100 Jahre 1923

 

Die Erinnerung an das Jahr 1923 ist auch ein Anlass für die hiesigen Medien. Mindestens zehn neue Monographien sind erschienen, die sich mit diesem ökonomisch und politisch ereignisreichen Jahr befassen. Vielfach wird es als Schlüsseljahr für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts gesehen.

Für den bürgerlichen „Mainstream“ steht dabei häufig die in diesen Jahr ihren Höhepunkt erreichende Hyperinflation bzw. deren Überwindung im Mittelpunkt der Darstellung. Aber auch Hitlerputsch und kulturelle Aspekte werden in manchen Veröffentlichungen ausführlich behandelt.

Für viele Linke gibt es aber noch einen anderen Focus des Interesses. Nämlich die Frage, ob der von der Kommunistischen Internationalen (KI) für den Oktober 1923 geplante kommunistische Aufstand eine realistische Chance auf Erfolg gehabt hätte.

Befasst man sich mit Geschichte auch, um aus ihr zu lernen, gilt es sich zuerst der sich ständig ändernden Bedingungen bewusst zu werden.

In den Anfangsjahren der Weimarer Republik war die Vorstellung oder, wenn man so will, der Mythos von der Endkrise des Kapitalismus auch in der KPD weitverbreitet. Die Möglichkeit eines revolutionären Umsturzes schien vor 100 Jahren in greifbarer Nähe.

Damit ist die Situation derzeit (und wohl auch auf absehbare Zeit) mit der von 1923 nicht annähernd zu vergleichen. Damals gab es eine starke, bewusste Arbeiterbewegung mit KPD und SPD. Der Krieg und seine Folgen (Versailler Vertrag) führten zu einer galoppierenden Inflation. Massenverelendung herrschte in einem für heutige Verhältnisse in Deutschland nicht vorstellbaren Ausmaß.

Die Geschichte bietet also gewiss keine direkte Anweisung für unser heutiges Handeln. Insofern gibt es im engeren Sinne kein Aus-der-Geschichte-Lernen!

Trotzdem ist die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte sinnvoll und notwendig. Denn die Einschätzungen zu den Ereignissen im Oktober 1923 gehen in der Linken immer noch sehr weit auseinander, genauso wie bei einigen damit eng zusammenhängenden Fragen, wie etwa der Beurteilung der damaligen Politik der Kommunistischen Internationalen oder die einer „richtigen“ Einheitsfrontpolitik.

Von manchen wird immer noch von der „Verratenen Revolution“ gesprochen und unterstellt damit ein persönliches Versagen des KPD Vorsitzenden Heinrich Brandler bis hin zum Verrat an der Arbeiterklasse. Dabei werden die wirklichen Verhältnisse und Bedingungen gern außer Acht gelassen.

Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Aufarbeitungen und Analysen der damaligen Verhältnisse, die zu dem Schluss kommen, dass damals zu diesem Zeitpunkt keine revolutionäre Situation (mehr) gegeben war und ein Losschlagen in eine katastrophale Niederlage mit unzähligen Toten geführt hätte. Exemplarisch sei verwiesen auf die Ausführungen von Harald Jentzsch in der Zeitschrift „Z“ Nr. 116 vom Dezember 2018, Die KPD von 1919 bis 1924, Teil II: Der „Deutsche Oktober“ von 1923, S.181-195 sowie auf die Broschüre von August Thalheimer „1923: Eine verpaßte Revolution? Die deutsche Oktoberlegende und die wirkliche Geschichte von 1923“, die jetzt in korrigierter Form wieder neu aufgelegt wird.

Das ist für uns Anlass genug, dieses Thema nach 100 Jahren aus unserer Sicht wieder aufzugreifen. Dazu drucken wir einen Artikel aus der Arbeiterstimme ab, der sich mit der Einschätzung der damaligen Ereignisse und Abläufe befasst. Diese Darlegung, die aus dem Jahr 1974 datiert, hat selbst wiederum historische Qualität und sollte mit diesem Hintergrund gelesen und wertgeschätzt werden.

