Leider konnte unser englischer Freund und Genosse heuer nicht an unserer Jahreskonferenz teilnehmen. Er hat uns aber einen Bericht zur innenpolitischen Lage geschickt. Dieser ist zwar inzwischen veraltet (Ende Oktober), da sich die Ereignisse im Vereinigten Königreich innerhalb kürzester Zeit überschlagen haben. Wir drucken ihn aber als Momentaufnahme trotzdem ab, zumal wir davon ausgehen, dass wir eine Schilderung der inzwischen eingetretenen Veränderungen und deren Auswirkungen für die nächste Ausgabe erhalten werden.

 

Ein kurzer Bericht über die jüngsten Entwicklungen im Vereinigten Königreich

Nach der Amtseinführung eines neuen Generalsekretärs der Labour Party, einer Gestalt aus der Blair-Zeit, begann eine Ausschlusswelle von Linken; ihr Vergehen war: Antisemitismus. Weil er selbst sich nicht von denen, die ausgeschlossen wurden, distanzierte, wurde im August auch Ken Loach, der seit einem halben Jahrhundert bekannte Regisseur, der für Filme wie „Kes“, „Land and Freedom“ in Cannes, Berlin und anderswo Preise gewonnen hat, ausgeschlossen. In ihrer Kolumne in der Zeitung „i“, in der sie Starmer warnt, die ethnischen Minderheiten würden von Labour desillusioniert, zitiert Yasmin Alibhai-Brown einen Labour-Abgeordneten ägyptisch-jüdischer Herkunft, der sich beklagt, dass „Mister Starmer uns verbietet, Israels Verhalten in Gaza und den besetzten Gebieten zu diskutieren. (…) Gute Leute, die diese Fragen stellen, auszuschließen, ist undemokratisch.“ (5.10.22)

Ende September, kurz vor dem Parteitag von Labour, kündigte Starmer plötzlich, ohne vorherige Diskussion an, dass er das Verfahren für die Wahl des Parteivorsitzenden ändern werde. Er werde das Prinzip „ein Mitglied, eine Stimme“ abschaffen und zu einem Wahlkollegium zurückkehren, das von den Gewerkschaften, den Parlamentsabgeordneten und den Mitgliedern bestimmt werde, in der Absicht, die Wahl eines neuen Jeremy Corbyn zu verhindern. Er werde auch die Regeln ändern, um es für örtliche Parteimitglieder schwieriger zu machen, ihren Abgeordneten abzusetzen, wenn sie nicht mit ihm zufrieden sind.

Aufgrund des Widerstands aus dem Kreis der Gewerkschaften, die mit Labour verbunden sind, und von Seiten der stellvertretenden Vorsitzenden Angela Rayner wurde der Sitzung des Exekutivkomitees vor der Konferenz kein Vorschlag präsentiert. Der Konferenz selbst wurde ein Kompromiss vorgelegt, der mit Müh und Not angenommen wurde: Mitglieder müssen mindestens sechs Monate in der Partei sein, um abstimmen zu dürfen, aber mindestens 20% der Abgeordneten müssen einen Kandidaten unterstützen, damit er überhaupt auf den Wahlzettel kommt. Es stellte sich heraus, dass Starmer nicht einmal sein Schattenkabinett von seinen Plänen informiert hatte; in anderen Worten: ein Überraschungsangriff!

Starmer gab die Politik aus dem Wahlkampf 2019 auf, die die Verstaatlichung der Eisenbahnen, des Postdienstes, von Energie- und Wasserunternehmen forderte, die in der Öffentlichkeit sehr populär ist. Trotzdem stimmte der Parteitag für eine linke Politik, für eine Verstaatlichung des Transportwesens im Allgemeinen und speziell der Energiefirmen als Teil eines „green new deal“. Es ist fraglich, ob Starmer diese Beschlüsse umsetzen wird.

Rechte in Starmers Umfeld wollen, dass er weiter gegen den Brexit vorgeht und den Wiedereintritt in die EU betreibt. In seiner Rede auf dem Parteitag gab er Corbyn, dem Wahlprogramm und dem Antisemitismus die Schuld an der Wahlniederlage. Ein Delegierter rief laut: „Es war dein Brexit!“ Er warb auch für die Idee eines neuerlichen Referendums, bei dem auch „Remain“ [„Verbleiben“] auf dem Stimmzettel stehen soll. Offenbar planen die Tories, die Wähler beim nächsten Wahlkampf an diesen filmreifen Auftritt zu erinnern.

