oder
Die Geschichte wiederholt sich doch
Mit einer gewissen Regelmäßigkeit wird die Frage diskutiert, ob sich Geschichte wiederholt. Karl Marx beantwortete sie positiv und meinte “das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.” Versteht man die Wiederholung nicht als identische Kopie, hat er Recht. Doch mit seiner Charakterisierung als Farce lag er falsch. Das Beispiel Chile zeigt die Wiederholung als Tragödie.
Zweimal konnte die dortige Linke durch glückliche Umstände eine Position besetzen, von der aus man großen Einfluss auf die Zukunft des Landes nehmen kann. Glückliche Umstände deshalb, da diese Erfolge nicht aus dem Zugewinn an Stärke resultierten. Der Grund lag jeweils in Faktoren, auf die linke Parteien keinen Einfluss haben. Doch jedes Mal wurde die Chance vergeben.
Vor 50 Jahren war das die Wahl Salvador Allendes zum Präsidenten. Das geschah mit Hilfe der Christdemokraten. Ihre Abgeordneten schlugen sich in der entscheidenden Abstimmung des Kongresses auf seine Seite. Das war nicht zu erwarten. Sie hatten ihre Partei ja gerade dafür gegründet, um Materialismus, Marxismus und Sozialismus effektiver zu bekämpfen, als es die alte Konservative Partei tat. Was hatte sie bewogen, für Allende die Hand zu heben? Für eine Person, deren Denken gerade vom Materialismus, Marxismus und Sozialismus bestimmt war? Das hat die Christdemokratie bis heute nicht dargelegt, abgesehen von Floskeln wie der parlamentarischen Tradition und ihrer Großzügigkeit.
Damals hätte die chilenische Linke ein politisches Programm realisieren müssen, mit dem man die Anhänger der Christdemokraten hätte einbinden können. Allende hat das versucht, aber mindestens die Hälfte seiner Basis wollte davon nichts wissen.
Heute, nach der sozialen Explosion vom Oktober 2019, dominierten die Kräfte der Mitte und der Linken die Verfassungsgebende Versammlung (VV). Diesmal war der glückliche Umstand der Pandemie geschuldet. Ungefähr die Hälfte der rechten Basis hatte sich der Wahl verweigert. Damit wollte sie die Regierung Piñera wegen ihrer Coronapolitik abstrafen. Nun hätte die VV einen Verfassungsentwurf vorlegen müssen, der von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung für gut befunden wird. Das ist nicht geschehen.
So wurde ihr Vorschlag bei der abschließenden Volksabstimmung - für diesen Urnengang hatte man eine Wahlpflicht beschlossen - von fast 62% der Teilnehmer abgelehnt. In vergangenen Ausgaben der Arbeiterstimme wurde beschrieben, wie die Rechte ihre Hegemonie wieder herstellen konnte. Ihre zentrale Parole gegen den Entwurf lautete “Ablehnen, um ihn zu verbessern”. Damit hatte sie sich auf eine Fortsetzung des Verfassungsprozesses festgelegt. Sie standen damit auch gegenüber einem Teil ihrer Anhängerschaft im Wort.
Nach einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts CADEM1 verlangt weiterhin eine deutliche Mehrheit eine neue Verfassung. Ihr Anteil ist etwa so groß wie derjenige, der den ersten Entwurf abgelehnt hatte. Darunter befindet sich auch ein nicht geringer Teil der rechten Basis. Das können die traditionellen Rechtsparteien nicht einfach ignorieren.
Durch die wieder erworbene Hegemonie brauchen sie gegenwärtig auch keine Angst vor Wahlen zu haben. Das wird so lange anhalten, wie ein scheinbar linker Präsident das Land regiert. Gabriel Boric ist nach deutschen Maßstäben ein Grüner. Da zu seiner Koalition auch die KP gehört, kann man ihn bei Bedarf zur kommunistischen Gefahr stilisieren.
