Von „Nazis auf den Mond“ bis „Liebe ist stärker als Hass“.
Seit Wochen wogen Demonstrationszüge durch das Land. Anlass war die „Enthüllung“ einer Zusammenkunft einiger AfD-Strategen und Mitglieder der CDU, die in ihrer Partei rechtsaußen wirken, mit Neonazis, Identitären, Unternehmern und mittelständischen Interessenten. Das Thema schlechthin, das mit der Veröffentlichung den Skandal und damit die Mobilisierung ausgelöst hat, war die Frage, wie hier lebende Menschen mit ausländischen Wurzeln in Millionenzahl ausgewiesen und deportiert werden können. Eine Schlüsselrolle spielt dabei der Identitäre Martin Sellner, dessen Planung die Diskussions- und Arbeitsgrundlage aller Teilnehmenden darstellte.
Soweit die Fakten, die seither beständig zitiert werden, von allen Medien, von allen Parteien (außer der AfD) und schließlich auch von einer Massenbewegung von Menschen, die bislang nicht als besonders aktiv oder kritisch aufgefallen waren.
Die „schweigende Mehrheit“ scheint nach Jahren des Aufblühens rechter Politik und ihrer Wahlergebnisse, nach Jahren der PEGIDA- und sonstiger faschistoider Demonstrationsmärsche, nach Jahren der blutigen Schaffung von „national befreiten Zonen“, nach Jahren des rechten Terrors und der zugehörigen Morde, ihre Sprache -ansatzweise- wiederzufinden. War man überrascht und schockiert, dass Nazis und ihre Sympathisanten so reagieren und handeln, wie das jeder Linksstehende leidvoll erfahren und jeder nicht geschichtsvergessene Mensch einmal gelernt hat?
Angenommen, es war so: Welche Konsequenzen ziehen die solcherart Aufgerüttelten aus ihrem (vergessenen) Wissen?
Diese Frage war Ausgangspunkt dafür, die neue Demonstrationsbewegung, insbesondere in München, in ihrem Werdegang zu beobachten und -zwangsläufig- kritisch zu befragen.
Die initiale Demonstration
Vorausgeschickt werden muss, dass diese Bewegung verschiedene Ausdrucksformen und regionale und lokale Besonderheiten aufweist. Waren in manchen Städten die Demonstrationen von Beginn an parteipolitisch kanalisiert und tonangebend begleitet, gab es anderswo alternative Zugänge und die Parteien hielten sich (zuerst) zurück. In München etwa sollte zuerst die Politik mit der Vorbereitung und Programmplanung nichts zu tun bekommen, ebenso wie Parteifahnen waren Nationalfahnen untersagt. Stattdessen waren hier Fridays for Future (FFF) und flüchtlingsnahe Hilfsorganisationen federführend, in der zweiten Reihe dann Dutzende weiterer Unterstützungsadressen. Nach wenigen Tagen der organisatorischen Vorbereitung stand die Einladung zur Demonstration „gemeinsam gegen Rechts“. Die Teilnahme war ungeachtet der hastig bereitgestellten Infrastruktur für eine Massenveranstaltung ein Selbstläufer. Die Demonstrierenden informierten sich selbst, ohne aufwändige Plakat- oder Medienwerbung, und trafen in der Nähe der geplanten Kundgebung ein. Eine Annäherung an das Podium mit den Veranstalterinnen und Rednerinnen war nur mehr einer Minderheit möglich. Weit ab standen und stauten sich die Menschen, eng an eng waren nur mehr kleine Demotafeln zu sehen, unter denen sich auch keine Gruppen mehr versammeln konnten, sondern nur mehr diejenigen, die dort zufällig zu stehen kamen. Im weiteren Sinne waren die zahlreichen Schilder (und ihre Trägerinnen) gegen die AfD, und nur gegen die AfD, gerichtet. Da reichte die Palette von zumindest politisch formulierten Aussagen wie „Stoppt den Faschismus“ über das gerne gewählte „gemeinsam gegen die AfD“, das unvermeidliche „München ist bunt“ und einer etwas dümmlichen Inversion „Menschenrechte statt rechte Menschen“ bis zu witzig gemeinten Täfelchen, die zwar gut für die Posts waren, aber untauglich als politische Aussage.
Es war eben eine zwar riesige, aber, wenn man die allgemeine Abneigung gegen die AfD als gegeben voraussetzt, nicht durch weitere gemeinsame Ziele verbundene Menschenmenge zusammengekommen. Die Menschen waren da, um Haltung, und nur Haltung, zu zeigen. Wie ihre Gegnerschaft zur AfD dann politisch umsetzbar wird, dazu gab es keinen Konsens. Dem Gros wird es wohl reichen, wenn die etablierten Parteien den Protest zur Kenntnis nehmen und -irgendwie- in ihr Handeln einbeziehen. Oder zumindest so tun.
