Zum aktuellen Stand des deutsch-chinesischen Verhältnisses:
Lange hat sie uns auf die Folter gespannt, die Bundesregierung. Das Verhältnis zur VR China werde auf sehr soliden Grundlagen basieren, wenn erst die China-Strategie der Bundesregierung beschlossen und veröffentlicht sei. Dann werden sich die aufgelaufenen Fragen und Probleme lösen und alle wüssten dann, woran sie seien. Selbstverständlich EU-europäisch, nachhaltig und konkurrenzlos billig. So heißt es im Strategiepapier: „Angesichts der erheblichen aktuellen Anforderungen an unsere öffentlichen Haushalte streben wir an, die Aufgaben dieser Strategie ohne zusätzliche Belastung des Bundeshaushalts insgesamt zu bewältigen.“ (S. 9)
Doch kurz zurück zur Genese dieser Strategie. Im „Jahrbuch der Europäischen Integration 2016“ werden von Seiten der EU einige Festlegungen im Verhältnis zu China referiert, die seither als Maßstab der Beziehungen gelten. So wird festgelegt, dass „europäische Interessen nicht ohne die Berücksichtigung der innen- und außenpolitischen Entwicklung Chinas formuliert werden können.“ (S. 364) Weiters werden weltpolitische Ambitionen in die EU-Sicht integriert: “ Aus Sicht des Parlaments solle die Hohe Vertreterin (Außenkommissarin Mogherini) prüfen, wie sich ein bewaffneter Konflikt in der Region auf europäische Interessen auswirken könnte. (…) Einen sicherheitspolitischen Hotspot bildet das Südchinesische Meer.“ (ebd. S. 365) Die inzwischen heiliggesprochene Dreifaltigkeitsformel, die das Verhältnis zur Volksrepublik auf den Punkt bringen soll, existiert seit mindestens vier Jahren: „Die EU-Kommission beschrieb in ihrem Strategischen Ausblick 2019 China erstmals als "Partner, Wettbewerber und Konkurrent." (MERICS, 2022)
Unter diesen Voraussetzungen ist bemerkenswert, dass die ausformulierte Strategie so lange auf sich warten ließ, nachdem sie immer wieder angekündigt wurde. Und der erste Blick auf den Text steigert eher die Verwunderung darüber, was neu sein könnte. Stattdessen begegnen der Leserschaft allbekannte Formeln und Stereotype, eher erinnert die Strategie an eine Fleißarbeit zum Thema „Alles, was schon mal zu China gesagt wurde, egal ob Fakt oder Unterstellung.“ Der Gebrauchswert der Strategie erschließt sich im weiteren Verlauf der Untersuchung aber noch deutlicher.
Die gegenwärtigen Rahmenbedingungen des deutsch-chinesischen Verhältnisses
Spätestens mit der Coronakrise, den Lockdowns und Absatzrückgängen, den gestörten Lieferketten und den enormen Kosten, um Produktion und Versorgung aufrecht zu erhalten, hat die Wirtschaft in Deutschland Schlagseite. Das zarte Pflänzchen Konjunktur erfror schließlich im Ukrainekrieg. Der Rückgang des Wachstums im letzten und im ersten Quartal 2022/23, gefolgt von einem stagnierenden Quartal 2023 lässt alle Konjunkturerwartungen Makulatur werden.
Nicht zuletzt werden auch die erwarteten Steuereinnahmen ausbleiben. Selbst die Arbeitslosigkeit meldet sich in „beschäftigungsintensiveren“ Quartalen deutlich zurück. In diesem krisenhaften Umfeld muss auch der Warenaustausch mit China gesehen werden. Denn die Volksrepublik kämpft ebenfalls mit wirtschaftlichen Problemen. So glimmt immer noch eine Immobilienblase größten Ausmaßes, die Firmen sind vorsichtiger bei Neueinstellungen, was vor allem Jungakademiker in den Städten zu spüren bekommen. Deshalb lahmt die Binnenkonjunktur, die Notenbank hat entgegen den westlichen Zinsanhebungen auf die nationale Situation mit der Senkung des Leitzinses geantwortet. Trotzdem herrscht Deflation im Land.
