Eine Halbzeitbilanz der Wahlperiode
Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA waren im Januar dieses Jahres 76 %, also etwas mehr als drei Viertel aller Befragten, mit der Ampelkoalition bzw. ihrer Politik unzufrieden (welt.de vom 17.01.2024). Damit wurden die Leistungen der Bundesregierung nach etwas mehr als der Hälfte der Legislaturperiode denkbar schlecht bewertet. Die Unzufriedenheit ist allenthalben zu spüren. Sie wurde durch die Demonstrationen der Bauern deutlich sichtbar. Aber sie betrifft bei weitem nicht nur die Bauern. Bezeichnenderweise schneidet die Koalition bzw. die sie bildenden Parteien schon seit Monaten in der sogenannten Sonntagsfrage wesentlich schlechter ab als bei der Bundestagswahl vor zwei Jahren. Etliche damalige Wähler sind offensichtlich von der Politik der Ampel enttäuscht und erklären sich in den Umfragen für andere Parteien. Der Hauptprofiteur war bisher die AfD. Sie erreichte bundesweit Zustimmungsraten von bis zu 23 %.
Die Wählerbasis
Bei der Suche nach einer Erklärung ist es sinnvoll, zuerst einmal das Wahlergebnis von 2021 im Lichte der längerfristigen Entwicklung des Wählerzuspruchs zu den einzelnen Parteien zu betrachten. Deshalb zur Erinnerung einige Zahlen:
Union |
SPD |
Grüne |
FDP |
Linke |
AfD |
Sonstige |
Bundestagswahl 2017 |
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32,9% |
20,5% |
8,9% |
10,7% |
9,2% |
12,6% |
5,0% |
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Sonntagsfrage 11.10. 2019, Halbzeit der Legislaturperiode 2017 bis 2021 |
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28% |
13% |
24% |
7% |
8% |
14% |
6% |
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Sonntagsfrage 16.10 2020, ein Jahr vor der Bundestagswahl |
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35% |
15% |
20% |
6% |
7% |
11% |
6% |
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Bundestagswahl 2021 |
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24,1% |
25,7% |
14,8% |
11,5% |
4,9% |
10,3% |
8,7% |
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Sonntagsfrage 13.10.2023, Halbzeit der aktuellen Legislaturperiode |
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29% |
15% |
13% |
5% |
4% |
23% |
11% |
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Sonntagsfrage 01.02.2024 |
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30% |
16% |
14% |
4% |
3% |
19% |
14% |
Quelle für die Sonntagsfragen: Statista https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1227103/umfrage/ergebnisse-der-sonntagsfrage-lange-zeitreihe/
Aus den Zahlen ist zu erkennen, die CDU/CSU hat bei den letzten Wahlen, im Vergleich zu ihren Werten vorher und auch nachher, ein ausgesprochen schlechtes Ergebnis erzielt. Profitiert vom Einbruch der Union haben die FDP und die SPD mit ihrem Kandidaten Olaf Scholz. Als wahrscheinlicher Hauptgrund für das schlechte Abschneiden der Union ist anzunehmen, dass ihr Kanzlerkandidat Armin Laschet bei den Wählern nicht punkten konnte. Die Wahlentscheidung etlicher Wähler erfolgte damit, so muss man annehmen, aufgrund oberflächlicher Eindrücke von der Person des Spitzenkandidaten. Eine grundsätzliche Abwendung vom konservativen Politikangebot der CDU/CSU dürfte dagegen kaum damit verbunden gewesen sein. Genauso darf das vergleichsweise gute Ergebnis für die SPD nicht als eine stabile Wählerbasis in dieser Größe gedeutet werden. Die 25,7 % sind in gewisser Weise eine Momentaufnahme und bedeuten nicht, dass alle diese Wähler für eine konsequente Unterstützung der sozialdemokratischen Politik stehen.
Generell ist schon seit längerer Zeit der Trend einer abnehmenden Bindung der Wähler an bestimmte Parteien zu erkennen. Ein erheblicher Anteil der Wähler (es könnten bis zu 15% sein) gibt seine Stimme von Wahl zu Wahl unterschiedlichen Parteien. Die Folgen sind viel größere Schwankungen bei den Wahlergebnissen als in früheren Zeiten. Die Gruppe der Wechselwähler, wenn man sie so bezeichnen will, ist natürlich nicht einheitlich. Manche sind vermutlich wirklich frei flottierend zwischen (fast) allen Parteien, manche wechseln nur zwischen bestimmten Parteien wie etwa zwischen der CDU und der FDP oder zwischen der SPD und den Grünen. Auch Motive und Art der Entscheidungsfindung können sehr unterschiedlich sein. Vom bewussten taktischen Wählen, etwa um eine Partei über die 5% Hürde zu hieven und damit eine bestimmte Koalition zu ermöglichen, bis hin zu fast apolitischen Kriterien wie momentanen Stimmungen oder Sympathie bzw. Antipathie für einzelne Personen kommt vermutlich alles vor. Häufig dürften aber kurzfristige Einschätzungen und eher oberflächliche Kriterien im Vordergrund stehen, gründliche politische Analysen dagegen seltener sein. Kurzfristige und auf Stimmungen beruhende Einschätzungen können sich naturgemäß relativ schnell wieder ändern. Deswegen ist für die jeweiligen Wahlsieger der gestiegene Zuspruch keine sichere Sache. Bei der nächsten Wahl oder auch nur bei der nächsten Umfrage kann alles schon wieder zerronnen sein. Eine klare parlamentarische Mehrheit für ein Parteienbündnis bei Wahlen bedeutet deshalb nicht zwingend eine stabile Unterstützung in der Bevölkerung für die Politik dieser Koalition in den folgenden Jahren. Das kann sogar dann der Fall sein, wenn sich die Politik im wesentlichen in den Bahnen des vorher Angekündigten bewegt.