Redaktion, September 2023

 

 

Die Legende vom deutschen Oktober 1923

 

Wir aber meinen, daß die erste Voraussetzung für eine kommunistische Partei und Führung, die zu siegen versteht, die ist, daß sie allen Legendenwust forträumt und wirklich zu lernen beginnt. Solange dieses wirkliche Lernen aus der eigenen wirklichen Geschichte nicht begonnen hat, wird die Partei und mit ihr die Arbeiterklasse sich immer nur im Kreise drehen, statt fortzuschreiten, und immer neue und immer schwerere Niederlagen werden die Folge sein.

August Thalheimer

 

Noch immer, nach 50 Jahren, spukt die Legende vom „deutschen Oktober“ in den Köpfen, die Legende von der verpaßten oder verratenen Revolution von 1923. Dagegen wird die eigentliche Bedeutung der Zäsur des „deutschen Oktober“ verkannt: die Machtübernahme der Ultralinken in der deutschen Partei, die Liquidierung der bisherigen Erfolge der Kommunisten durch eine Politik, die schließlich in die größte Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung führte.

 

Vergleich der Situation: Rußland 1917 und Deutschland 1923

 

Ein Vergleich der objektiven Lage Rußlands 1917 und Deutschlands 1923 muß aufweisen, wie weit diese Situationen überhaupt vergleichbar waren. Hauptfaktoren, die die russische Oktoberrevolution begünstigten:

1. Kriegsfrage: Die große Masse der Bauern und Arbeiter war für den Frieden und wollte den imperialistischen Krieg beenden. Nur die Bolschewiki vertraten diese Position.

2. Landfrage: Die Bauern verjagten die Großgrundbesitzer und besetzten das Land. Nur die Bolschewiki sanktionierten diese Landnahme.

3. Bewußtseinsstand der Arbeiterklasse: Die Unterbrechung der Lebensmittelversorgung der Städte und die Schließung der Betriebe durch die Kapitalisten um die Macht der Arbeiterräte zu brechen, führte mit innerer Logik zur „Arbeiterkontrolle der Produktion“ und zur Enteignung der Kapitalisten. Auch diese Maßnahmen wurden allein von den Bolschewiki unterstützt. D.h. da die Mehrheit der Arbeiter und Bauern hinter den Bolschewiki stand, erhielten sie auch die militärische Hegemonie (allgemeine Wehrpflicht). Der eigentliche Umsturz des Oktober war somit leicht zu vollziehen.

 

Situation in Deutschland

 

Der sogenannte Ruhrkampf, die Besetzung des Ruhrgebiets durch die französische Armee und der passive Widerstand dagegen, wurde nicht durch die Arbeiterklasse gelöst, sondern von der Bourgeoisie abgebrochen. Vor allem England und die USA hatten ein Interesse daran, die deutsche Bourgeoisie zu unterstützen (England brauchte ein bürgerliches Deutschland als Gegengewicht zu Frankreich; die USA fürchteten vor allem um ihr in Deutschland investiertes Kapital).

Der Hauptkrisenfaktor des Jahres 1923, die Inflation, wurde von der Bourgeoisie selbst, durch die durchgeführte Stabilisierung der Valuta, liquidiert. Durch diese Zugeständnisse in der Frage der Inflation und des Ruhrkampfes wurde die deutsche Arbeiterklasse gespalten und es gelang der KPD nicht, die Mehrheit hinter sich zu bringen.

Auch die Frage der bewaffneten Kräfte stand anders: Die Reichswehr als Berufsarmee war fest in den Händen der Reaktionäre und Konterrevolutionäre.

Die Bauern waren nicht revolutionär. Sie hatten die Inflation benutzen können, ihre Hypothekenschulden loszuwerden, außerdem profitierten sie von der Preisschere, da die Preise für Industrieprodukte weit tiefer gesunken waren als die für landwirtschaftliche.

Es ergibt sich also, daß alle entscheidenden Faktoren die 1917 in Rußland zur Gewinnung der Massen führten, in Deutschland 1923 nicht gegeben waren.

 

Lage der Arbeiterklasse und der kommunistischen Bewegung

 

Im von Frankreich besetzten Gebiet lag die gesamte Schwerindustrie im Rahmen des passiven Widerstands still. Die Arbeiter streikten, aber mit Zustimmung der Kapitalisten, und sie bekamen die Streikzeit bezahlt. Im übrigen Deutschland hatte zwar die Inflation den Reallohn drastisch gesenkt, aber es gab fast keine Arbeitslosigkeit, da die Industrie durch den betriebenen Schleuderexport florierte.