Der deutsche Warenexport nach China steigt nur mehr marginal (Germany Trust & Invest, 2022). Knapp 96 Milliarden Euro Exporterlöse reichen nur noch für Platz 4: die Exporte nach USA, Frankreich und die Niederlande haben den Chinaexport verdrängt. Andererseits liegen die chinesischen Einfuhren nach Deutschland auf Rekordhoch, sie umfassen im abgelaufenen Jahr 13% sämtlicher, weltweiter Einfuhren in die Bundesrepublik. (J. Matthes: China-Handel 2022: Ungleichgewicht und Abhängigkeit weiter verstärkt, in: IW-Kurzbericht Nr. 9/2023) Nebenbei steigt das Handelsbilanzdefizit gegenüber China ebenfalls auf die Rekordsumme von 84 Milliarden Euro und frisst damit über die Hälfte der insgesamt positiven deutschen Außenhandelsbilanz. Was hierzulande als „kritische Abhängigkeit“ von einem Land gesehen wird, hat die tieferen Ursachen nicht in der -unzulässigen- Subventionierung oder den marktbeherrschenden Exporten von Schlüsselrohstoffen aus China. Das würde die Problematik unzulässig verkürzen.
Die chinesischen Lieferanten sorgen mit inzwischen wieder stabil gewordenen Liefer-ketten, neben dem Preis, dafür, dass hiesige Produzenten ausweichen können, wenn europäische Lieferanten ihre Termine nicht halten. Deren Qualität und rasche Anpassungsfähigkeit an die europäischen und deutschen Bedürfnisse sorgen für eine entsprechende Nachfrage. Deutsche Firmen werden nicht entscheidend benachteiligt, was den Zugang zum chinesischen Markt betrifft. Die Etablierung in China wird deswegen schwieriger, weil die Konkurrenz einheimischer Anbieter in größerem Maße als früher qualitativ mithalten und technologisch den Takt vorgeben kann. VW zieht die Konsequenzen aus dem Verlust der Marktführerschaft und beteiligt sich am chinesischen Startup Xpeng. Ziel: gemeinsam Mittelklassemodelle in China zu entwickeln und zu bauen, die sich auch verkaufen lassen. Die deutschen Importfahrzeuge mit E-Antrieb waren deutlich durchgefallen. (Tagesschau, 27.07.2023)
Um es schon einmal vorwegzunehmen: der deutsche Erklärungsansatz, warum die heißgeliebte Technologieführerschaft mehr und mehr gefährdet werde, ist larmoyant und nicht zukunftsweisend. Modern also: „nachhaltig“. Nicht üble Theorien, Pläne und Praktiken Chinas bremsen deutsche Unternehmen aus, sondern deren eigene Überheblichkeit. Eine Ware mit einem Preisaufschlag zu verkaufen, nur weil sie deutsche Ingenieurskunst widerspiegelt, reicht in dem Moment nicht mehr hin, wo auch andere, gut ausgebildete Arbeitskräfte ihr Wissen und Können entwickeln und in einem adäquaten Umfeld umsetzen. Die Zeiten sind vorbei und sie werden (ohne Krieg) nicht wiederkommen. Nicht der, ach so fiese, duale Wirtschaftskreislauf, den die chinesische Regierung nicht ohne Zwang von außen beabsichtigt, mindert deutsche Exportchancen, sondern häufig deren unzureichende Präsenz in der Volksrepublik und die Unkenntnis, was die Verhältnisse im Land betrifft.