Zusätzlich bugsierte man schon im Vorfeld, mit den Rahmenbedingungen der Abstimmung, das Ergebnis in die gewünschte Richtung. In diesem Fall dadurch, dass das Wahlverfahren für den Senat zugrunde gelegt wurde - dadurch haben die Stimmen in den Ballungszentren deutlich weniger Gewicht als die in den Agrargebieten - und durch die Wahlpflicht. Die Teilnahme einer großen Zahl von Wählern, die sich nur unter Androhung einer Strafe zum Wahllokal bewegen, war ein wichtiger Faktor für den Sieg der Rechten bei der letzten Volksabstimmung. Ohne Wahlpflicht liegt die Wahlbeteiligung bei ca. 50%, mit bei ca. 85%.
Deshalb konnte sich die Rechte auch auf den Fortgang des Verfassungsprozesses einlassen. Er gehört auch zu den Zielen von Apruebo Dignidad, dem Bündnis hinter Boric. Daher konnte sich die Regierung nach der Niederlage im Plebiszit entsprechenden Vorschlägen der Opposition nicht verweigern. Man einigte sich auf einen zweiten Versuch.
Dieser beinhaltet einen Verbund aus drei Gremien, die zusammen einen Entwurf erarbeiten sollen. Dazu gehört der Consejo Constitucional (Verfassungsrat), der aus 51 vom Volk gewählten Vertretern besteht, darunter ein reservierter Sitz für die Ureinwohner. Ihm steht ein beratendes Expertengremium zur Seite. Es setzt sich aus 24 Personen zusammen, die von Parlament und Senat bestimmt werden. Damit spiegeln sich in ihm die Kräfteverhältnisse der letzten Parlamentswahlen, bei denen die Rechte auf fast 50% der Sitze gekommen war. Dieses Gremium hat unter anderem die Aufgabe, dem Verfassungsrat einen Entwurf zu schreiben.2
Für den Fall von Differenzen zwischen Expertengremium und Verfassungsrat existiert als Schiedsrichter ein Technisches Komitee zur Anwendbarkeit. Es besteht aus zwölf vom Senat ausgesuchten Juristen. Sie sollen darüber wachen, dass die im Gesetz niedergelegten inhaltlichen Grenzen der Reformen nicht überschritten werden.
Trotz dieser Zwangsjacken bekämpften die Rechtspopulisten des Partido de la Gente (Partei der Leute, PDG) und die Rechtsradikalen des Partido Republicano (PLR) den Fortgang des Prozesses. Sie wollen die bestehende Verfassung erhalten. Der Gründer der PLR, José Kast, attackierte die traditionellen Rechtsparteien wegen ihrer Zustimmung zu einem neuen Anlauf. Dabei berief er sich auf Jaime Guzmán, den Autor der aus Zeiten der Diktatur stammenden Verfassung und Gründer der UDI. “Ich glaube, dass (er) die Vereinbarung nicht unterzeichnet hätte.” Und weiter: “Chile Vamos hat das Subsidiaritätsprinzip verworfen, um zu einem sozialen Rechtsstaat zu kommen.”3 Chile Vamos ist das Bündnis der Rechtsparteien, die zumeist während der Militärdiktatur zu ihrer Unterstützung gegründet wurden. Sie stehen dem Verfassungsprozess mit gemischten Gefühlen gegenüber. Möglicherweise findet dort aber gerade eine Scheidung statt. Die harten Pinochetisten verabschieden sich in Richtung PLR.
Die Aufstellung der Akteure
Für die Wahl des Verfassungsrates fanden schwierige Bündnisverhandlungen statt. Das betraf vor allem die Parteien der traditionellen Mitte. Eigentlich hätte es Sinn gemacht, dass alle Parteien, die sich in der Stichwahl für Boric aussprachen, eine Liste bilden. Also eine gemeinsame Kandidatur von Christdemokraten bis zur KP. Das ist natürlich nicht passiert. Doch es gab einen interessanten Unterschied zu den bestehenden Allianzen.