Eine Steilvorlage also für die Politik, die Ampel ebenso wie die C-Parteien. Verdient hatten sich die Regierungsparteien in Bund und Ländern diese Unterstützung wahrlich nicht, ihre Politik auf allen Feldern treibt schließlich der Protestpartei AfD ihre Wähler massenhaft zu. Dass sie dies als Freibrief sieht, dem Faschismus in Deutschland eine neue Heimat zu geben, woran ihre Unterstützer mehr und mehr Gefallen finden, kann niemanden verwundern. Es ist Ausdruck der gesellschaftlichen Realität in diesem Land.
Nach dem Abbruch der Veranstaltung durch die Polizei wegen des allzu großen Andrangs wartete die Menge brav, bis nach geraumer Zeit der Weg zurück angetreten werden konnte. Die Wartezeit war lange genug, dass sich Nachbarn über das Gehörte und Gesehene hätten austauschen können. Doch es blieb weitgehend still. Man war da gewesen, hatte Präsenz gezeigt und jetzt ging man wieder.
Die Reaktionen der veröffentlichten Meinung
Nach der Auflösung trafen die ersten Pressemeldungen auf den Smartphones ein und die Teilnehmer erfuhren, was da geschehen oder nicht geschehen war. Über die Größe der Demonstration wurde ausführlich gestritten: eher 100 000 oder doch über 300 000? Der Erfolg hing offenbar mit der möglichst großen Zahl zusammen. Die Rednerinnen, die an das von einem Rassisten begangene OEZ-Attentat vor zehn Jahren mit vielen Toten erinnerten oder die geplanten Abschiebungen thematisierten, die jetzt Deportationen heißen durften, wurden zitiert, so dass Teilnehmende sich zumindest im Nachhinein informieren konnten. Auch die ersten Kritiken (der CSU) gingen ein, die der veranstaltenden FFF das Recht zur Wortführerschaft absprachen, weil sie sich angeblich nicht genügend von Greta Thunberg, der neu ernannten Antisemitin, distanziert hatten.
Die Druckmedien des folgenden Tages waren voll des Lobes, weil die übergroße Mehrheit im Lande ein so sichtbares und mächtiges Zeichen gesetzt hatte. Es fiel weiter gar nicht auf, dass diese Menge selbst keine weiteren Fragen oder Forderungen aufgestellt hatte. Und was ist mit dem von so vielen Teilnehmenden geforderten Verbot der AfD?
Die staatlichen Organe mussten nur verlautbaren, das sei alles kompliziert und langwierig und eben das sei doch die Stärke des demokratischen Rechtsstaats. Schon wurden diese Weisheiten von den Medien ungefiltert und ohne jede kritische Nachfrage unter das Volk gebracht. Und die schweigende Mehrheit schwieg.
Die liberale Süddeutsche Zeitung lobte, wie auch konservativere Print- und Fernsehmedien, die große Zahl. Auch dankte man artig den Veranstaltern für die Organisation und den wenigen Rednerinnen für ihre anrührenden Worte. Aber eins ginge doch gar nicht: dass auf dem Podium (auch) die Verantwortung der Ampelparteien für, vor allem, die verschärfte Flüchtlingspolitik angesprochen wurde.
SPD und Grüne seien angegriffen worden, was unter den Demonstranten Unverständnis, Kopfschütteln (ojojoj!) und Befremden ausgelöst habe. So werde die Mehrheit verschreckt und die schöne Einigkeit gefährdet.
Damit war die Tonart gefunden, als es um mögliche Folgeaktionen in München ging.