Diejenigen deutschen Unternehmen, die Tochterfirmen in China unterhalten, tendieren zurzeit dazu, Produktion und Vertrieb vor Ort zu intensivieren und weniger auf den Import aus Deutschland zu setzen. Schließlich wird man keine Inflation aus Europa importieren wollen, die Energiefrage kostet Geld und die Engpässe bei den europäischen Lieferketten hindern die Nachfrage. So kommt Matthes im IW-Kurzbericht zu dem resignativen Schluss: „Die China-Strategie der Bundesregierung wird sehr wahrscheinlich unter anderem die Kernforderung enthalten, aufgrund gestiegener geopolitischer Unsicherheiten kritische Abhängigkeiten zu verringern. In der Tat geben auch viele Unternehmen an, dass sie ihre China-Abhängigkeiten verringern wollen. (…) Die Zahlen sprechen derzeit allerdings eine andere Sprache.“ (S. 3)
Die China-Strategie, ein Papier des Übergangs zu bedrohlichen Zeiten
Das europäische Mantra, China sei „gleichzeitig Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale“ (S. 8), eröffnet die deutsche Strategieversion. Diese Formel, auf die sich die EU geeinigt hat und die hier von der deutschen Regierung aufgenommen wurde, ist selbst Produkt der unterschiedlichen Interessen Europas. Sie lässt im Sinne der weiteren Konfrontation alle Türen offen, will also gerade die USA nicht verärgern, indem „besondere Beziehungen“ angedeutet werden. Andererseits macht sie ein Schlupfloch auf für friedliche Kontakte und Beziehungen, die man nicht ohne Not und ohne, dass es die USA fordern, aufgeben will und kann. Der Bereich „Partnerschaft“ mit der VR China ist freilich schnell und in wenigen Teilgebieten umrissen. Prominent bleibt die beabsichtigte Zusammenarbeit mit China im Bereich des Umweltschutzes und der nachhaltigen Dekarbonisierung. (S. 12) Denn „China ist der größte CO₂-Emittent weltweit. (…) Die Bundesregierung ermutigt China dazu, seiner globalen Verantwortung gerecht zu werden (…)“ (S. 10) Kein Wort zu den eigenen Verschmutzungen, kein Wort auf Augenhöhe. Diese latenten Vorhaltungen prägen die Passagen, in denen eine angebliche Partnerschaft beschrieben wird.
In diesen Bereichen könnte man entsprechende chinesische Maßnahmen schon brauchen, weil sie den Unzulänglichkeiten deutscher Klimapolitik auf die Sprünge helfen sollen. Nur darf damit keinesfalls die Anerkennung der fremden Leistung und Konzeption verbunden sein.
Ob China die Dreifaltigkeitsformel (Partner, Wettbewerber, systemischer Rivale) genauso sieht, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Eine Kategorisierung dieser Art würde Regierung wie Wirtschaftsakteuren Handlungsoptionen verschließen, zumal das Land keine taktischen Volten schlagen muss, um strategische Partner (die auch Wettbewerber und Rivalen sind!) wie die EU oder die USA zufrieden zu stellen. Deshalb geht es auch nicht ohne Bestärkung der deutschen Europapolitik: „Der Zusammenhalt der EU, die Stärkung der europäischen Einheit und die Integrität des EU-Binnenmarktes sind grundlegende politische Prinzipien (…)“ (S. 11) und den USA wird eine „enge und vertrauensvolle Partnerschaft“ (S. 49, 55) bescheinigt. Der Zusammenhang mit der China-Politik steht dabei nicht immer an oberster Stelle, aber das freie Mäandern des Textes ist eine Eigenart, die ein Licht auf das Zustandekommen der Strategie wirft. So definiert die Regierung in „Globale Partnerschaften“ noch ihre Interessen in Bezug auf Europa und die anderen Kontinente, manchmal im Gegensatz zu China, manchmal ohne direkten Bezug darauf (S. 49f.). Das Folgekapitel „Handelspolitik und Diversifizierung“ kommt bereits ohne die Erwähnung der Volksrepublik zurecht. (S. 50f.) Da werden alle denkbaren europäischen/deutschen Handelsbeziehungen zu Drittländern und anderen Wirtschaftsverbünden durchdekliniert, egal in welchem Umsetzungsstadium oder welcher Planungsphase oder Wunschvorstellung sie sich befinden. Offenbar soll hier ein Leistungsnachweis für die Diversifizierungsbemühungen der Bundesregierung erbracht werden. Die Praxis der vergangenen Monate lässt so manchen Zweifel aufkeimen, ob diese Absichten auch fruchten. Generell bleiben beim Abgleich mit dem Ist-Zustand von Beziehungen und (nationalen/europäischen) Umsetzungsmöglichkeiten viele Fragen offen. Die Politik schwankt zwischen den Gegensätzen von De-coupling (will man nicht, ist schlecht) und De-risking (will man auf alle Fälle, ist super). Wie man das eine erreicht, ohne das andere in Kauf nehmen zu müssen, zumal auch China und Drittstaaten (USA) lebhafte Interessen einbringen, bleibt das Geheimnis der Chinastrategie. Trotzdem gibt es einige konkrete bzw. konkretisierbare Maßnahmen der Regierung.