Im Bündnis Socialismo Democrático (Demokratischer Sozialismus, SD) arbeiten die Sozialisten mit dem Partido por la Democracia (Partei für die Demokratie, PPD), der Radikalen Partei (PR) und der Liberalen Partei (PL) zusammen. Sie sind Teil der Regierungskoalition, weshalb die Christdemokraten fehlen. Letztere verstehen sich als Opposition, die von Fall zu Fall Vorschläge der Regierung unterstützt.
Bei getrennten Kandidaturen hätte es nahe gelegen, dass Socialismo Democrático eine eigene Liste präsentiert. Doch die Parteien dieses Zusammenschlusses gingen unterschiedliche Wege. Die Sozialisten und Liberalen haben sich dem Block aus Frente Amplio und Kommunisten angeschlossen. Sie traten unter dem Namen Unidad para Chile (Einheit für Chile) an. Damit arbeiten die Parteifreunde der deutschen FDP weiterhin mit Kommunisten zusammen. Für Christdemokraten ist das ein Tabu. Daran haben sie sich fast immer gehalten. Daraus resultieren nicht wenige der Probleme, die das Land plagen. Dieses Dogma gehört auch mit zu den Gründen für den Militärputsch vor 50 Jahren. Heute hat ihre separate Kandidatur dazu beigetragen, den Erfolg der Rechten und Rechtsradikalen zu vertiefen.
Die verbleibenden Parteien von Socialismo Democrático, PPD und PR, taten sich mit der Christdemokratie zur Liste Todo por Chile (Alles für Chile) zusammen. Das bescherte der PPD offen ausgetragene interne Auseinandersetzungen. Schließlich kann man schlecht mit einem Bein in der Regierung und mit dem anderen in der Opposition stehen. Mit Carolina Tohá stellen sie gerade die Innenministerin.
Chile Vamos änderte wieder einmal den Namen und nannte sich jetzt Chile Seguro (Sicheres Chile). Sowohl PDG als auch PLR gingen mit eigenen Listen an den Start.
Ein wichtiger Akteur fehlt noch. Das ist die Richtung, die bei der Wahl der VV für die Lista del Pueblo (Liste des Volkes, LDP) und andere unabhängige Kandidaturen gestimmt hat. Sie misstraut jeder größeren Organisation, da in ihr naturgemäß der Apparat ein eigenes Gewicht erlangt. Sie ist in der Lage, Listen für einen Wahlkreis zu bilden, aber Ansätze für eine landesweite Partei scheitern. So geschehen im Vorfeld der letzten Parlamentswahlen.
Diese Kräfte hatten sich Mitte März unter der Überschrift “Nieder mit der falschen und undemokratischen Verfassungsvereinbarung - Am 7. Mai rufen wir zu einer ungültigen Stimmabgabe auf - Für die Wiederaufnahme des Kampfes für die Forderungen der Bevölkerung und der Arbeiter”4 zu Wort gemeldet. Dieser Aufruf wurde von der Liste des Volkes, zahlreichen sozialen und linksradikalen Organisationen und über 260 Einzelpersonen unterzeichnet. Darunter befanden sich Menschenrechtsaktivisten, Aktive in Basisgewerkschaften außerhalb des Dachverbandes CUT und bekannte Hochschullehrer. Sie wollten damit “Nein zum Verfassungsbetrug” sagen und einer möglichen neuen Magna Charta schon im Vorfeld die Legitimität entziehen.
In einem Interview mit dem Onlinemedium El Desconcierto blies der Historiker Gabriel Salazar in das gleiche Horn.5 Zu Zeit der Regierung Allende war er Mitglied des MIR, der Bewegung der revolutionären Linken. Diese Organisation wollte, wie auch viele Sozialisten damals, zu einer Revolution a la Cuba übergehen. Damit haben sie der Rechten bei der Vorbereitung des Putsches zugearbeitet. Heute antwortet er auf die Frage, warum er ablehne, dass viele kritische Menschen Kandidaten der KP, der PS oder der PPD wählen wollen: “Weil sie Mitglieder von Parteien sind und darauf warten, dass man sie mit einer Kandidatur betraut oder mit einem Posten in der Staatsbürokratie.” Am Schluss konstatiert er für Chile das Fehlen der Volkssouveränität und schließt daraus: “Damit müssen wir das ganze System eliminieren.”