Die KPD gab in dieser Situation Teilforderungen und Zwischenlosungen heraus wie: Abwälzung der Lasten des Ruhrkampfs auf die Bourgeoisie, Erfassung der Sachwerte, Kontrolle der Produktion, Bildung von Kontrollausschüssen für die Preise, die Losung der Arbeiterhundertschaften und als zusammenfassende Losung die der Arbeiterregierung, die, gestützt auf ihre eigenen Klassenorgane, die Arbeiterforderungen durchführen sollte. Durch Teillosungen, Übergangslosungen und Teilkämpfe wurde so die Machtfrage anvisiert, jede Abenteurerpolitik, wie die von den „Linken“ vorgeschlagene Besetzung der Betriebe im Ruhrgebiet unter französischen Bajonetten, aber abgelehnt.

Der Höhepunkt der Massenbewegung von 1923 war der Cuno-Streik. Wie wenig aber auch jetzt die Arbeiterklasse bereit war, unmittelbar um die Macht zu kämpfen, zeigt, daß einige Zugeständnisse genügten um den Streik zu beenden und die Bewegung abflauen zu lassen. Die Bildung der großen Koalition, d.h. der Eintritt der SPD in die bürgerliche Regierung, erweckte in der Arbeiterklasse neue Illusionen, die durch die unmittelbaren Maßnahmen, Heranschaffung von Lebensmitteln und Stabilisierung der Mark, gestützt wurden.

 

Der Aktionsplan der Komintern

 

Auf dem Juniplenum der Exekutive der Komintern war noch keine Rede vom „revolutionären Machtkampf“ in Deutschland. Erst durch die Kampagne der KPD zum Antifaschistentag vom 29. Juli und unter dem Eindruck des Cuno-Streiks setzte die Exekutive die Frage des bewaffneten Kampfes auf die Tagesordnung. Eine Konferenz wurde einberufen. Brandler und andere Genossen kamen bereits Ende August in Moskau an, doch man ließ sich Zeit, sieben Wochen arbeitete man an einem Aktionsplan für die deutsche Revolution, während die Ereignisse in Deutschland weitergingen. „Das Charakteristische an diesem Aktionsplan ist, daß man nicht aufgrund bereits bestehender Tatsachen in Deutschland diesen Aktionsplan entworfen hat, sondern daß man einen Aktionsplan auf Wochen und Monate hinaus entworfen hat aufgrund einer Spekulation über die Ereignisse, die in 4 -8 Wochen in Deutschland eintreten sollten oder würden. In Rußland hatte man 1917 einen Termin für den Aufstand festgelegt, nachdem eine Mehrheit für die Bolschewiki in Leningrad vorhanden war, als man der bewaffneten Kräfte dort bereits sicher war, als Karenski abgewirtschaftet hatte, als die Situation reif war. Der Aktionsplan für den Oktober 1923 war nicht gegründet auf solchen Tatsachen, sondern auf der Spekulation, daß die Ereignisse in Deutschland vom August ab denselben Gang gehen würden wie vom August bis Oktober in Rußland, d.h. daß inzwischen die Partei die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich bekommen würde, daß sie die Arbeiter inzwischen genügend bewaffnen könnte und daß der Gegner inzwischen machtlos und zersetzt würde. In Rußland hatte man auf Grund realer Voraussetzungen einen Plan für den Aufstand festgelegt, zwar nicht Wochen vorher, wie Trotzki sagt, aber Tage vorher. Für Deutschland aber setzte man das Monate vorher fest. Das ist das Entscheidende. Man übertrug das Schema des Oktober 1917 auf Deutschland, ohne daß die Tatsachen vorhanden waren – spekulativ!“ (Thalheimer, Hervorhebungen im Original, d. Red.)

Auch der Eintritt der Kommunisten in die sächsische sozialdemokratische Regierung kam gegen den Widerspruch Heinrich Brandlers zustande; trotz seiner Bedenken, daß in der Arbeiterklasse dafür noch gar nicht die Voraussetzungen vorhanden wären und diese erst zu schaffen seien. Auch die sächsische KPD war mit den Anweisungen des EKKI nicht einverstanden.