Konkrete Maßnahmen, die auf das Verhältnis zu China einwirken
Die Bundesregierung weist das Investitionsabkommen, das 2020 zwischen der EU und China ausverhandelt wurde, zurück. Es wird „aus verschiedenen Gründen zurzeit“ (S. 17) nicht ratifiziert. Näher äußert sich das Papier im Kapitel über Investitionen dazu. (S. 39-41) Es existiert ein europäischer Rechtsrahmen, der die Kooperation der Mitgliedsländer in Investitionsfragen regelt. Die BRD prüft, ob im Bedarfsfall eine „voraussichtliche Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ (S. 39) vorliegt. Mit der Annahme, dass chinesische Investitionen immer einen zivilen und militärischen Zweck verfolgen, ist der Alarm bereits vorgegeben. Wenn dann noch der „Schutz Kritischer Infrastruktur“ (S. 40) zu gewährleisten ist, erfordert diese Bündelung staatliches Handeln: das Investitionsprüfungsrecht soll verschärft und kodifiziert werden. Etwas kleinlaut wird nachgeschoben, dass jenseits des Verfahrens (und der Ablehnung von Investitionen) alle wirtschaftlich sinnvollen und nachhaltigen Möglichkeiten genutzt werden sollen, „um Standorte und Arbeitsplätze zu sichern“. (ebd.) Wenn die nicht schon weg sind …
Vielleicht wird hier auch ein Popanz aufgeblasen, wenn man sich die aktuellen Investitionszahlen ansieht. Aus der BRD sind in der Volksrepublik 86 Milliarden Euro investiert, umgekehrt investieren chinesische Unternehmen hier 3,2 Milliarden.
Könnte es nicht sein, dass man in China nicht so sehr auf deutsche Technologie angewiesen ist, wie man in Deutschland glaubt?
Aber die deutsche Regierung hat diesen Schützengraben ausgehoben und will ihn jetzt nicht mehr verlassen. Die kritische Infrastruktur soll in einem „KRITIS-Dachgesetz“ (S. 42) definiert werden. Und die kritischen Komponenten/IT-Funktionen sollen analog zum öffentlichen 5G-Mobilfunknetz in anderen Sektoren definiert werden. Nicht genug damit, auch Nicht-IT-Produkte sollen in die Prüfung einbezogen werden. Da wird sich die Bürokratie aber freuen, ebenso wie die Unternehmen (oder Kunden, die jede Prüfung und Substituierung bezahlen werden). Doch Entwarnung: „Dabei soll die Wirtschaft nur im erforderlichen Maß belastet werden.“ (ebd.)
Gefährlich sind auch internetbasierte Dienstleistungen, Apps und soziale Medien, sie können zum Abfluss von Daten führen. Die Bundesregierung gehe bei der dienstlichen Verwendung „restriktiv“ um. (S. 44) Hätten sie das doch zu Merkels Zeit mit ihrem Diensthandy schon gemacht.
Ansonsten wartet man ab, ob sich europäisch in dieser Frage was tut. Auf diplomatisch heißt das: „Wir streben an, (…) im europäischen Rahmen, die Einhaltung europäischer Standards, (…) strenger zu überwachen und durchzusetzen.“ (ebd.)
