Eine deutsche Kriegsvorbereitungsgeschichte

Wem hängt sie nicht schon zum Halse heraus, die „Zeitenwende“? Kündigt sie etwas Neues an oder vertuscht sie lediglich das althergebrachte Wüten der kapitalistischen Normalität?

Jürgen Wagner hat die Behauptung einer Wende auf dem deutschen Rüstungssektor ernst genommen und auf ihre Stichhaltigkeit untersucht. Damit sind wir bereits beim Kernaspekt seiner Darlegung angekommen: der akribischen Zusammenstellung von militärbezogenen Fakten und Verknüpfungen, von denen es im westlichen/deutschen Kriegsrüstungsuniversum wahrlich nicht wenige gibt. Dieser strenge Sachbezug macht den besonderen Wert seiner Untersuchung aus. Die Tatsachen, welche die gegenwärtige Aufrüstung in Deutschland begründen, liegen auf dem Tisch. Alle an der Vermeidung weiterer Kriege Interessierten sind dringend eingeladen, sich dieser Fakten zu bedienen, um die bitter notwendige Gegenwehr mit dem sachlichen Hintergrund zu stärken.

In zehn übersichtlichen Kapiteln beschreibt der Autor die wesentlichen Komponenten, welche die deutschen Rüstungsanstrengungen prägen. Dabei bleibt er stets auf die Gegenwart bezogen, Rückgriffe auf die Vergangenheit der Bundeswehr sind auf das Nötigste beschränkt. Ihm geht es darum, die Bedeutung der aktuellen militärischen Verpflichtungen und Bestrebungen herauszuarbeiten, sodass die deutsche Militarisierung keine Phrase bleibt, sondern als konkretes Ziel identifizierbar wird.

 

Neue Ziele nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Europa

Wagner zeichnet die Veränderungen sowohl in den NATO-Strategien als auch in der EU nach. Letztere sind in der „Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ des Staatenverbunds niedergelegt (S. 51ff.). Es gab weder eine rüstungspolitische Pause noch eine „Friedensdividende“, von der heute noch gerne gelogen wird. Bereits die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ aus dem Jahr 1992 legen die militärische Rohstoffsicherung und die Kontrolle von Handelswegen als Kernaufgabe der Bundeswehr fest. (S. 33)

Parallel dazu beschließt die NATO Schritt für Schritt neue Entwicklungspräferenzen, Out-of-area-Einsätze des Bündnisses werden zeitgleich mit dem NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 prominent im Strategiekonzept verankert. Begleitend beschließen die Mitgliedsstaaten auf der EU-Ebene Eingreiftruppen in einer Größenordnung von 50 000 Soldat*innen. Sie sind von den Einzelstaaten zu stellen, sollen innerhalb von 60 Tagen kampfbereit und ein Jahr lang einsetzbar sein.

Die strategische Autonomie, die mit einer militärischen Einsatzfähigkeit unabhängig von NATO und USA kokettiert, findet Eingang in die europäischen Rüstungsplanungskonzepte der letzten 25 Jahre. Voran marschiert dabei die Bundeswehr, die den Kern der EU-Eingreiftruppe zu stellen verspricht (2022).

Seit 2016 kommandiert die deutsche Armee zusätzlich das NATO-Bataillon in Litauen und stellt das größte Truppenkontingent. Für weitere strategische Pläne anderer Truppengattungen steht die Bundeswehr seit Jahren bereit. Nicht zuletzt werden Kriegsschiffe in das Südchinesische Meer entsandt und deutsche Kampfflugzeuge jetten mal eben nach Australien, um dort an Militär“übungen“ teilzunehmen.

 