Die grundlegenden Rahmenbedingungen
Die Politik einer jeglichen Regierung kann nur innerhalb des von den gesellschaftlichen Verhältnissen vorgegebenen Rahmens erfolgen. Es stellt sich also die Frage nach dem Zustand des Kapitalismus oder, genauer, dem eines hochentwickelten kapitalistischen Landes wie der Bundesrepublik. Um es ganz kurz zusammenzufassen, die Lage war und ist nicht ausgesprochen schlecht. Aber sie ist kompliziert, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Die gegenwärtige Situation ist gekennzeichnet von mehreren Problemen und Krisen, die sich zum Teil schon seit Jahrzehnten hinziehen, ohne einer grundsätzlichen Lösung zugeführt werden zu können. Manche Autoren sprechen von einer multiplen Krise, mit der sich die kapitalistischen Länder in der Gegenwart auseinandersetzen müssen. Drei wichtige Teilbereiche dieser multiplen Krise sollen kurz umrissen werden.
Einmal ist die im Vergleich zu den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts nur noch schleppende Kapitalakkumulation zu nennen. In den offiziellen Statistiken wird das in der geringen jährlichen Steigerung des BIP sichtbar. Die Wachstumsschwäche ist bereits seit Ende der 70er Jahre zu beobachten. Ein Auf und Ab der Konjunktur, Aufschwünge und Rezessionen gibt es zwar weiterhin, aber auch während der Aufschwünge erreicht das Wirtschaftswachstum nur vergleichsweise niedrige Werte. Die Wachstumsschwäche ist insbesondere in den kapitalistischen Zentren zu beobachten. Weder keynesianische Rezepte noch diverse neoliberale „Reformen“ konnten die Wachstumsschwäche bisher grundsätzlich beheben. Für den Kapitalismus ist aber die Kapitalakkumulation zentral, ein Stocken derselben bedeutet Stagnation und Krise. Deshalb sieht sich jede Regierung grundsätzlich aufgefordert, für ein kräftiges Wirtschaftswachstum zu sorgen und dabei alle Hemmnisse, echte oder vermeintliche, aus dem Weg zu räumen.
Weiter zu nennen wäre die ökologische Krise und insbesondere die Klimakrise. Die Folgen des Raubbaus an der Natur, die im Kapitalismus als kostenlose Ressource betrachtet wird, werden immer offensichtlicher. Sei es nun durch die Zerstörung natürlicher Lebensräume, die Verschmutzung von Gewässern, das Artensterben, die weltweite Vermüllung mit Plastikabfällen und ähnliches mehr. Am dringlichsten ist zur Zeit die voranschreitende Erderwärmung, verursacht durch die seit der Industrialisierung in immer größeren Mengen freigesetzten Treibhausgase, vor allem dem Kohlendioxid (CO2). Die Prognosen der Klimaforschung besagen, dass die Erderwärmung, wenn sie nicht in absehbarer Zeit gestoppt wird, sehr gravierende Folgen haben wird. So gravierend, dass damit die Stabilität der kapitalistischen Gesellschaften gefährdet wird, auch die der reichen und hegemonialen im globalen Norden. Es läge damit durchaus im kapitalistischen Eigeninteresse, etwas dagegen zu unternehmen. Das wird ja auch versucht, wenn man auf das Pariser Abkommen, die Weltklimakonferenzen (COP), das Proklamieren von Klimazielen (CO2 - Ausstoß netto null bis zu einem festgelegten Stichjahr) und ähnliche Aktivitäten blickt. Aber die Praxis der Umsetzung gestaltet sich zäh und schwierig. Denn unter kapitalistischen Bedingungen gilt es einerseits die Klimatransformation anzustreben, aber andererseits auch, mit mindestens gleich hoher Priorität, eine reibungslos prosperierende kapitalistische Wirtschaft zu fördern. Bei der Verfolgung dieser zwei Ziele verwickeln sich die Regierungen ständig in Widersprüche. Bedeuten doch, zumindest beim heutigen Stand der Technik, Maßnahmen zur Reduzierung des CO2 -Ausstoßes häufig höhere Kosten als ein Wirtschaften ohne Reduzierung. Das Ziel Klimaneutralität kann deshalb als Wachstumsbremse wahrgenommen und entsprechend bekämpft werden.
Als dritte und vergleichsweise neue Problemlage, von der aber Deutschland im besonderen Ausmaß betroffen ist, sind die wirtschaftlichen und geopolitischen Verschiebungen zu nennen, die der Aufstieg Chinas mit sich bringt und noch bringen wird (siehe dazu ARSTI Nr. 221 „China, Feind und Partner im Wettbewerb. Alles klar?“ und Nr. 219 „Zeitenwende auch für die Wirtschaft“). Das bedeutet einmal eine verstärkte Konkurrenz durch chinesische Produkte am Weltmarkt, z.B. bei Elektroautos, aber nicht nur dort. Noch brisanter ist, dass wegen der zunehmenden Konfrontation der Blöcke immer stärker Forderungen laut werden, die eine wie auch immer im einzelnen umzusetzende Abkoppelung (bzw. De-Risking) von China verlangen. Da viele Firmen und Großkonzerne stark in China engagiert sind, könnte ein De-Risking schnell ein gesamtwirtschaftliches Problem werden.