Ganz viele neue Partnerschaften und Dialogformate sollen stattdessen eingegangen werden, um China doch irgendwie zu ersetzen. Der Merksatz lautet: „Durch Diversifizierung kann einerseits eine zu hohe Abhängigkeit von einem einzelnen Markt oder einer einzelnen Bezugsquelle für kritische Güter vermieden, andererseits das hohe Potential anderer Länder und Regionen besser ausgeschöpft werden.“ (S. 50) Bessere Ausschöpfung also, das macht so richtig Lust auf den Kontakt auf Augenhöhe und nachhaltige Beziehungen unter Beachtung des Verbots von Kinderarbeit und dem weiteren Erblühen der Menschenrechte. Dafür stehen dann die deutschen „Partner“ bereit, die hoffentlich bald vergessen lassen, dass der chinesische Anteil am deutschen Außenhandel 2022 die Rekordhöhe von 9,7% erreicht hat. (Statista) Alle Himmelsrichtungen werden abgegrast, der MERCOSUR ebenso wie Einzelstaaten des globalen Südens. Und die Formulierungen lassen erkennen: ausverhandelt und beschlossen ist noch sehr, sehr wenig. So „setzt sich die Bundesregierung für eine rasche Finalisierung laufender Verhandlungen … ein.“ (S. 51); sie unterstützt eine strategische Diskussion in der EU über einen „handelspolitischen Ansatz im Indo-Pazifik und strebt ein interregionales Handelsabkommen zwischen EU und ASEAN an“; „wir unterstützen die Absicht der EU, die Wirtschaftsbeziehungen mit afrikanischen Partnern zu intensivieren [nachdem es mit den deutschen Militärbeziehungen zu Afrika auch nur so mittel läuft, d.V.]. Wir wollen Fortschritte …“ (alle Zitate ebd.). Und so weiter, und so fort.
Damit die Europäer endlich in die Gänge kommen, bieten wir „der Generaldirektion Handel der Europäische (!) Kommission gegebenenfalls deutsches Personal zur Unterstützung an“. (ebd.) Da warten sie sicherlich schon mit heißem Herzen drauf.
Um auf den ernsten Kern der Sache zurückzukommen: die wirklich wichtigen Handelsbeziehungen Deutschlands sind mit der EU, den USA und im Weiteren mit der G7 juristisch geklärt und vereinbart. Der Rest besteht aus Einzelverträgen oder läuft über die Bestimmungen der WTO. Ob da nicht neue Abhängigkeiten von bekannten Handelspartnern drohen, weil es den Ländern des Globalen Südens eben nicht darum gehen kann, dass ihre Ressourcen „besser ausgeschöpft werden“ (S. 50), um je nach Gelegenheit und Weltlage dann sanktioniert, militärisch besetzt oder fallengelassen zu werden?
Klare Aussagen gehören zu den Seltenheiten des Textes. Erkennbar werden deutsche Interessen m.E. im Bereich der Normierungen und der Technologieentwicklung. Einmal heißt es: „Durch Zusammenarbeit mit China, seine Einbindung in internationale Normungsaktivitäten und durch frühzeitige Harmonisierung technologischer Konzepte wirkt Deutschland Nationalisierungs- und Lokalisierungstendenzen in der Normierung entgegen.“ (S. 37) und weiter unten: „Auch im Technologiebereich streben wir keine Entkopplung von China an. Die Entstehung separater Tech-Sphären ist nicht in unserem Interesse.“ (S. 52)
Ausnahmsweise kein Wohlfühl-Geschwurbel, sondern in diesem Fall ein knallhartes nationales Interesse. Die Gefahr liegt darin, dass sich zwei Wirtschaftsblöcke beginnen zu trennen. Unterschiedliche Tech-Sphären oder weltweit getrennte Normierungen würden die Wirtschaftsstruktur der Bundesrepublik im Kern erschüttern, das deutsche „Geschäftsmodell“ stünde vor dem Bankrott. Deshalb kann man die Absätze auch so lesen, dass in erster Linie nicht China gemeint ist, sondern die Mahnung vielmehr in Richtung USA geht. Deren Politik forciert die Abkoppelung der Volksrepublik von den am weitesten entwickelten Halbleitertechnologien. In dieser Richtung sind weitere Handelsbeschränkungen im Export wie im Import zu erwarten, die irgendwann nicht mehr Nadelstichqualität darstellen, sondern als Bedrohung gesehen werden. Eine Trennung der Sphären wird denkbar, ein Albtraum für einen Exweltmeister im Export.