Vor vier Jahren, nach der sozialen Explosion, machte er noch vernünftige Vorschläge. “Deshalb sollte die Bürgerbewegung (…) sich nicht nur um den verfassungsgebenden Prozess sorgen, sondern auch eine Politik in Richtung der Militärs entwickeln. Es reicht nicht, zu sagen »Militär Mörder«. Sie töteten während des Putsches Pinochet, OK, da sind wir gleicher Meinung. Aber heute töten sie nicht.”6
Nun ja, eine “Politik in Richtung der Militärs entwickeln” bedeutet, von der Zerschlagung des Staates Abstand zu nehmen. Mit seiner Forderung “das ganze System zu eliminieren” ist er mental in die Zeit der Regierung Allende zurückgekehrt. Wie das endete, sollte gerade er als ehemaliger politischer Gefangener wissen. Will er diese Erfahrung wiederholen?
Der Unwille, sich weiter am Verfassungsprozess zu beteiligen, reichte bis in den Einflussbereich der KP. So rief der bekannte Kommunist Hugo Gutiérrez, ehemaliger Abgeordneter und Mitglied der VV, dazu auf, nicht zur Wahl zu gehen. Doch sah das dort nur eine Minderheit so.7
Es war sicher nicht einfach, die linke Basis für den Wahlkampf zu mobilisieren. Die Niederlage in der Volksabstimmung hat diesen Teil der Gesellschaft in tiefe Depressionen gestürzt. Der junge argentinische Journalist Juan Elman beschreibt den Zustand in einem Interview mit El Desconcierto so:
"Ich glaube, dass die schwerste Niederlage, die Chile erlitten hat, seelischer Natur ist. Es gibt auch eine politische Niederlage, aber was ich sehe, was mich am meisten quält und beunruhigt, ist die Frage nach dem Lebensmut, der Illusion, der Hoffnung, diese Vorstellung, dass die Zukunft besser sein wird, dass das Land etwas erlebt hat, das für viele undenkbar war, wo sich Diskussionen entzündeten, die bisher abgesagt waren oder unmöglich schienen.
Aber jetzt muss ich Menschen sehen, die sich vor einem Jahr noch Hoffnungen machten und glaubten, dass die Zukunft wünschenswert sein wird oder dass es sich zumindest lohne, dort zu sein, um sie aufzubauen. Jetzt denken sie, dass nach dem 4. September alles auf den Müllhaufen gewandert ist, dass das, was kommt, noch schlimmer sein wird… das war die deutlichste Niederlage.
Den Zustand der Apathie zu sehen, wie sich die Leute aus dem öffentlichen Leben und aus den Gesprächen zurückgezogen haben. Ich würde wirklich gerne wissen, wie lange diese Demobilisierung in Chile andauern wird."8
Die Resultate
Das Wahlergebnis ist ein Desaster. Stärkste Partei wurde die rechtsradikale PLR mit 35,4% und 23 Mandaten, gefolgt vom Regierungsbündnis Unidad para Chile mit 28,6% und 16 Sitzen. Das Bündnis der traditionellen Mitte, Todo por Chile, hat nur knapp 8% erreicht. Wegen des Wahlverfahrens brachte ihm das keine Mandate ein. So ist es auch den rechten Populisten der PDG ergangen. Im Vergleich mit der letzten Parlamentswahl haben sie etwa 4.000 Stimmen zugelegt, aber aufgrund der höheren Wahlbeteiligung reichte es jetzt nur zu 5,5 Prozent.
Die traditionelle Rechte, Chile Seguro, kam auf 21,1% und 11 Mandate. Hier ist die UDI mit 8,9% und 6 Consejeros die stärkste Kraft. Mit diesem Ergebnis können die Rechtsradikalen zusammen mit der UDI, ihre Leute galten viele Jahre als die Fachos, die neue Verfassung schreiben. Das progressive Lager hat nicht einmal die Kraft zum Veto. Dafür wären 21 Mandate notwendig. Zählt man den Vertreter der Ureinwohner dazu, er war vor Jahren Mitglied der Kommunistischen Jugend, haben sie im Consejo Constitucional gerade einmal 17 Sitze.