Soweit eine grobe Skizze der Rahmenbedingungen. Es könnten noch andere Krisenerscheinungen genannt werden, z.B die Corona-Pandemie oder die Inflation. Deren Folgen bzw. Ursachen stehen aber oft im Zusammenhang mit den drei oben genannten Punkten.
Der ursprüngliche Anspruch der Ampelkoalition
Vor den Hintergrund dieser nicht einfachen Konstellationen bildeten SPD, Grüne und FDP Ende 2021 die Regierung und erhoben den Anspruch, eine Zukunftskoalition zu sein. Ein Begriff wie Zukunftskoalition ist natürlich immer zuerst einmal Werbespruch und Propaganda. Wenn manche, seien es Wähler oder Kommentatoren in den Medien, von der Ampel vielleicht doch wichtige Weichenstellungen für die Zukunft erhofften, liegt es vermutlich daran, dass dieser Koalition mehr als anderen möglichen Konstellationen zugetraut wurde, auf dem Gebiet der Klimapolitik wesentliche Fortschritte erzielen zu können. Denn bei der Klimapolitik handelt es sich um ein, besser: das Kernanliegen der Grünen. SPD und FDP unterstützen ebenfalls dieses Ziel (zumindest verbal nach außen). Wäre man auf diesem Feld erfolgreich, hätte man zumindest in einem wichtigen Teilbereich die Gesellschaft vorangebracht. Mit der Beteiligung der SPD haben vielleicht manche gehofft, dass dieses und andere Themen ohne allzu große soziale Schieflage angepackt werden können.
Der Ukraine-Krieg bzw. die politische Reaktion darauf verändert vieles
Die Koalitionsverhandlungen waren schwierig und dauerten relativ lange. Die Vereidigung des Bundeskanzler erfolgte am 8.12.2021. Somit war die Ampelkoalition erst knappe drei Monate im Amt, bis durch den Angriff Russlands auf die Ukraine wichtige Teile ihrer Geschäftsgrundlage zusammenbrachen.
In diesem Artikel geht es nicht um eine Einschätzung des Ukraine-Krieges, auch nicht um die Analyse der darauf folgenden „Zeitenwende“ bei der Rüstungspolitik. Aber es muss klar sein und wird deshalb extra betont: Die unten genannten Folgen des Krieges sind keineswegs automatisch eintretende Folgen, sie sind ebenso Folgen von politischen Entscheidungen der Bundesregierung (und der anderen Regierungen des „Westens“). Das heißt, man will in Zukunft mehr Geld (mindestens 2% des BIP) für Rüstung ausgeben und Deutschland damit wieder kriegsfähig machen. Man will die Ukraine militärisch und wirtschaftlich unterstützen. Alles Ziele, die erhebliche finanzielle Mittel binden. Man will möglichst kein Gas und auch kein Erdöl mehr aus Russland importieren. Die verhängten wirtschaftlichen Sanktionen sollen Russland schaden, damit nimmt man bewusst in Kauf, gleichzeitig auch deutschen Exporteuren zu schaden.
Alle diese fundamentalen Entscheidungen wurden in einer Art ganz großer Koalition getroffen. Auch die CDU/CSU trägt diese Politik im Prinzip mit und ermöglichte durch ihre Zustimmung die Grundgesetzänderung zur Bereitstellung des 100 Milliarden-Sondervermögens für die Bundeswehr. Sie fordert sogar ein noch härteres Vorgehen, also mehr Waffen an die Ukraine, mehr Geld für die Bundeswehr etc..
Die neue Militärpolitik wird (noch) zum großen Teil von der Bevölkerung mitgetragen. Die Medien unterstützen den Kurs weitgehend, viele propagieren ihn aktiv und fordern, ähnlich wie die Unionsparteien, noch weitergehende Maßnahmen.
Es gibt zwar durchaus Kräfte in der Gesellschaft, die diese Politik ablehnen oder ihr zumindest sehr skeptisch gegenüberstehen. Aber bisher konnten diese Kräfte noch keine größere politische Wirksamkeit entfalten, vielleicht auch deswegen, weil sie politisch sehr heterogen sind und sich mit ihren politischen Forderungen und den Begründungen dafür erheblich unterscheiden. Die aktuellen Akzeptanzprobleme der Koalition erklären sich deshalb weniger aus den oben genannten politischen Entscheidungen als solchen. Das Problem der Regierung sind vielmehr die direkten und indirekten Folgen dieser Entscheidungen. Denn diese erschweren und verkomplizieren das Handeln der Regierung in allen Politikbereichen.
Denn erstens bedeutet die „Zeitenwende“ eine massive Einengung des finanziellen Spielraum des Staates. Das setzt alle Vorhaben außerhalb von Krieg und Rüstung einem noch weiter verstärkten Sparzwang aus.
