den letzten fünf Jahren sollte uns nicht dazu verleiten, von einer Wende nach links, was immer man darunter versteht, zu sprechen. Einige der gewählten Präsidenten sind in der linken Mitte zu verorten. Mehr Mitte als links. Ihre Gestaltungsmöglichkeiten sind begrenzt. Sie können im besten Fall schlimme Auswirkungen des Neoliberalismus etwas abmildern. Würden sie die Eigentumsverhältnisse im Interesse der abhängig Beschäftigten und Marginalisierten strukturell ins Visier nehmen, hätten sie sofort die geballte Macht der Bourgeoisie und der großen Konzerne gegen sich. Auch die US – Dienste haben da ein wachsames Auge. Der ehemalige Präsident von Ecuador (2007-2017), Rafael Correa, sprach nach der Wahl von Lula von einer „progressiven Welle“, die Lateinamerika gerade erlebt. Das kommt der Sache vermutlich am nächsten. Kein Grund zur Euphorie, aber ein kleiner - wenn auch nicht unbedeutender - Schritt im Interesse der Mehrheitsbevölkerung auf dem Subkontinent.

hd Stand: 06.12.2022

 

*Pedro Castillo wurde einen Tag nach Fertigstellung dieses Artikels gestürzt und verhaftet. Der Vorgang zeigt, wie instabil die politischen Verhältnisse sind.

1 zit. nach Maurice Lemoine:Vorgeschobene Einsatzpunkte.In:Le Monde diplomatique.12.Februar 2010

2 Atlas der Weltwirtschaft 2022/23, Frankfurt/M. 2022, S. 47

3 ND vom 8.11.22

4 Interview von Jan Kühn in Amerika21, 27.11.2022