In Moskau wurde noch eine weitere wichtige Fehlentscheidung getroffen: man entschied, die Betriebsräte könnten an die Stelle der politischen Arbeiterräte treten.

So wurde Brandlers Konzeption, bei einer Steigerung der Massenbewegung in Deutschland vermittels eines Generalstreiks von der Intensivität des Streiks nach dem Kapp-Putsch die kommunistische Machtübernahmeeinzuleiten, durch die Dekretierung eines – vor allem von Trotzki vertretenen – revolutionären Fahrplans durchkreuzt, dessen Ablauf mit der telegraphischen Anweisung des EKKI an die KPD, Verhandlungen über den Eintritt in die mitteldeutschen Landesregierungen zu eröffnen, am 1. Oktober 1923 beginnen sollte.

 

Die Situation nach dem Cuno-Streik

 

Inzwischen hatte sich die Situation, auf der der Aktionsplan spekulativ aufgebaut war, vollständig geändert. Die Bourgeoisie selbst ergriff die Initiative, da ihr klar war, daß ohne Zugeständnisse an die Arbeiterklasse die Revolutionsgefahr wuchs.

In wenigen Wochen gelang es ihr, den Ruhrkampf zu beenden und zu einem Kompromiß mit den französischen Kapitalisten zu kommen. Genauso wichtig war die Beendigung der Inflation und die Einleitung der Stabilisierung durch Einführung der Goldrechnung. „Wenn die Bourgeoisie die Inflation nach August abgebaut hat, so nicht nur wegen der Revolutionsgefahr, die sie mit sich brachte, sondern weil auch die Wirkungen der Inflation von einem bestimmten Punkt ab in ihr Gegenteil umschlugen. Von einem bestimmten Punkt ab mußte die Inflation nicht mehr als Exportprämie wirken, sondern umgekehrt. Die Bourgeoisie hat die Inflationskonjunktur ganz kühl bis zu Ende ausgenützt. Sie ist bis zu dem Punkt gegangen, zu dem man überhaupt gehen konnte, und hat erst dann ganz Schluß gemacht, als die Inflationskonjunktur in die Inflationskrise umzuschlagen begann.“ (Thalheimer)

Der entscheidende Fehler in der Aktion der Partei liegt darin, daß sie gläubig auf den Aktionsplan, der entworfen worden war, starrte, daß sie es unterließ, die politischen Vorbereitungen für den Kampf um die Macht zu treffen, daß sie sich beschränkte auf eine technisch-organisatorische Vorbereitung. Trotzki hatte erklärt: ‚Die Politik macht der Gegner.‘ Er war der Ansicht, daß der Hauptmangel der Revolutionäre im Westen bisher der gewesen war, daß sie die Bewertung der technischen und organisatorischen Vorbereitung des Aufstandes nicht genügend eingeschätzt hätten. Die Politik hat allerdings der Gegner gemacht, und zwar sehr zweckentsprechend für sich, während eben der Grundfehler der Partei nach dem Cuno-Streik der war, daß sie keine Politik machte, daß sie die politische Vorbereitung durch Teilkämpfe und Teilaktionen unterließ und sich beschränkte auf technischorganisatorische Vorbereitungen.“ (Thalheimer)

Auf Beschluß der Exekutive erfolgte am 12. Oktober der Eintritt der Kommunisten in die sächsische und kurz darauf in die thüringische Regierung. Die Partei sollte den Regierungsapparat zur Bewaffnung der Arbeiter ausnutzen. Doch die Reichswehr „ignorierte“ diese Tatsache natürlich nicht. Als Böttcher zur Bewaffnung der Arbeiterhundertschaften aufforderte, ließ General Müller mit Zustimmung Eberts die Reichswehr einmarschieren. Es zeigte sich also, daß Brandlers Widerstand in Moskau berechtigt war. „Nur unter einer Voraussetzung hätte man eine Regierung bilden können, daß man imstande war, so zu handeln, wie man als Kommunist und Revolutionär handeln muß, um den Widerstand der Bourgeoisie zurückzuschlagen. Das kann man aber nur gestützt auf Zustimmung der Mehrheit der Arbeiter zur Diktatur, auf die bewaffneten Arbeiter, auf einen bereits siegreichen Aufstand.“ (Thalheimer)