Die Orchestrierung der Aufrüstung: die Mär von der kaputt gesparten Bundeswehr

Während also der Systemkonflikt mit Russland - und im Hintergrund mit China – in den 2010er Jahren handlungsanleitend wird, geht die Bundesregierung weitere Verpflichtungen gegenüber den NATO- wie den EU-Verbündeten ein. In mehreren Stufen sollen zwischen 2023 und 2032, neben den sonstigen Aufgaben, drei Divisionen, also um die 60 000 Personen Truppenpersonal, in die NATO eingebracht werden (S. 77). Neue Fähigkeiten, vor allem im Bereich der Digitalisierung, sind nötig, um die Ziele einzuhalten. Nötig ist auch mehr Geld. Gigantische Aufrüstungsprogramme (S. 88), für die die deutsche Politik im Wort steht, harren seit zehn Jahren ihrer Umsetzung. Deshalb passt die „Schrotthaufen-Debatte“ (S. 95) perfekt in die Zeit. Ohne das Beschaffungswesen der Bundeswehr, ein Einfallstor für die gesamte Rüstungsbranche, in seinen systemischen Defiziten ausleuchten zu wollen, muss leider festgehalten werden: Verschwendung und Überteuerung sind kein Argument, über viel zu hohe Militärausgaben nachzudenken. Im Gegenteil: medial wird das Problem als eines der „chronisch unterfinanzierten“ (S. 97) Bundeswehr ausgedeutet. Mit wenigen Ausnahmen ist dies die herrschende Interpretation einer beständig defizitären Rüstungsfinanzierung. In das öffentliche Bewusstsein wurden breite Schneisen geschlagen, um dafür eine mehrheitliche Akzeptanz zu erzeugen.

 

Nutzen und Kosten der europäischen Rüstung

Auf der Kommissionsebene der EU zieht man eine weitere Argumentationsschiene ein: die europäische Rüstung sei deshalb so teuer, weil sie im Vergleich mit den USA fragmentiert sei. Also müsse man die Rüstungsvorhaben (ebenso wie die Waffenproduzenten) bündeln und die Stückzahlen hochtreiben – auch für den Export außerhalb der EU. Der „bisher stark zersplitterte europäische Verteidigungsmarkt“ (S. 99) müsse neu gestaltet werden, gerade auch zum Nutzen der wettbewerbsfähigen deutschen Industrie. Die deutlich gestiegene Quote deutscher Rüstungsgüterexporte in sogenannte „Drittstaaten“ (Nicht-EU-, NATO- oder gleichgestellte Länder) während der letzten zehn Jahre reiht sich genauso wie ein aufgeweichter Kriterienkatalog für die Ausfuhrgenehmigung nahtlos in die robuste Politik ein.

So wurden 2021 Exportzulassungen in einer Rekordhöhe von 9,35 Milliarden Euro ausgereicht.

Ein Heer, das mehr und mehr Aufgaben übernehmen soll, wird nach allen Planungen von 178 000 Personen (2016) auf eine Sollstärke von 203 000 (2025) aufwachsen – wenn denn die Rekrutierungsprobleme gelöst werden. Seit Anfang der 2010er Jahre sind beschlossene Standortschließungen rückgängig gemacht und die Liegenschaften in Wiederbetrieb genommen worden.

Wagner listet die wichtigsten und damit teuersten Beschaffungsvorhaben für Luftwaffe, Marine, Heer sowie die Digitalisierungsbeschlüsse akribisch auf (S. 121ff.).

Evident wird aus all diesen Absichten, Selbst- und Fremdverpflichtungen das Eine: auch mit einem überproportional wachsenden Rüstungsetat ist der verplante Kostenrahmen nie und nimmer zu stemmen.

 

Das Sondervermögen, der Extra-Wumms für die Armee

Günstiger hätte der Ukrainekrieg nicht fallen können. Drei Tage nach Beginn der Kampfhandlungen verkündet Kanzler Scholz die Zeitenwende, die als deutlichste Sofortwirkung eine Sonderfinanzierung der Bundeswehr abseits ihrer sonstigen, haushaltsgebundenen Finanzierungsbedarfe mit sich bringt: 100 000 000 000 Euro weitere Schuldenaufnahme jenseits aller „Sparzwänge“ und Schuldenbremsen will der Bundeskanzler für die Aufrüstung einsetzen. Und der Bundestag nickt in ganz großer Regierungsverantwortung aller Ampelparteien mit der CDU/CSU den Plan ab. Damit ist der Zeitrahmen, in den die zusätzlichen Rüstungsausgaben fallen, bis 2026 gespannt. Um es so zu sagen: das Geld ist definitiv weg, die Schulden werden definitiv bleiben und die Welt wird ein großes Stück unsicherer werden.

 

Ein schauriger Ausblick und eine bittere Notwendigkeit

Der Autor lässt niemanden im Unklaren, welch hochmodernes Vernichtungsmaterial mit den 100 Milliarden Euro entwickelt und eingekauft wird. Alle Wünsche werden bedient. Wird mal eben ein europäisches Panzer- oder Kampfflugzeugprojekt nicht zeitgerecht fertig – und das ist der Regelfall und treibt die Kosten –, kauft man halt beim großen Verbündeten eine „Zwischenlösung“. Die Steuerzahlenden dürfen sich auf eine Forderungs- und Zahlungslawine ohne Ende einrichten.