Ungewöhnlich war die hohe Zahl an ungültigen Stimmen. Normalerweise liegen sie bei ca. 5%. Dazu kommen noch weitere 5% weißer Stimmen, das sind nicht ausgefüllte Stimmzettel, die werden in Chile separat ausgewiesen. Jetzt lag die Zahl der ungültigen Stimmen bei fast 17% und die der weißen bei 4,6 Prozent.
In Chile betreibt man nun Kaffeesatzleserei, was von diesen mehr als 20% ungültiger oder weißer Wähler zu halten ist. Zu welchem politischen Lager gehören sie? Guillermo Teillier, Präsident der KP, bestreitet, dass es sich um Linke handelt, denn dann “hätten sie mit der Linken gestimmt”9. Doch so einfach ist das nicht.
Analysiert man die Wahlergebnisse genauer, kommt man zu einer anderen Einschätzung. (Siehe dazu den Anhang unten) Es zeigt sich dann, dass vermutlich mehr als jeder 10. Wahlberechtigte aus einem irgendwie linken Grund der Abstimmung ferngeblieben ist. Das hat progressive Positionen im Verfassungsrat massiv geschwächt. Das Wahlverhalten dieser Menschen war de facto eine bedingungslose Kapitulation vor dem Gegner.
Sicher, die Analyse der Ergebnisse ermöglicht natürlich nur eine Daumenschätzung. Sie vermittelt aber einen Eindruck, was sich an der gesellschaftlichen Basis tatsächlich abgespielt hat. Eine Rechtsentwicklung gab es da nicht. Durch das unglaubliche Verhalten der Anhänger der Liste des Volkes gibt es die aber auf der politischen Ebene. Es ist nicht erkennbar, was sie sich davon versprechen.
Organisationen wie die trotzkistische PRT, die unter dem oben genannten Nicht-Wahlaufruf standen, setzten auf ewige Wahrheiten wie “Kämpfen für ein Programm des arbeitenden Volkes und die rechte Demagogie enthüllen”11 und “Der sozialistische Ausweg”. So als ob sie das nicht schon seit Jahrzehnten propagierten.
Die Folgen für das Land
Mit diesem Sieg der Rechten befindet sich Chile hinsichtlich des Verfassungsprozesses in einer ähnlichen Situation wie nach dem Militärputsch vor 50 Jahren. Dieses Lager kann jetzt eine Verfassung schreiben, ohne auf andere Rücksicht nehmen zu müssen. Der Grund ist der gleiche. Das Handeln eines Teils der Linken auf Basis von aus dem Bauch kommenden Gefühlen, ohne dabei auch nur im geringsten die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Das stand damals unter dem Motto “Avanzar sin tranzar” (voranschreiten, ohne zu verhandeln). Diese Einstellung verhinderte sogar die Umsetzung einer Volksabstimmung, mit der Allende den Militärputsch abwenden wollte.
Sicher, die absehbare Niederlage im damaligen Plebiszit hätte seinen Rücktritt bedeutet. Die Aufgabe einmal erreichter Positionen wurde nicht einmal von seiner eigenen Partei geteilt. Nur drei der sieben Organisationen, die sich in der Unidad Popular (UP) zusammengefunden hatten, stellten sich hinter ihn, darunter die KP. Damals war offensichtlich, dass die Regierung Allende vor dem Aus stand, so oder so. Als Folge des faktischen Auseinanderbrechens der UP12 und der daraus folgenden Handlungsunfähigkeit der Regierung wurde seine Amtszeit dann durch den Militärputsch beendet.
Das bedeutete für den linken Teil der Gesellschaft hohe menschliche Kosten. Gut, nicht so hohe wie etwas später in Argentinien für die dortigen Genossen, aber ca. 3.00013 Tote, ungezählte Gefolterte und Exilierte bedeuteten trotzdem erhebliches Leid, von der Einführung des Neoliberalismus gar nicht zu reden. Das hätte man durch von Vernunft geleitetes Handeln verhindern können.