Am 20. Oktober beschloß die Zentrale einstimmig, daß auf Grund des Einmarsches der Reichswehr der Generalstreik, der den bewaffneten Kampf einschloß, ausgerufen werden sollte. Doch dann entschied man, daß man noch den Verlauf der Chemnitzer Konferenz vom 21. Oktober, in der Betriebsrats- und andere Arbeitervertreter wirtschaftliche Fragen beraten sollten, abwarten solle, um die wirkliche Stimmung kennen zu lernen. „Auf dieser Konferenz stellte der Genosse Brandler in Übereinstimmung mit der Zentrale die Forderung, die Konferenz solle die Losung des Generalstreiks als Kampflosung gegen den Einmarsch der Reichswehr herausgeben. Wäre dort eine wirkliche revolutionäre Stimmung gewesen, die bereit war zum Machtkampf, dann war klar, daß die Versammlung diese Losung begeistert aufnehmen mußte und dass aus dem Generalstreik der bewaffnete Kampf um die Macht sich hätte entwickeln müssen. Die Wirkung aber war ganz anders. Brandlers Vorschlag fiel in der Versammlung glatt zu Boden. Die Versammlung nahm den Antrag eisig auf. Dann passierte folgendes: Der linke SPD-Minister Graupe trat auf und erklärte, falls die Kommunisten nicht darauf verzichteten, die Frage des Generalstreiks in dieser Versammlung zu stellen, dann würde er mit seinen sieben Leuten die Versammlung verlassen. In einer wirklich revolutionären, kampfentschlossenen Versammlung hätte ein Sturm der Empörung die Flaumacher weggefegt. Aber das gegenteil geschah. Die Versammlung beschloß daraufhin, auf den unmittelbaren Aufruf zum Generalstreik zu verzichten und statt dessen eine kleine Kommission zu ernennen, die darüber befinden sollte. Es war dies ein Begräbnis dritter Klasse.“ (Thalheimer)

Das hieß, die Arbeiterklasse war gespalten und die Mehrheit stand zwar in einigen Orten, aber nicht in ganz Sachsen und im ganzen Reich hinter den Kommunisten. So beschloß die Zentrale einstimmig, d.h. auch mit den Stimmen der „Linken“ und der Kominternvertreter Radek und Pjatakow den Rückzug. „Wäre dieser Beschluß nicht gefaßt worden, hätte die Partei es auf den Zusammenstoß mit dem überlegenen Gegner ankommen lassen, so wäre von ihr nur noch ein nasser Fleck übriggeblieben. ... Man könnte einwenden, es habe schon mehr Situationen gegeben, wo die Partei mit der Arbeiterschaft gekämpft hat, auch mit der Aussicht auf eine Niederlage. Gewiß, wir haben im Januar 1919 gekämpft, auch mit der Aussicht auf eine Niederlage. Wir haben auch in München gekämpft, wo jeder wußte, daß es sich nicht um die Erringung des Sieges handelte. Der Unterschied besteht darin,: In dem einen Falle war es die große Masse der Arbeiterschaft, die kämpfte, und die Partei durfte in einer solchen Situation die Arbeiterschaft nicht im Stich lassen. Anders ist es, wenn der Kampf sich beschränkt auf die Partei, durch ihre falsche Taktik, durch ihre falsche Einschätzung der Lage. Das würde die Partei nicht fördern in den Augen der Massen, sondern diskreditieren.“ (Thalheimer)

 

Die Oktoberlegende und ihre Folgen

 

Auch Sinowjew, der Kominternvorsitzende, hatte der Oktober-Taktik der KPD zugestimmt. Doch im Dezember nannte er ihre Politik eine „banale parlamentarische Kombination“. Ursache der Wendung waren die Fraktionskämpfe im Politbüro der KPdSU, die ihre Gründe nicht in machtpolitischen Streitereien, sondern in der schwierigen Lage der Sowjetunion (Auswirkungen des Bürgerkrieges, imperialistische Einkreisung) hatten. Trotzki gegen Sinowjew, Kamenew und Stalin. Trotzki – durch seine Anhänger Radek und Pjatakow – wie auch Sinowjew – unter dessen Vorsitz das EKKI die sächsische Politik beschlossen hatte – erschienen durch den negativen Ausgang des Oktober-Abenteuers belastet. So versuchte Sinowjew die Schuld an der Oktoberniederlage auf die Brandler-Thalheimer-Zentrale abzuwälzen. Unter dem Eindruck einer Rede Radeks, wo dieser erklärte, wenn sich die Mehrheit des Politbüros gegen Trotzki erkläre, stelle sich die Zentrale der KPD hinter ihn, wandte sich Sinowjew endgültig gegen die „Rechte“ in Deutschland und die von ihr und Radek vertretene Auffassung. Das Kräfteverhältnis hat sich objektiv verschoben; der Aufstand hätte zur vollständigen Niederlage der Partei geführt. Am 27. Dezember wurde Radeks Auffassung durch das Politbüro verurteilt.