Zweitens war es für die Strategie der Energiewende zentral, preisgünstiges Pipelinegas aus Russland als Brückentechnologie zu verwenden. Diese Strategie ist jetzt obsolet. Das russische Gas muss durch Flüssiggas (LNG) ersetzt werden, das viel mehr kostet und obendrein durch eine schlechtere ökologischen Bilanz gekennzeichnet ist. Von den Kosten für die im Eilverfahren gebauten Terminals zum Anlanden des LNG ganz zu schweigen. Zum großen Teil handelt es sich beim importierten LNG um durch Fracking gewonnenes Gas aus den USA. Auch Kraftwerke, die Braun- und Steinkohle verfeuern, was sehr viel CO2 freisetzt, dürften signifikant häufiger und länger laufen als ursprünglich geplant. Das bedeutet einen Rückschritt in der Klimapolitik, bei der Energieversorgung wird wieder mehr CO2 freigesetzt. Außerdem steigen die Kosten erheblich und das vermutlich dauerhaft. Auch wenn die Preisspitzen für Energieträger, wie sie im Sommer/Herbst 2022 auftraten, nur vorübergehend waren, die Preise sind nicht auf das Niveau von vor dem Ukrainekrieg zurückgegangen und werden das vermutlich auch längerfristig nicht tun. Das bedeutet erhebliche finanzielle Belastungen für die privaten Haushalte (Heizen und Strom) wie auch für Industrie und Gewerbe. Insbesondere energieintensive Branchen, etwa die Chemie, sind davon betroffen und verzeichnen dementsprechend Produktionseinbrüche.
Die Preiserhöhungen bei den Energieträgern waren ein Antreiber der Inflation neben weiteren Veränderungen in der Weltwirtschaft (siehe ARSTI. Nr. 218 „Die Rückkehr der Inflation“), die 2022 einen erheblichen Inflationsanstieg bewirkten. Die Folge davon waren Kaufkraftverluste bei weiten Teilen der Bevölkerung. Um die Inflation zu bekämpfen, erhöhte die EZB die Leitzinsen in mehreren Schritten. Die Zinserhöhungen blieben natürlich nicht ohne Auswirkungen. Ganz allgemein werden durch hohe Zinsen die Investitionen ausgebremst. Am schnellsten zeigte sich das bei der Bauwirtschaft. Viele Neubauvorhaben wurden wegen Finanzierungsproblemen auf Eis gelegt. Das Bauvolumen ging stark zurück, insbesondere beim Wohnungsbau. Kleinere und größere Immobiliengesellschaften (Signa) mussten Insolvenz anmelden.
Alles zusammen bewirkte das eine deutliche Abschwächung der Konjunktur. Im vierten Quartal 2023 gab es einen Rückgang des BIP um 0,3 %. Die Prognose für 2024 wurde im Februar von der Bundesregierung herabgesetzt. Es wird jetzt ein Zuwachs des BIP von 0,2 % erwartet. Ein geringeres Wirtschaftswachstum reduziert die zu erwartenden Steuereinnahmen. Der finanzielle Spielraum des Staates wird dadurch weiter eingeschränkt.
Es ist also nicht übertrieben festzustellen, in kurzer Zeit hat sich die wirtschaftliche und finanzielle Basis für die Politik der Koalition erheblich geändert. Die Verschlechterung der Rahmenbedingungen musste unvermeidlich die Widersprüche in der Koalition verstärken. Der Verteilungskampf um die begrenzten Mittel bricht bei jeder Gelegenheit wieder aus und wird immer härter ausgetragen. Es ist die Aufgabe eines Koalitionsvertrags, noch vor der eigentlichen Regierungstätigkeit die Kompromisslinien auszuhandeln. Offensichtlich ist das nicht ausreichend genug geschehen, um bei einer Zuspitzung der Lage das Ausbrechen von Konfrontationen zu verhindern. Auch vermeintlich schon längst abgehakte Themen wie die Laufzeit der Atomkraftwerke wurden wieder hervorgeholt.
Die Koalition scheint mit den neuen Bedingungen überfordert
Besonders die drohende Energieverknappung und die damit verbundenen großen Preissteigerungen haben in der Koalition hektische Aktivitäten ausgelöst. Diese wirkten zum Teil konfus. Als Beispiele seinen genannt die verschiedenen Modelle der Gas- und Strompreisbremsen, die vorgeschlagen, aber auch schnell wieder verworfen wurden, die Debatte über einen vergünstigten Industriestrom, die Diskussion über eine kurze oder lange Verlängerung der Laufzeit der Atomkraftwerke und manches mehr. Es entstand der Eindruck, die Regierung hat keinen Plan. Ihre verschiedenen Teile handeln nicht miteinander, sondern gegeneinander. Wurden dann neue Gesetzesinitiativen lanciert, waren diese oft von handwerklichen Fehlern geprägt.
Besonders verheerend wirkten die Vorgange um das sogenannte Heizungsgesetz (offiziell Gebäudeenergiegesetz). Sicher, diese Debatte begann mit dem Durchstich einer unvollständigen und nicht abgestimmten Version des Gesetzes an die Presse. Der Durchstich erfolgte anscheinend in der Absicht, damit der Koalition oder dem Wirtschaftsminister zu schaden. Trotzdem war das Folgende geradezu ein Lehrstück dafür, wie man etwas nicht machen soll, wenn man erfolgreich sein will. Zu den großen Schwachpunkten des Entwurfs gehörten unklare Fristen und Übergangsbestimmungen. Dieser Mangel galt auch in Hinsicht auf bei der Umsetzung zu erwartende Lieferzeiten und der begrenzten Kapazität der zur Installation notwendigen Handwerker. Die Unklarheiten wurden dann aber nicht in akzeptabler Zeit präzisiert und klargestellt, sondern es folgte ein heftiger Streit in der Koalition über diese Punkte. Es fehlte ein Konzept zur sozialen Absicherung und die Vermeidung von finanziellen Härten. Das ganze Vorhaben war auch kommunikativ schlecht vorbereitet. Nur wenige Menschen waren im Vorfeld gut über Ziel und Zweck der angestrebten Veränderungen informiert. Für die meisten waren zentrale Sachverhalte, wie etwa die Vorteile und Grenzen von Wärmepumpen, ziemlich neu. Erfahrungen aus anderen Ländern waren kaum bekannt. Für viele war es nicht klar, was die geplanten Maßnahmen wirklich für sie persönlich bedeuteten würden. Deshalb konnten alle möglichen Befürchtungen und Ängste breiten Raum gewinnen. Letztendlich erreichte das Heizungsgesetz den Status der ultimativen Zumutung, den Status eines „Heizungswahnsinns“ oder „Heizungshammers“, wie die Bildzeitung schrieb.