Konsens aller Interessenten war, dass die Demonstration kein Einzelereignis bleiben sollte. Dazu musste aber die kritische Spitze abgebrochen werden. Während die Beleidigungen und Diffamierungen auf social media zunahmen, die den beiden Sprecherinnen auf dem Podium und der Flüchtlingshilfe galten, wurden die Organisatoren von der Politik auf Linie gebracht. Nicht so brutal wie im Internet, aber deutlich effektiver. Aus mehreren Dutzend Unterstützern waren über 200 Organisationen, Kirchen, Vereine geworden. Alles, was gesellschaftlich in der Stadt einen Namen hat. In diesem fürsorglichen neuen Rahmen stellten sich die Veranstalter etwas breiter auf. Aus „gemeinsam gegen Rechts“ wurde „für die Demokratie, gegen Rassismus, Antisemitismus und Hetze“ Sie hatten ihre Lektion schnell gelernt, ihr Sprecher Luc Ouali wird zitiert, „man kritisiere zwar weiterhin den allgemeinen Rechtsruck, richte sich aber ausdrücklich gegen eine Spaltung der Gesellschaft, die von Rechtsaußen angestrebt werde.“ (SZ, 06.02.2024) Rechts ist also ok, die CSU und ihre Anhänger sind herzlich eingeladen. Die Kritik der Parteien am Konzept der ersten Demonstration war damit auf einen Schlag beendet. Der Koalition der (rechten) Mitte fehlte in Bayern dann doch noch ein Mitglied: die Freien Wähler Aiwangers blieben der großen Einigung überwiegend fern. Aiwanger hatte schließlich die Unterwanderung der Kundgebungen durch die Linksextremen an’s Licht gebracht. Vielleicht spielt auch eine Rolle, dass zeitgleich Bauerndemos stattfanden und stattfinden, auf denen er als Hauptredner wirkt …
Die Folgedemonstration
Nachdem alle größeren und viele kleine Städte in Deutschland akzeptabel, gut, oft sogar sehr gut besuchte Demonstrationen erlebten und das Politbarometer bei der Sonntagsfrage den Balken der AfD freudig um 3% senken konnte, phantasierte so mancher Kommentator schon die reifenden Früchte der demokratischen Mehrheitsmanifestationen herbei. Zur gleichen Zeit können bei den Bundestagsnachwahlen in Berlin die AfD und die Wahlverweigerer zulegen und aggressive Protestierer sprengen Veranstaltungen der Grünen, schreien deren Politikerinnen nieder. Aber auch eine Bürgerversammlung im oberbayerischen Warngau wird zum Tribunal über den anwesenden Landrat, der hunderte von Flüchtlingen im Ort unterbringen sollte und wollte. Jedes Mal sind der Polizeischutz und die -eskorte die ultima ratio.
Die Probleme sind komplexer und durch Massenkundgebungen wohl nicht zu lösen.
Oder vielleicht doch, wenn man nur die Demonstrationen wiederholt und zum Ausgangspunkt von sehr viel Basis- und Überzeugungsarbeit macht? Das war am Ende der ersten Demo bereits angeklungen: dieses Erstereignis dürfe kein Einzelereignis bleiben und die Demonstrierenden sollen jetzt mit ihren Nachbarn, Kolleginnen, Vereinsbrüdern und Betschwestern über die Schädlichkeit der AfD diskutieren. Die Wissenden treffen auf die Unwissenden und Verführten, -eigentlich aber doch die Blöden -, die auch noch den falschen Medien aufsitzen. Die Achtsamkeit soll zum Frühwarnsystem der Zivilgesellschaft werden.
Den Regierungen fallen diese Handlungsansätze der Demokratieaktivisten unverdient in den Schoß. Jene werden nicht grundlegend kritisiert, deren Beschlüsse mögen da und dort als fehlerhaft angesehen werden, aber sie sind prinzipiell die bessere Alternative zur „Alternative für Deutschland“. Deshalb ist das Führungspersonal der Regierungsparteien auch des Lobes voll für diese „machtvollen“ Bekenntnisse der demokratischen Mitte zu den Werten der Republik. „Liebe Landsleute, ich bin beeindruckt“, biedert sich der Bundespräsident an die Bewegung an (17.02.2024) und ist damit nur einer von vielen Entscheidungsträgern, von der Bundesspitze bis hinunter zu den lokalen Politikern.
Zeitungsberichte deuten an, dass bei der Auswertung der ersten Kundgebung unterschiedliche Ansätze der Unterstützer aufeinandertrafen, die schließlich in einem großen Kompromiss endeten: potenzielle Demonstrierende dürfen nicht abgeschreckt werden, eine hohe Teilnehmerzahl ist Pflicht und damit oberstes Ziel.