Noch bedrohlicher wird das Szenario im vorletzten Kapitel entfaltet, wenn Wagner die großen Rüstungslinien des Westens Revue passieren lässt.

Deutschland bastelt mehr denn je an der nuklearen Teilhabe (S. 165), was beinhaltet, dass im Ernstfall US-Atombomben auch von der Bundeswehr ins Ziel gebracht werden. Forderungen an Frankreich, die eigene Bombe zu europäisieren, das heißt vor allem zur deutschen Bombe zu machen, werden trotz aller Klarstellungen des französischen Präsidenten nicht auf Dauer verstummen. Der deutsche Führungsanspruch in Europa fordert seinen Tribut.

Europäische Rüstungsprojekte werden im raschen Takt vereinbart und die Aufrüstung „befreundeter“ Akteure liefert den Militärstrategen eine willkommene, zusätzliche Option, Weltpolitik zu betreiben, ohne die eigene Bevölkerung in den dazugehörigen Krieg zu schicken. Die Ukraine ist gegenwärtig das Beispiel schlechthin.

Allein, ungeschoren werden die europäischen und nordatlantischen Verbündeten nicht davonkommen. Die NATO-Ostflanke wird in beispielloser Art aufgerüstet und Großverbände werden innerhalb weniger Jahre auf den Weg gebracht. Es gibt viele Chancen für junge Leute im Westen, als Kanonenfutter zu enden – allen smarten Cyber-War-Vorstellungen zum Trotz.

Wohl wissend um die bescheidene Ausgangslage geht der Autor davon aus, dass der „Rüstungswahn“ nur gestört werden kann, wenn der Widerstand groß genug ist.

Alle Eingriffsmöglichkeiten müssen wahrgenommen werden. Das betrifft Proteste gegen die mangelnde parlamentarische Kontrolle militärischer Pläne ebenso wie die Schaffung einer Gegenöffentlichkeit gegen die kriegsgeile Medienmehrheit. Investigatives Vorgehen gegen Korruption und Lobbymacht bei der Rüstungsvergabe soll die Projekte in öffentlichen Misskredit bringen. Antimilitaristische Menschen erleben Diffamierung und Verfolgung, ihr/unser Kampf ist aber notwendig. Die nicht erreichten Rekrutierungszahlen für die Armee machen Mut, jeder Protest gegen die Bundeswehr an der Schule ist unterstützenswert.

Und schließlich wird erst in Zukunft die Rechnung aufgemacht, was für die Abermilliarden nicht angeschafft wurde: alle Bausteine für ein menschenwürdiges Leben, das der erreichten Zivilisationsstufe angemessen wäre. Doch davon entfernen wir uns mit einer Geschwindigkeit, wie sie den neuen, gesenkten Vorwarnzeiten für die Raketeneinsätze entspricht.

Die Rüstung ist ein globales Verelendungsprogramm, das müssen wir immer wieder thematisieren. Nur so kann der schmale Zeithorizont bis 2026 eine Chance sein. Die Folgekosten der Programme und das 2%-Ziel für den Aufrüstungshaushalt benötigen Finanzmittel in bald dreistelligen Milliardenbeträgen. Oder wie Jürgen Wagner konstatiert: „Somit bleiben vier Jahre, um eine dauerhafte Zeitenwende zum Turbo-Militarismus zu verhindern. Die Friedensbewegung allein wird hierzu deutlich zu schwach sein (…) Die gute Nachricht ist aber, dass sie hierfür zahlreiche Bündnis-partner*innen finden könnte. (…) Der Widerstand gegen Zeitenwende und Turbomilitarismus geht also alle an (…).“ (S. 211f.) Da hat er einfach nur Recht.

 

Wir wünschen der Untersuchung die größtmögliche Verbreitung und mehr noch: sie möge den Widerstand gegen die unerträglichen militaristischen Plänen beflügeln!

 

Jürgen Wagner: Im Rüstungswahn Deutschlands Zeitenwende zu Aufrüstung und Militarisierung. Papy Rossa Verlag, Köln 2022, 212 Seiten