Die heutige Wiederholung der Geschichte bedeutet zum Glück keine Toten und Gefolterten. Bleibt diese Richtung aber bei ihrer Linie der Wahlenthaltung, bzw. im chilenischen Kontext des ungültigen Wählens, geben die aktuellen Vorgänge einen Vorgeschmack auf Kommendes. In Zukunft wird bei jedem Urnengang die Wahlpflicht gelten.
Die Verschiebungen im chilenischen Parteiensystem
Als Ergebnis dieser Abstimmung wird es zu massiven Veränderungen in der Parteienlandschaft kommen. Nur die Republikaner liegen über 10% und die meisten haben nicht einmal die 5%-Hürde übersprungen. Der Expertenrat schlägt sie für die Zukunft vor.14
Fusionen, nicht ein sie erzwingendes Gesetz, sind zu begrüßen. Für einen Außenstehenden ist es nicht möglich, die inhaltlichen Unterschiede zwischen den Parteien der Frente Amplio (Breite Front) zu nennen. Manche träumen in diesem Zusammenhang sogar von einer noch größeren linken Partei. Daran sollten sich auch die Sozialisten beteiligen. Und von den Kommunisten will man auch einen nicht unerheblichen Teil abwerben. Doch so eine Superpartei widerspricht allen chilenischen Traditionen. Es ist schwer vorstellbar, dass die Sozialisten ihre fast hundertjährige Tradition aufgeben. Sie stehen auch nicht unter Druck. Mit ihren 6% liegen sie auf der sicheren Seite.
Rechts außen haben sich die Republikaner etabliert. Dieses Lager kann sich auf ein großes Wählerpotenzial stützen. Nach der oben aufgeführten Umfrage von CADEM halten 26% der Chilenen die Militärregierung unter Pinochet für gut oder sehr gut. Weitere 20% bezeichnen sie als durchschnittlich. Nur 42% geben ihr schlechte Noten.
In der Mitte diskutiert man eine Fusion zwischen Christdemokraten, Radikalen und PPD. Vielleicht noch ergänzt um die Liberalen, die auf 1,2% gekommen sind. Doch in diesem Fall ist ein Zusammengehen von klerikalen und freisinnigen Traditionen schwer vorstellbar. Was das für die Zukunft der Christdemokraten (3,8%) bedeutet, ist völlig offen.
Im rechten Lager muss sich nur Evopoli sorgen. Diese Partei wurde vor ca. zehn Jahren von unzufriedenen Mitgliedern aus UDI und RN gegründet. Nachdem sich durch den Auszug der Pinochetisten die dortigen Verhältnisse geändert haben dürften, finden sie möglicherweise dorthin zurück. Auch stellt sich die Frage, ob durch das Entstehen des PLR die traditionellen Rechtsparteien gerade in die Mitte wandern.
Das kommunistische Ergebnis
Stärkste Kraft der Regierungsliste wurde mit 791.533 Stimmen (8%) die KP. Das entspricht 5,2% der Wahlberechtigten. Damit ist sie gegenwärtig die drittstärkste Partei des Landes, nach PLR und UDI. Doch brachte ihr dieser Erfolg nur zwei Sitze ein. Die Sozialisten erfreuen sich dagegen an 6 Mandaten.
Das gute Abschneiden der Partei ist wohl eine Folge der Wahlpflicht. Das letzte Mal, dass ein Kommunist nach dem Ende der Diktatur Stimmen in dieser Größenordnung erhielt, war bei den Vorwahlen von Apruebo Dignidad. Bei der folgenden Parlamentswahl kamen die kommunistischen Bewerber zusammengenommen nur auf 465.709 Voten. Offenbar gibt es in ihrer Anhängerschaft ein Segment, das nur geringes politisches Bewusstsein besitzt. Es geht zur Abstimmung, wenn ein aus dem Fernsehen bekannter “Star” zur Wahl steht. Unbekannte lokale Kandidaten lassen sie kalt. Werden sie aber per Gesetz zum Wahllokal geprügelt, die Strafe kann bis zu 40% des monatlichen Mindestlohnes erreichen, machen sie ihr Kreuz eben beim kommunistischen Bewerber.