Man einigt sich auf eine Aktionsform, die schon einmal, 1992, als größter Erfolg gesehen wurde: die Lichterkette. Damals sollte sie als das Zeichen gegen die Brandstifter von Rostock-Lichtenhagen und Mölln Hunderttausende von Münchnern
versammeln, die ihren Protest ausdrücken. Die Zahl von 400 000, die damals eine Kette durch die Stadt bildeten, geht wochenlang durch die Medien. Dieses Mal, im Abstand von drei Wochen, versammeln sich gegen Abend, geschätzt, um die
100 000 Menschen auf der Theresienwiese mit einem Leuchtmittel in der Hand, meist dem Handy. Drohnenbilder zeugen von einer großen Menge. Die angeknipsten Lichter sind ebenso ein Zeichen des eigenen guten und friedlichen Willens wie der Selbstversicherung, dass man denkt wie der oder die Nächste. Damit unterscheidet es sich im Grundsatz nicht von den Lichtermeeren etwa bei den Rolling Stones. Die Teilnehmenden sind sich selbst genug. Die Lichter ersetzen keine politische Position, sie signalisieren keine Kampf- oder Verteidigungsbereitschaft. „Eine eher leise, nachdenkliche Demo ist es diesmal, und trotzdem wirkt sie engagiert und kraftvoll.“ (SZ, 12.02.2024) Ein Erlebnis soll die Zusammenkunft also sein, in der kein falscher Ton die große Einigkeit stört. „Die Stimmung ist gelöst, fast freudig (…) Immer wieder geht Applaus durch die Menge. Sie freut sich an sich selbst, weil es so viele sind.“(ebd.) Wer will da noch konfrontiert werden mit Rednerinnen, die den Finger auf die Wunde legen, die das skandalöse Versagen aller bürgerlicher Kräfte im Umgang mit den Rechtsextremen und Faschisten, den Rassisten und Mördern thematisieren? Die erkannt haben, dass diese Gesellschaft den Rassismus wieder und wieder reproduziert? Wie viele Demonstrierende waren wohl dabei und fühlten sich gut, die gleichzeitig der „Einwanderung in die Sozialsysteme“ einen Riegel vorschieben wollen und es für notwendig erachten, die Asylgesetzgebung und ihre europäische wie deutsche Umsetzung gründlich zu „reformieren“? Deportation ist pfui, das machen nur Nazis. Abschiebung und Rückführung dagegen ist notwendig, um unser Land nicht zu „überlasten“. Vor wenigen Jahren noch sprach die CSU und ihre Parteiführung vom Asyltourismus, Asylbewerbern dürfe man kein Geld in die Hand geben. Abschiebeprozesse führen immer leichter in den Knast.
Jetzt entdeckt die schweigende Mehrheit, dass die Entfernung von Menschen mit nichtdeutschen Wurzeln aus Deutschland hierzulande Probleme bereiten würde. So manche Arbeitsstelle und Dienstleistung bliebe verwaist und unerledigt, die Exportwirtschaft könnte darunter leiden.
Einerseits berauscht man sich an der großen Zahl der Demonstrierenden, andererseits bündelt man diese nicht vernachlässigbare Größe nicht zu kraftvollen politischen Forderungen an die Regierung. Keine Rede vom vorher noch vielfach angemahnten Verbot der Partei, keine Rede von der juristischen und strafrechtlichen Verfolgung der Verbrechen, keine Rede von der Säuberung der Behörden, der Geheimdienste und Polizei sowie der Bundeswehr. Nicht einmal die rückhaltlose Aufklärung begangener Taten sind Thema. Die „Lösung“ wird von der Einsicht auf individueller Ebene erwartet: Achtsamkeit im Umgang mit seinem Nächsten, „Liebe statt Hass“, das gute Beispiel der Bürger, die 2015 ihre Türen für die Geflüchteten öffneten, die Überwindung „unserer“ Ignoranz, was wichtiger sei als die „paar Nazis“.
Was bleibt also an Motiven der großen, unpolitischen Mittelschichten übrig? Ein eher oberflächlicher, an Skandalisierung gebundener Humanismus. Das Bestreben, dass Frieden und Ruhe herrschen möge im Lande, kein Krawall.
Ja, es ist einiges ins Rutschen geraten in Deutschland. Mit Appellen und „Liebe statt Hass“ werden die himmelschreienden Unterschiede sich nicht mildern, geschweige denn auflösen lassen. Die AfD hat die Gräben in der Gesellschaft nicht geschaffen, sie profitiert nur davon. Sie ist weder das einzige Problem noch die Lösung der Krise, sie ist ein Symptom davon. Deshalb wird auch nicht alles wieder gut werden Es wird nicht mehr so wie früher.
Ein durch und durch konservativer Protest wogt durch das Land. Wie lange diese Bewegung als Massenbewegung durchhält, ist nicht gewiss. Dass sie aber nichts an den Zuständen ändert, die den Rechtsruck bis zu den Ausläufern des Faschismus in Deutschland hervorgebracht haben, das ist gewiss.
(Stand: 18.02.2024)