Das Urteil des Bundesverfassungsgericht, eine weitere Verschärfung der Rahmenbedingungen
Dann erfolgte am 15. November 2023 der nächste Schlag. Das Bundesverfassungsgericht erklärte in seinem Urteil das Vorgehen der Bundesregierung in Hinsicht auf die Schuldenbremse für nichtig. Gelder, die im Rahmen einer Ausnahme der Schuldenbremse bewilligt worden sind (im konkreten Fall zur Wirtschaftsförderung im Zuge der Corona-Pandemie), aber für den ursprünglichen Zweck nicht benötigt wurden, dürfen in keinem Fall für andere Zwecke ausgegeben werden. Genauso sei es unzulässig, in Ausnahmejahren bewilligte Gelder über mehrere Jahre zu strecken. Damit waren die Haushaltsmittel, die aus den Corona-Jahren stammten und die die Koalition zur Förderung der Energietransformation und der Wirtschaft ganz allgemein verwenden wollte, blockiert. Es handelte sich immerhin um ein Gesamtvolumen von 60 Milliarden Euro, das nicht mehr zur Verfügung stand. Davon mussten ca. 17 Milliarden auf die Schnelle für den zum Zeitpunkt des Urteils kurz vor der endgültigen Verabschiedung stehenden Bundeshaushalt 2024 eingespart werden. Und wieder schoss die Regierung bei den folgenden Sparbemühungen ein Eigentor.
Sie handelte, als ginge es nur um interne Koalitionsabsprachen, bei der jede Partei auch mal eine Kröte schlucken muss und es vor allem wichtig ist, dass die Kröten einigermaßen gleichmäßig verteilt werden. Dass es auch so etwas wie Betroffene gibt, die durch Regierungsbeschlüsse ziemlich plötzlich mit einer neuen Situation konfrontiert werden, das hatte die Koalition anscheinend vergessen. Es ist nicht verwunderlich, dass ein solches Vorgehen die Verärgerung weiter steigert und geradezu bilderbuchmäßig die Motivation für Protestaktionen liefert. Was mit den Demonstrationen der Bauern dann auch tatsächlich geschehen ist.
Einiges funktioniert auch, zumindest zum Teil
Noch relativ problem- und geräuschlos konnte die Koalition ein wichtige Wahlversprechen der SPD umsetzen, nämlich die Anhebung des Mindestlohns von 9,60 € auf 12,00 € pro Stunde. Diese trat zum 1. Oktober 2022 in Kraft und erfolgte per Gesetz außerhalb der routinemäßigen Anpassungen durch die Beschlüsse der Mindestlohnkommission.
Außerdem konnte die SPD ein zweites Anliegen verwirklichen. Ab dem 1. Januar 2023 wurde das sogenannte Arbeitslosengeld II, besser bekannt als Hartz IV, zum Bürgergeld umbenannt. Damit verbunden war eine Reform verschiedener Bestimmungen (Anrechnung von Besitz, Weiterqualifizierungsmöglichkeiten) und auch ein Anstieg der Regelsätze. Insgesamt war das zwar kein entscheidender sozialer Durchbruch, aber immerhin. 2024 gab es einen weiteren Anstieg der Regelsätze um stattliche 12% auf 563 € (für Alleinstehende) pro Monat.
Ein drittes größeres und im Koalitionsvertrag angekündigtes soziales Vorhaben ist aber vorerst gescheitert, nämlich die Einführung einer Kindergrundsicherung, die diese Bezeichnung auch verdient. Gescheitert vor allem am Einspruch des Finanzministers, der dafür nur 2,4 Milliarden € bereitstellen will. Wie weit auch das ungeschickte Agieren der grünen Familienministerin Lisa Paus dazu beigetragen hat, sei dahingestellt. Völlig klar ist aber, dass man ohne ausreichende Finanzmittel keine wirkliche Absicherung der Kinder vor Armut und ihren Folgen erreichen kann. Nach dem jetzigen Stand, es liegt erst ein Entwurf vor und es ist noch nichts wirklich entschieden, ist der Beginn auf den 1. Januar 2025 verschoben.
Bei anderen Problemen geht es nicht voran
Ein sich zunehmend verschärfendes Problem ist die Wohnungsfrage in den Ballungszentren. Dort gibt es einen eklatanten Mangel an günstigem und bezahlbarem Wohnraum. Immer mehr Menschen müssen sehr hohe Anteile ihres Einkommens für die Miete aufwenden. Und die Mieten zeigen weiter steigende Tendenz, trotz des momentan zu beobachtenden Rückgangs bei den Kaufpreisen für Immobilien. Laut Koalitionsvertrag sollten jährlich 400 000 Wohnungen neu gebaut werden. Dieses Ziel wurde in den zwei bisherigen Jahren eindeutig verfehlt (2022 wurden 295 300 Wohnungen fertiggestellt, für 2023 werden 245 000 Fertigstellungen geschätzt, für 2024 210 000). Es dürfte keine Chance bestehen, in der verbleibenden Zeit bis zur nächsten Wahl die Zielmarke auch nur annähernd zu erreichen. Damit kommt von der Bundesregierung kein Beitrag zur Lösung des Wohnungsproblems.