Was sonst noch auffällt
Die Bundesregierung bekennt sich zur Ein-China-Politik. Und wie! „Diplomatische Beziehungen bestehen nur mit der Volksrepublik China.“ (S. 13) Alles andere enthielte zu viele Risiken, doch was heißt das schon? „Deutschland unterhält mit Taiwan in vielen Bereichen enge und gute Beziehungen und will diese ausbauen. Im Rahmen der Ein-China-Politik der EU unterstützen wir die sachbezogene Teilnahme des demokratischen Taiwan in internationalen Organisationen.“ (ebd.) Damit man dem einen China mal Bescheid gibt, heißt es weiter: „Eine Veränderung des Status Quo in der Straße von Taiwan darf nur friedlich und im gegenseitigen Einvernehmen erfolgen. Eine militärische Eskalation würde auch deutsche und europäische Interessen berühren.“ Deutschland schert sich nicht darum, welche Bedeutung die Ein-China-Politik für die Volksrepublik hat, die vor Jahrzehnten, lange vor dem Mauerfall, die deutsche Vereinigung unterstützte.
Die deutsche Chinapolitik wird, aller europäischen Rhetorik zum Trotz, immer noch von der eigenen Regierung, nicht von der EU gemacht. Nur wenn es den Deutschen passt, wird Europa informiert. „Wir werden prüfen, bei welchen bilateralen Gesprächen es sinnvoll sein kann, einzelne EU-Partner oder EU-Institutionen von Fall zu Fall einzubeziehen.“ (S. 16)
Dann steht da noch ein Zusammenhang, der das Handelsdilemma auf den Punkt bringt: die Abhängigkeiten einzelner Branchen und Unternehmen, für die die Bundesregierung ein Problembewusstsein entwickelt hat, aber noch nicht die einzelnen Branchen und Unternehmen selbst. Was kann man tun? „Die Bundesregierung wirkt im Dialog mit Unternehmen und Verbänden darauf hin, das Bewusstsein hierfür zu stärken.“ (S. 37) Weil es nämlich „im unternehmerischen Interesse“ liegt, „übergroße Risiken zu vermeiden.“ Mit diesen Neuigkeiten versehen, schwingt sich das Papier zur knallharten Drohung auf: „Unternehmen müssen geopolitische Risiken bei ihren Entscheidungen adäquat berücksichtigen. Die Kosten von Klumpenrisiken müssen unternehmensseitig verstärkt internalisiert werden, damit im Falle einer geopolitischen Krise nicht staatliche Mittel zur Rettung einstehen müssen.“ (S. 37f.) Das wird VW und Konsorten eine Lehre sein, wenn sie auf ihre Werke in China und den Export dorthin verzichten werden müssen. Dann wird herrschen Heulen und Zähneklappern und die solcherart Beschämten werden nicht wagen, nach Staatsknete zu rufen. Denn die Regierung hat ja rechtzeitig gewarnt.
Noch ein Beitrag aus dem Land der Feen und Elfen gefällig? „Wir leben offen, tolerant und vertrauensvoll mit deutschen Staatsangehörigen chinesischer Herkunft und chinesischen Staatsangehörigen in Deutschland zusammen.“ (S.43) Ist doch putzig, oder? Aber aufgepasst, damit sind nicht alle gemeint: „Darüber hinaus nutzt die Bundesregierung bilaterale Dialoge, um China zur Rückübernahme eigener ausreisepflichtiger Staatsangehöriger zu bewegen.“ (S. 22) Eine vertrauensvolle Abschiebung in das Reich der Unfreiheit ist also immer noch drin.