Der einzige Unterstützer von Corbyn im Schattenkabinett, Andy McDonald, trat zurück, weil Starmer seine „sozialistische Politik“ aufgegeben habe. Das tat er, nachdem er aufgefordert wurde, er solle nicht mehr für die frühere Forderung nach einem Mindestlohn von 15 Pfund in der Stunde eintreten. Die Linke begrüßte diesen Rücktritt. Einige Mitglieder des Schattenkabinetts waren offensichtlich demoralisiert, als Starmer in einer populären Fernsehsendung kurz nach dem Parteitag jegliche Erhöhung der Einkommensteuer ausschloss. Er zielte auf diejenigen ab, die sehr wenig bezahlen oder Steuern gänzlich umgehen. Jeremy Corbyn beschuldigte Starmer, „die Reichen aufzupäppeln.“

Die meisten Schlüsselpositionen in der Starmer-Mannschaft füllen Leute aus, die schon Blair oder Brown gedient haben. Blair selbst gibt häufig seine Ratschläge öffentlich über die Medien bekannt. Seine Unterstützer in der Partei drängen aktiv auf eine Reform der Wahlgesetzgebung in Richtung einer Art Verhältniswahl. Sie wollen damit Koalitionen der Mitte durchsetzen und jegliche sozialistische Regierung verhindern. Auch soll Starmer fortfahren, die linken Corbyn-Anhänger in der Partei zu bekämpfen.

Die Regeländerungen wurden mit Müh und Not angenommen. Eine Niederlage hätte Starmer geschwächt und seine Zukunft in Frage gestellt. Die Rechte war sehr aktiv gewesen, um Delegierte lokaler Parteiorganisationen zu bekommen, die ihrer Sache wohlwollend gegenüberstehen. Die Tatsache, dass er sich nicht im Voraus mit den Gewerkschaften traf, um herauszufinden, ob sie ihn unterstützen würden, sei dadurch bedingt, dass er keine Beziehungen aufrechterhält. Dies ist einer anonymen Quelle in der „i“ zu entnehmen, er sei „emotional verschlossen, das ist das Problem.“ (9.10.22) Einige Leute aus seinem Umfeld glauben, er müsse anfangen, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, der er nach wie vor unbekannt ist, ebenso, wofür Labour unter seiner Führung steht.

Anfang Oktober hielten die Tories ihren Parteitag in Manchester ab. Dieser Ort wurde ausgewählt wegen der gegenwärtigen Konzentration auf den Norden, nachdem bei der Wahl 2019 so viele Sitze, die von Labour gehalten waren, in den alten Industriegebieten hinzugewonnen wurden. Johnson spricht von „levelling up“, d.h. der Reichtum soll vom Süden in die Orte, wo er ursprünglich geschaffen wurde, zurückfließen. Anders als Starmer ist er eine attraktive Persönlichkeit, ungeachtet seines bekannten Mangels an moralischen Grundsätzen. Er trat wie üblich auf, mit vielen Witzen, aber nicht vielen politischen Details. Seine populistischen Interventionen und die Regierungshilfen für angeschlagene Firmen, Äußerungen, die die Wirtschaft kritisieren und der Ruf nach Lohnerhöhungen für Arbeiter sowie die Bereitschaft, Steuern zu erhöhen, all das brachte die Thatcher-Anhänger eines „small state“, von niedrigen Steuern und den übrigen neoliberalen Vorstellungen aus der Fassung. Wirtschaftliche Probleme wurden einerseits mit internationalen Faktoren erklärt, was nicht ganz falsch ist; andererseits werde es eine Weile dauern, bis sich die Vorteile des Brexits zeigen würden. Gegenwärtig ist schwer zu erkennen, wie Labour unter Starmer in der Lage sein soll, Johnsons Regierung ernsthaft herauszufordern. Es müsste eine enorme Krise von der Art eintreten, dass irgendwelche Unzulänglichkeiten in Bezug auf die Pandemie enthüllt würden. Das sehr rasch entwickelte Impfprogramm ließ die Regierung gut aussehen, auch wenn die Umsetzung hauptsächlich der nationalen Gesundheitsbehörde [National Health Service] zu verdanken war.

m.j. (14.10.22)