August Thalheimer schreibt: „Es war einfach die Folge eines Manövers im innerrussischen Fraktionskampf. Von dieser Rede Radeks erfuhren wir erst sehr viel später. Die Kampagne, das Trommelfeuer, waren in vollem Gange, Maslow usw. waren längst losgelassen, als wir – zur Zeit des 5. Kongresses – in Moskau von der eigentlichen Ursache dieser Wendung erfuhren. Das Eigentümliche dabei ist, daß diese Behauptung von Radek frei erfunden war.“

Die Exekutive der Komintern verhalf den Ultralinken Ruth Fischer und Maslow, zusammen mit Thälmann, Remmele und Neumann zur Führung der Partei. Der ultralinke Kurs erlebte seine erste Steigerung.

Die Oktoberlegende erreichte jetzt ihren Höhepunkt. In einer Resolution des Bezirksparteitages der KPD von Rheinland-Westfalen, unter der Ägide von Ruth Fischer, hieß es: „Die Konferenz erklärt, daß im Oktober vorigen Jahres der revolutionäre Entscheidungskampf historisch notwendig war. Weder das Ausweichen vor dem Kampf, noch das Ersetzen des Endkampfes durch sogenannte Rückzugsgefechte, Teilaktionen oder ähnliches war zulässig.“

Trotzki schrieb in seiner Broschüre „Die Lehren des Oktober“: „Noch interessanter ist die Frage der Niederlage des deutschen Proletariats im Oktober vorigen Jahres. Wir hatten dort in der zweiten Hälfte des vorigen Jahres eine klassische Demonstration der Tatsache gesehen, daß eine ganz außerordentlich günstige revolutionäre Situation von welthistorischer Bedeutung verpaßt werden kann.“

Wir haben anfangs von einer Zäsur in der Entwicklung der deutschen kommunistischen Bewegung gesprochen. Diese tritt einmal in dem massiven Eingriff der von der KPdSU dominierten Komintern in die deutsche Partei, der sich von jetzt ab häufen sollte, andererseits in der Durchsetzung der ultralinken Linie, die schließlich in die Niederlage führen sollte, in Erscheinung.

Die Ultralinke erklärte die Einheitsfronttaktik für falsch und opportunistisch. Auch die Eroberung der Gewerkschaften wurde aufgegeben, Maslow gab die Parole der „Vernichtung der Gewerkschaften“ heraus. Die „Bolschewisierung“ der Partei wurde eingeleitet. Als unmittelbare Aufgabe wurde erklärt „die Revolution zu organisieren, das Proletariat in dem bewaffneten Aufstand siegreich zu führen und die Diktatur des Proletariats zu errichten.“ Maslow schrieb: „Die Situation ist nach wie vor objektiv revolutionär.“

So wurde innerhalb eines Jahres der große Einfluß der KPD vertan und die Partei isoliert. Hinter diesen Gegensätzen zur Politik der alten Zentrale stand eine prinzipiell unterschiedliche Einschätzung der Rolle der Kommunistischen Partei. Während die alte Zentrale im Sinne Rosa Luxemburgs und des marxistischen Kerns des Spartakusbundes die Partei als Instrument der Arbeiterklasse zur Durchführung der Revolution begriff, dominierte bei der „Linken“ die Auffassung, die Partei müsse nicht Vorhut, „sondern Motor des Proletariats“ sein, sie müsse die Revolution machen.

(Alle Zitate von August Thalheimer sind entnommen der Broschüre 1923: Eine verpaßte Revolution?, die 1931 im Juniusverlag Berlin erschien).