Es gibt eine Liste von alten, also von früheren Regierungen geerbten Dauerproblemen wie Pflegenotstand, Mängel im Bildungssystem und bei der Kinderbetreuung. Eine wirkliche Verbesserung auf all diesen Gebieten würde erhebliche Mehrausgaben, insbesondere für das Personal voraussetzen.
Auch die vielfach marode Infrastruktur oder die Probleme der Bahn würden eigentlich, auch aus der Sicht der Regierung, eine erhebliche Steigerung der Investitionsausgaben erfordern. Und genau da liegt das Problem. Denn die prinzipiell vorhandenen Möglichkeiten der Schuldenaufnahme oder von Steuererhöhungen, um sich zusätzliches Geld zu verschaffen, sind politisch blockiert. Einerseits durch die FDP bzw. falls bei einer Reform der Schuldenbremse eine Verfassungsänderung notwendig wäre, auch durch die Unionsparteien. Gleichzeitig besteht offensichtlich keine Bereitschaft, erneut an der Neupriorisierung der Rüstungsausgaben zu rütteln.
Die Wahrnehmung der Koalition in Medien und Wählerschaft
Schon seit einiger Zeit hat die Ampel-Koalition keine gute Presse mehr. Eine weitverbreitete Unzufriedenheit mit der Arbeit der Regierung lässt sich nicht nur aus den Umfrageergebnissen ableiten. Äußerungen, die Kritik und Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen, gibt es viele und von ganz unterschiedlichen Seiten. Ein Grund dafür liegt in den Schwierigkeiten der Koalition, wichtige Vorhaben - auch nach ihrem Selbstverständnis wichtige Vorhaben - wenn überhaupt, nur mühsam voranzubringen. (Klimapolitik, Wohnungsfrage, Kindersicherung). Größere Erfolge ihrer Regierungstätigkeit, sozusagen Glanzlichter, die bei den Menschen entsprechend ankommen, kann die Koalition dagegen nicht vorweisen.
Die Regierung kann den bestehenden Erwartungshaltungen nicht nachkommen. Ein Beispiel dafür ist die Inflation. Wie erwähnt, gab es 2022 und 2023 starke Inflationsschübe. Die Preise stiegen so stark wie schon lange nicht mehr. Für die Lohnabhängigen bedeutete das einen erheblichen Verlust ihrer Kaufkraft. Diese Tatsache hat erheblichen Frust erzeugt und zur Unzufriedenheit mit der Regierung beigetragen. Auch wenn es Argumente dafür gibt, dass die Bundesregierung den Inflationsschub nicht allein zu verantworten hat, ist es einfach so, dass die Menschen ihre Unzufriedenheit mit der Lage und die Verschlechterung ihrer Verhältnisse der Regierung anlasten. Nach der Devise: in den letzten 10 Jahren gab es keine solchen Preissteigerungen, bei der jetzigen Regierung aber schon.
Ähnliches ließe sich sagen in Bezug auf die Entwicklung der Wirtschaft generell, die ja auch nicht besonders gut läuft.
In dieser Situation ist das zerstrittene Erscheinungsbild der Koalition ein weiterer wichtiger Grund für ihr sinkendes Ansehen. Die Regierung ist nicht in der Lage, ihr Handeln als entschlossen, zupackend und lösungsorientiert zu präsentieren. Vielmehr scheint es, dass bei jedem Vorhaben, auch solchen, die im Koalitionsvertrag angekündigt worden sind und damit eigentlich abgesprochen sein sollten, immer wieder Kontroversen sichtbar werden Diese gleichen umgehend Grundsatzdiskussionen über Sinn und Zweck der Vorhaben, obwohl es real oft um vergleichsweise zweitrangige Details geht. Die Parteien betonen ihre unterschiedlichen Politikansätze (z.B. Bevorzugung von Marktmechanismen bzw. staatliche Regulierungen) und es wird der Eindruck erweckt, ein Erfolg der einen ist zwangsweise eine Niederlage der anderen. Besonders zwischen FDP und Grünen kommt es zu diesen permanenten Hakeleien. Die FDP versucht sich als der Hüter und Garant der Marktwirtschaft zu profilieren und lobbyiert aggressiv für ihr Klientel. Man könnte einwenden, das Ausmaß von Koalitionsstreitereien wäre ein oberflächliches und letztlich nicht relevantes Kriterium für die Beurteilung einer Politik. Das kann man sicher so sehen, aber man muss auch sehen: zur Zeit, beim gegenwärtigen politischen Bewusstsein, spielen solche oberflächlichen Merkmale für viele Menschen eine große Rolle. Man hat Erwartungen an die Politik und diese Erwartungen werden enttäuscht.
Mit den Kriegen in der Ukraine und in Gaza/Israel hat sich generell die Krisenwahrnehmung in der Gesellschaft verändert. Die allgemeine Verunsicherung ist gewachsen und viele befürchten zunehmende Gefahren in der Zukunft.
Warum profitiert besonders die AfD ?
2023 war zu beobachten, dass die AfD die Partei war, die von der Unzufriedenheit der Wähler besonders profitieren konnte. Die Unionsparteien legten in den Umfragen zwar auch zu, aber sie erreichten mit knapp über 30 % Zuspruch eigentlich nur wieder „normale“ Ergebnisse. Die bayerischen Landtagswahlen zeigten, mit den Freien Wählern können auch andere als rechts einzustufende Gruppierungen von der Stimmung profitieren, während die CSU leichte Verluste hinnehmen musste.