In einem Interview hat sich Daniel Jadue, Bürgermeister eines kommunistisch regierten Stadtteils von Groß-Santiago, zum Verfassungsprozess geäußert. “Es sind die Rechte und die extreme Rechte, die die volle Verantwortung dafür tragen, dass dieser neue Verfassungsvorschlag tatsächlich Antworten auf den Schmerz, die Bedürfnisse, die Ängste und die Erwartungen unseres Volkes gibt. Wenn nicht, wird er scheitern und wir müssen in ganz Chile friedlich aufstehen und eine neue Verfassung fordern, und zwar dieses Mal effektiv durch eine Verfassungsgebende Versammlung.”15 Das wird von einigen als Aufruf zur Ablehnung bei der abschließenden Volksabstimmung verstanden. Dazu legt Lautaro Carmona, Generalsekretär der Partei, Wert auf die Feststellung, dass es von Seiten der KP keinen Aufruf gibt, im Dezember für Rechazo zu votieren.16 Er hält solche Losungen für eine Falle der Rechten. Und Alexis Cortés, einer ihrer beiden Verfassungsräte, erklärte gegenüber El Mercurio: “Es scheint mir angebracht, das endgültige Ergebnis (…) abzuwarten und den Text in seiner Gesamtheit zu betrachten.”17
Emil Berger
Anhang: Versuch einer detaillierten Auswertung der Wahlergebnisse
Wie beschrieben zeichnet sich die jüngste Abstimmung in Chile durch einen hohen Anteil an ungültigen und weißen (= leeren) Stimmzetteln aus. Deshalb wäre es für Interpretation des Wahlergebnisses wichtig zu wissen, aus welchen politischen Lager(n) diese Stimmen stammen.
Um das herauszufinden muss man die Resultate bezogen auf alle Wahlberechtigten berechnen. Normalerweise werden die Ergebnisse auf der Basis der abgegebenen gültigen Stimmen bekanntgegeben. Das macht durchaus Sinn, aber damit verschwindet die Wahlbeteiligung und die Zahl der ungültigen Stimmen aus der Analyse. Faktoren die bei dieser konkreten Wahl eine besondere Rolle spielen. Im Folgenden beziehen sich die Prozentzahlen auf die Zahl der Wahlberechtigten.
Die Zahlen dieser Wahl werden mit denen des Plebiszits (über den Verfassungsentwurf) vergleichen. Nur bei diesen Abstimmungen galt die Wahlpflicht. Ein deutlicher Unterschied zwischen beiden Urnengängen sind die Werte für die ungültigen und weißen Stimmen. Sie lagen letztes Jahr zusammengenommen bei nur 1,8 Prozent. Jetzt ist dieser Wert mit 18,2% förmlich explodiert. Davon gehören allein 14,3% zu den ungültigen.
Vor der Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf hatten sich alle Parteien entweder für Apruebo (Zustimmung) oder Rechazo (Zurückweisung) ausgesprochen. Bei den Parteien der Mitte war die Unterstützung des Apruebo aber umstritten. Das heutige Ergebnis lässt sich mit dem Plebiszit vergleichen, wenn man die Ergebnisse der Listen anhand ihrer damaligen Positionierung zusammenfasst.
Addiert man die Werte der Parteien des Rechazo, PLR, PDG und Chile Seguro, kommt man auf eine Zahl von 40%. Das ist deutlich weniger als die 52,2%, die den Verfassungsentwurf abgelehnt haben. Damit sind den Parteien des Rechazo ca. 12 Prozentpunkte verloren gegangen.