Der kriegerische Ausblick
Im Kapitel „Sicherheitspolitik“ (S. 55-57) wird zum Finale geblasen. Ausgehend davon, dass Chinas Verhalten bei der eigenen Rüstung Europas Sicherheitsinteressen berührt und die deutschen Interessen verletzt werden, weil Chinas Verhältnis zu den USA „antagonistisch“ (S. 55) sei, wird die chinesische Militärpolitik Schritt für Schritt zum Hochrisiko für Deutschland und den Westen erklärt. Schon, dass das Land Beziehungen zu Russland pflegt und beide in der Erklärung vom 04.02.2022 eine „weitere NATO-Erweiterung“ ablehnen, kann nicht so einfach hingenommen werden. Schließlich führe Russland einen Angriffskrieg, der von China unzureichend verurteilt werde. Wenn jetzt noch „eine engere (!) Rüstungszusammenarbeit … mit Russland“ zustande käme, „insbesondere chinesische Waffenlieferungen im Kontext des russischen Angriffskriegs“, dann hätte dies „unmittelbare Auswirkungen auf die EU-China- und unsere bilateralen Beziehungen.“ (S. 56) Deshalb sei die Koordinierung zwischen der EU und der NATO in dieser Frage unverzichtbar.
Außerdem ist ja noch die Frage der Sicherheit in der Straße von Taiwan offen und ohne deutsche Mitwirkung nicht zu lösen, und ebenso die Lage im Südchinesischen Meer … und die Lage im Ostchinesischen Meer … und die Lage in Arktis und Antarktis … und im Weltraum … und im Cyberraum. (alle Orte der Auseinandersetzung, S. 56)
Groß ist die vorgebliche Interessensgleichheit mit der NATO/den USA, deren strategische Positionierung hier nachgebetet wird. Mit etwas kleinerer Münze geschieht die Umsetzung. „Den Einsatz für die Wahrung der regelbasierten Ordnung unterstreicht Deutschland auch durch zeitweise militärische Präsenz in der Region u.a. mit Fahrten der deutschen Marine und teilstreitkräfteübergreifender Teilnahme an multinationalen Militärübungen.“ (S. 50)
Soll man schon darüber froh sein, dass kein Bau von Flugzeugträgern angekündigt wurde? Die Bundesregierung, aber auch die Medien und Teile der Öffentlichkeit beteiligen sich ohne Bedenken daran, zu zündeln in der gegenwärtig bedeutendsten Region der Erde, politisch, militärisch und wirtschaftlich. Die Zukunft und die Hoffnung der Mehrheit der Weltbevölkerung wird hier verhandelt und EU-Deutschland mischt sich locker mal ein.
Undank scheint aber doch der Welten Lohn zu sein, wenn man die journalistische Reaktion auf das Strategiepapier betrachtet. Anstatt gelobt zu werden für das teils zivilgesellschaftliche, teils robuste Auftreten, geht das der Qualitätspresse mal wieder nicht weit genug. So mäkelt der größte Außenpolitiker der Süddeutschen Zeitung, Stefan Kornelius: „Die Strategie entspricht nicht Größe und Wucht der chinesischen Ambitionen. Sie erkennt nicht die Langfristigkeit, mit der Chinas Plan, die Welt nach seinen Vorstellungen umzubauen, angelegt ist. Sie vernachlässigt weitgehend den ideologischen Grundkonflikt (…)“ Und weil’s immer noch ein Stück dramatischer sein darf: „Und sie unterschätzt, wie grundstürzend das deutsche Dasein von der Frage bestimmt wird, ob die Weltordnung künftig eine amerikanisch oder eine chinesisch dominierte ist.“ (SZ, 14.07.2023, S. 4)
Die Stellungnahme des Botschaftssprechers der chinesischen Vertretung in Berlin (14.07.2023) wählt dagegen den einzig richtigen Ansatz: „Keine der Herausforderungen und Probleme, mit denen sich Deutschland derzeit konfrontiert sieht, wurden von China verursacht …“ Um die diplomatische Weichzeichnung wegzunehmen, muss man nach Analyse der China-Strategie klar feststellen: Deutschlands Problem heißt nicht China, sondern Deutschland.