Sicher spielt dabei eine Rolle, dass sich die Wähler noch genau an die vielen Jahre mit von der CDU geführten Regierungen erinnern können. Jedem politisch interessierten und einigermaßen aufmerksamen Beobachter ist klar, dass CDU/CSU zu einem erheblichen Ausmaß für viele der heutigen Probleme mitverantwortlich sind. Egal, ob es sich um den Zustand der Bahn (hier haben sich etliche CSU-Minister hervorgetan), die Lage der Bauern, den Pflegenotstand etc. handelt. Wie soll der angeblich desolate Zustand der Bundeswehr ohne die Mitwirkung einer langen Reihe von CDU-Ministern und Ministerinnen erklärt werden? Logischerweise gehen deshalb viele nicht so ohne weiteres davon aus, dass es eine von CDU/CSU geführte Regierung besser machen könnte.
Ganz im Gegenteil, die Erfahrung, dass nach Jahren der GroKo auch der Ampel nicht viel gelingt, erzeugt Frust über die Ampel, aber auch generell über die Politik und die sie tragenden Parteien. Dieser Frust äußert sich deshalb auch in Protest gegen die „etablierten“ Parteien und erhöht die Bereitschaft, es mal mit etwas grundsätzlich Anderem, sprich der AfD, zu versuchen.
Nun muss man bei den Wählern und Sympathisanten der AfD differenzieren. Da gibt es verschiedene Gruppen und Untergruppen. Ein Teil wählt die AfD, weil er selbst über eine eindeutig rechte Gesinnung verfügt. Es ist seit langem bekannt und durch etliche Untersuchungen bestätigt (z.B. die SINUS-Studie), dass es in Deutschland in der Größenordnung von 10% bis 15 % Menschen mit eindeutig rechten bis hin zu profaschistischen Ansichten gibt. Das ist der harte Kern, das sind die Stammwähler der AfD. Früher haben sie vielleicht auch schon NPD oder DVU gewählt, Parteien, die seit dem erfolgreichen Auftreten der AfD bei Wahlen keine Rolle mehr spielen.
Im Kontrast dazu sind Wähler bzw. Unterstützer anzunehmen, die keine stärkere Bindung nach rechts aufweisen. Ihre Hauptmotivation dürfte der Protest gegen die gängigen, jetzt und in der Vergangenheit regierenden Parteien sein. Diese haben sie bei früheren Wahlen gewählt und sind dann von der folgenden Politik mehrfach enttäuscht worden. Nun steht bei ihnen im Vordergrund, diesen Partien einen Denkzettel zu verpassen oder mal etwas ganz anderes zu probieren.
Ein erheblicher Teil des Zuspruchs für die AfD dürfte von Personen kommen, die zwar kein geschlossenes rechtes Weltbild haben, aber zumindest in einem für sie wesentlichen Punkt eine Nähe zu rechten Themen aufweisen. Das kann sich auf die Ablehnung von Zuwanderung beziehen, eine Form der Leugnung oder Bagatellisierung des Klimawandels sein, oder eine Ablehnung von gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der LGBTQ+ Bewegung, die oft als „Genderwahnsinn“ angeprangert werden, vielleicht auch eine Distanz zur vergangenen Coronapolitk. Das alles sind Meinungen und Überzeugungen, die mal mehr, mal weniger gefestigt bei etlichen Menschen vorhanden sind. Sie begünstigen die Tendenz nach rechts außen und erschweren bzw. verunmöglichen eine Ansprache von links. Selbstverständlich sind diese drei Gruppen nicht säuberlich voneinander getrennt, die Übergange sind fließend.
Ein Teil der Arbeiterklasse tendiert nach rechts
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass in der Arbeiterklasse Sympathie und Wahlunterstützung für die AfD vorhanden sind. Die Belege dafür sind eindeutig. Das gilt auch oder vielleicht sogar besonders für den Teil, der zum Kernbereich der Arbeiterklasse zu rechnen ist.
Grundsätzlich ist zur jetzigen Lage der Arbeiterklasse in Deutschland anzumerken: Trotz aller Angriffe auf die sozialen Standards und der im Zuge des Neoliberalismus eingetretenen Verschlechterungen ist die materielle Lage, nicht für alle, aber für einen erheblichen Teil, immer noch gut. Das gilt insbesondere im historischen Vergleich und im Vergleich mit anderen Ländern. Diese Feststellung dürfte auch der Eigenwahrnehmung in der Arbeiterklasse entsprechen. Allerdings wird für die Zukunft eine weitere Verschlechterung und eine substanzielle Gefährdung der noch guten Position befürchtet. Das ist ja durchaus eine realistische Einschätzung.
Dementsprechend weit verbreitet ist eine Verunsicherung, was die Zukunft betrifft. Der Glaube an oder die Hoffnung auf weiteren Fortschritt ist im Vergleich zu früheren Jahrzehnten stark zurückgegangen. Auch der Satz und der Wunsch, „meinen Kindern soll es einmal besser gehen“, wird nicht mehr für realistisch gehalten.
Allerdings verbinden viele diese Gefährdung nicht mit dem Kapitalismus. Im Bewusstsein vieler gibt es zwar immer wieder Auseinandersetzungen mit den Unternehmern (etwa um Lohn), aber sie sehen in der kapitalistischen Gesellschaft nicht die letztliche Ursache für die auch von ihnen wahrgenommene Bedrohungen.Vielmehr sehen sie Gefahren auch aus ganz anderen Richtungen kommen, etwa durch anhaltende Zuwanderung oder durch die Anforderungen der Klimatransformation. Als „die da oben“, gegen die man seine Interessen verteidigen muss, werden dann nicht mehr hauptsächlich die Kapitalisten angesehen. Die dominierende Stellung wird anderen gesellschaftlichen Gruppen, den „Eliten“, wie auch immer diese definiert sind, zugesprochen.