Schwieriger ist die Gegenrechnung für Apruebo. Das beginnt schon mit der Frage, wo die Teilnehmer der separaten Wahl für den Vertreter der Ureinwohner einzuordnen sind. Sie konnten sich aussuchen an welcher Abstimmung sie sich beteiligen. Mit ihrer Entscheidung für die Wahl des Vertreters der Ureinwohner zeigen sie, dass ihnen ihre Rechte als Minderheit wichtig sind. Daraus kann man schließen, dass sie sich letztes Jahr für Apruebo ausgesprochen haben. Deshalb werden die 2% der gültigen Stimmen dieses Wahlgangs Apruebo zugeschlagen.
Addiert man diese Zahl zum Ergebnis von Unidad para Chile (18,5%), kommt man auf den mageren Wert von nur 20,5%. Der Unterschied zum Ergebnis von Apruebo (32%) ist gewaltig. Es fehlen 11,5 Prozentpunkte. Davon werden nicht wenige zu den Anhängern der Liste des Volkes gehören.
Im Folgenden wird versucht, die Größe dieses Personenkreises zu ermitteln. Dafür kann man auf die Ergebnisse der Wahl der VV zurückgreifen.10 Aus der Gesamtaufstellung der Resultate entfernt man die Ergebnisse der Parteien. Das gleiche macht man mit den Listen der Unabhängigen aus der Mitte, wie den Independientes No Neutrales. Dazu streicht man Kandidaturen unter Namen, wie sie auch von Rechten verwendet werden können. Am Ende kommt man auf eine Zahl von etwas über 1.850.000 Wählern, die für die LDP und andere unabhängige Listen gestimmt haben. Ins Verhältnis gesetzt zur Zahl der heute Wahlberechtigten sind das 12,2%. Das ist etwas mehr als die 11,5%, die vom Wählerpotential des Apruebo fehlen. Der Unterschied könnte daher rühren, dass manchen Anhängern dieser Richtung der Verfassungsvorschlag schon zu viele Kompromisse enthielt und sie ihn deshalb ablehnten.
Die Zahlen zeigen, dass vermutlich mehr als jeder 10. Wahlberechtigte aus einem irgendwie linken Grund der Abstimmung ferngeblieben ist. Das hat progressive Positionen im neuen Verfassungsrat, und auch im Gefühl der Gesellschaft wo sie politisch steht, massiv geschwächt.
Es fehlt der Verbleib der abgängigen Wähler des Rechazo. Als Ergebnis der vorhergehenden Analyse müssen die Anhänger der Mitte (Todo por Chile 5,8%), entgegen den Empfehlungen ihrer Parteien, den Verfassungsentwurf abgelehnt haben. Andere werden sich jetzt bei ungültig oder weiß eingereiht haben. Zieht man von den 14,3% ungültigen die 12,2% ab, die der LDP zugeordnet wurden, bleiben 2,1% für dieses Lager übrig. Die weißen Stimmzettel steuern weitere 2% bei. Schlägt man das Ansteigen der tatsächlichen Wahlenthaltung (1,1 Prozentpunkte) Rechazo zu, können von den 12,2 fehlenden Prozentpunkten des Rechazo 11 erklärt werden.
1. https://de.scribd.com/document/628130464/Track-PP-476-Febrero-S4-VF
2. https://www.latercera.com/politica/noticia/humo-blanco-tras-3-meses denegociaciones-partidos-cierran-pacto-para-nuevo-proceso-constituyente-conorgano-de-50-escanos-y-24-expertos/SKSAJAWEXVDC7NZKXKKL6LYJ4Y/
9. https://elsiglo.cl/hay-un-riesgo-para-el-futuro-democratico-del-pais-guillermo-teillier/
10. https://historico.servel.cl/servel/app/index.phpr=EleccionesGenerico/Default/ListaPacto&id=223
12. Corvalán Lépez, L.: El gobierno de Salvador Allende, Santiago 2003
13. Comisión Chilena de Derechos Humanos, Nunca más en Chile. Síntesis corregida y actualizada del Informa Rettig, Santiago 1999
16. https://elsiglo.cl/desde-el-pc-no-hubo-llamado-a-rechazar-en-diciembre-lautaro-carmona/
17. https://www.emol.com/noticias/Nacional/2023/05/25/1096098/comisionado-cortes-por-dichosjadue.html