Zur Verteidigung ihrer Positionen tendieren viele Lohnabhängige zu einem Konservatismus im Wortsinn. Sie wollen ihre noch einigermaßen gute Lage bewahren. Ein solcher Konservatismus bleibt aber nicht notwendigerweise auf die Bewahrung von genau definierten Interessen beschränkt. Er kann auch zu einer relativ unspezifischen allgemeinen Haltung werden und dazu führen, Veränderungen jeglicher Art vor allem als Zumutung wahrzunehmen und zuerst einmal abzulehnen. Das gilt auch Veränderungen, die nicht wirklich gegen die eigenen Interessen gerichtet sind.
Solche Tendenzen sind insofern nicht verwunderlich, als die Realität fast immer hochkomplex ist. Die im Vordergrund stehenden und vermeintlich leicht zu erkennenden Gründe sind meistens nicht die dahinterliegenden, tiefer gehenden Ursachen und Antriebskräfte der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Eine genaue und zutreffende Analyse ist entsprechend schwierig.
Veränderungen wie etwa die Klimatransformation können auf sehr unterschiedliche Art und Weise umgesetzt werden. Mit Berücksichtigung der Interessen der Arbeiterklasse und genauso ohne eine solche Berücksichtigung. Die tatsächlich in einer Gesellschaft ablaufenden Entwicklungen sind in dieser Beziehung fast immer widersprüchlich, besonders in einem Land wie Deutschland mit zur Zeit relativ wenig entwickelten Klassenkämpfen.
Ein Grund für den Trend zur AfD ist auch, dass von linker Seite der Regierungspolitik kein Gegenentwurf mit größerer Breitenwirkung entgegengesetzt werden konnte. Es gibt in Deutschland zur Zeit keine Kraft und keine Partei, die dazu in der Lage gewesen wäre. Die Partei Die Linke hat sich trotz vieler sinnvoller Forderungen in ihrem Programm in der Realität nicht zu einer echten, d.h. kampagnenfähigen, Vertretung der Arbeiterklasse entwickelt. Sie ist dort auch nicht wirklich stark verwurzelt. Dafür ist die Partei zu heterogen und die der Arbeiterklasse fernstehenden Kräfte sind in ihr zu prominent vertreten.
Auch die Enttäuschung über die SPD unter Schröder (Agenda 2010) spielt immer noch eine Rolle.
Es ist einfach festzustellen: zur Zeit gibt es bei den Lohnabhängigen keine markante Entwicklung nach links.
Verschiebungen im Parteiensystem ?
Charakteristisch für die gegenwärtige Lage ist eine große und weitverbreitete Unzufriedenheit. Aber diese allgemeine Unzufriedenheit scheint vielfach eine oft diffuse Stimmung zu sein, die noch keinen klaren politischen Ausdruck gefunden hat. Noch ist unklar, ob der zu beobachtende Trend nach rechts nur vorübergehend ist oder sich verfestigen wird. Diesbezüglich gibt es eine große Unbestimmtheit für die Zukunft.
Richtet man den Focus hauptsächlich auf Wahlergebnisse, zeichnen sich Veränderungen ab, die zukünftige Koalitionsbildungen ziemlich schwierig machen könnten. Denn es ist fraglich, ob die gewohnten politischen Konstellationen, die sich bisher bei der Regierungsbildung abwechselten, auch weiterhin ausreichende parlamentarische Mehrheiten erreichen werden. Bei den kommenden Wahlen, auch bei der nächsten Bundestagswahl, sind größere Verschiebungen im Parteiensystem wahrscheinlich oder zumindest denkbar. Die Umfragen deuten in diese Richtung.
Die neue Partei BSW (Bündnis Sarah Wagenknecht) schneidet bisher gut in den Umfragen ab. Ob dies auch in Wahlergebnisse umgesetzt werden kann, bleibt abzuwarten. Sie könnte auch für die Arbeiter, die bisher eine gewisse Neigung zur AfD gezeigt haben, attraktiv sein.
Wird die Ampelkoalition überhaupt noch bis zur nächsten regulären Bundestagswahl im Herbst 2025 bestehen bleiben ? Diese Frage stellt sich ernsthaft. Denn Probleme gibt es genug, denkbare Bruchstellen auch. Trotzdem ist ein Durchhalten nicht unwahrscheinlich. Denn für alle Beteiligten bietet ein vorzeitiges Ende der bestehenden Koalition keine günstigen Perspektiven. Konstellationen, die aus Sicht mindestens einer der an der Koalition beteiligten Parteien ein einfacheres oder besseres Regieren ermöglichen würden (etwa schwarz-gelb oder rot-grün), haben schlicht keine Mehrheit im Bundestag. Eine CDU/CSU/SPD-Koalition hätte zwar eine Mehrheit, aber könnte Scholz dann Kanzler bleiben? Ist zu erwarten, dass entweder SPD oder CDU/CSU bei der Kanzlerfrage zurückstecken? Bei eventuell fälligen Neuwahlen wäre es fraglich, ob ein Koalitionsbruch sich für den Verursacher auszahlen würde. Deshalb fehlt, trotz der Konflikte und Reibereien, eine wirklich starke Motivation, die Koalition zu verlassen. Die Frage nach einem vorzeitigen Ende der Ampel bleibt damit offen.