Die USA heben für ihre Kriege keine Truppen mehr unter der eigenen Bevölkerung aus. Vietnam war der Administration eine Lehre. Damals heizten die vielen Toten und Verletzten in der eigenen Armee die Proteste gegen den Krieg an. Heute lässt man Söldner kämpfen, im Irakkrieg zum Beispiel die von Blackwater. Eine andere Lösung sind seit dem Afghanistankrieg Stellvertreterkriege, für die kein GI und kein Europäer mehr geopfert werden muss. Dafür ausgewählt werden Gruppierungen mit einer Agenda, die mit der des Westens kompatibel gemacht werden kann. In Afghanistan waren das zum Beispiel die islamistischen Mudschahedin, die im Auftrag der konservativen Kräfte dort gegen das Regime in Kabul kämpften. Im Irak waren das die Schiiten und Kurden, die sich unter dem Baat-Regime nicht ausreichend repräsentiert oder sogar unterdrückt sahen. In der geopolitischen Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland wurden die ukrainischen Nationalisten als die gewählt, die Russland herausfordern sollten.

Meine These ist, dass der ukrainische Nationalismus, der sich aus der Geschichte des Landes erklären lässt, dazu gedient hat, Russland aus der Defensive zu locken. Der fanatische Nationalismus einer kleinen, aber dominanten Gruppierung macht es auch schwer, zu einer Lösung des Konflikts und damit zu einer Friedensvereinbarung zu kommen.

Eine Verfassung mit dezentraler Verwaltung und kultureller Autonomie der russischsprachigen Bezirke, wie in den Vereinbarungen von Minsk (2014/15) vorgesehen, hätte der Ukraine Stabilität bringen können. Aber das war für die Nationalisten undenkbar. Heute fühlt sich die Bevölkerung der Ostukraine verständlicherweise nicht mehr der Ukraine zugehörig, nachdem sie seit 2014 acht Jahre lang unter Bombardements zu leiden hatte. Die 14.000 Opfer dieses Vorkriegs werden im Westen meist verschwiegen. Der Beschuss wird immer noch fortgesetzt. Und auf der Krim hatte man schon gleich nach der Auflösung der Sowjetunion die Vereinigung mit Russland angestrebt.

Ein Stellvertreterkrieg – mehr als Verdachtsmomente

Politikwissenschaftler wie John Mearsheimer oder Militäranalytiker wie Harald Kujat oder Jaques Baud charakterisieren diesen Krieg als Stellvertreterkrieg. Das heißt, es ist ein Krieg, bei dem auf dem Boden der Ukraine der Konflikt zwischen fremden Mächten ausgetragen wird.1 Das geopolitische Interesse der USA an der militärischen Konfrontation mit Russland belegt der Defense Policy Guidance 1992 – 1994, der zeigt, dass die US-Eliten, inzwischen angeführt von den Neocons, nach dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre darauf bedacht waren, mit allen Mitteln die Stellung der USA als einzige Großmacht für die Zukunft zu sichern. Besonders deutlich wird dieses Bestreben, die strategy of predominance (Strategie der Vorherrschaft), am ursprünglichen Entwurf des Papiers, das Paul Wolfowitz, Staatssekretär unter George Bush, 1992 verfasste: „Unser erstes Ziel ist es, das Aufkommen eines neuen Rivalen zu verhindern, sei es auf dem Territorium der früheren Sowjetunion oder sonst irgendwo…“ Häufig wird auch die Aussage von Zbigniew Brzezinski, dem ehemaligen Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter zitiert, die er 1997 in seinem Buch „The Grand Chessboard“ formuliert hat: „Allein schon die Existenz einer unabhängigen Ukraine hilft, Russland zu verändern. Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein eurasisches Imperium zu sein.“2

Aber man kann nicht nur ein Motiv für die Eskalation des Konflikts in der Ukraine und um die Ukraine ausmachen. Sondern es reihen sich spätestens seit 2008 Entscheidungen und Vorgehensweisen aneinander, die die Eskalation seitens der USA verdeutlichen. In jenem Jahr schlugen die USA auf dem NATO-Gipfel in Bukarest die Ukraine neben Georgien für die baldige Aufnahme in die NATO vor, was die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Präsident im Interesse Europas blockierten. Der damalige US-Botschafter in der Ukraine, William J. Burns, warnte seine Administration in einer persönlichen Mail an die damalige Außenministerin Condoleezza Rice vor einem solchen Schritt. Damit würde für die russischen Eliten klar eine rote Linie überschritten. Schon ab 1997 hatte die NATO im Rahmen der „Partnerschaft für den Frieden“ gemeinsame Marinemanöver mit der Ukraine im Schwarzen und im Asowschen Meer durchgeführt.

Ganz unverhüllt war dann 2013/14 die Unterstützung der teils gewaltbereiten Opposition beim Euromaidan. Victoria Nuland, Staatssekretärin im US-Außenministerium, und US-Senator John McCain tauchten dort im Dezember 2013 auf und ermunterten die Demonstrierenden oder Rebellen bei ihrem Protest. Sie sprachen auch mit Politikern rechter Oppositionsparteien, die auf eine Absetzung der Regierung drängten. Nach dem Staatsstreich am 22. Februar 2014 erkannten die USA-Administration und die EU-Kommission die Putsch-Regierung sogleich an.3 Nuland hatte schon vorher den Wunschkandidaten für die Übergangsregierung in einem Telefonat benannt (Auernheimer 2024, S.76).

Der Staatsstreich (Hendrickson 2022, Krone-Schmalz 2015) wurde von der Bevölkerung in der Ostukraine und auf der Krim nicht akzeptiert. Die Ausrufung der „Volksrepubliken“ und speziell die Sezession der Krim wurden von USA und EU mit den ersten Wirtschaftssanktionen beantwortet, die sich später zu einem Wirtschaftskrieg gegen die Russische Föderation entwickelten. Die ukrainische Regierung verhängte einen Wirtschaftsboykott gegen die abtrünnigen Gebiete und eröffnete, beraten von US-Diensten, ihre „Antiterroroperation“, den achtjährigen Krieg gegen die „Separatisten“. Die USA machten die Ukraine während dieser Zeit mit Waffenlieferungen, Ausbildungsprogrammen und gemeinsamen Manövern kriegstüchtig.

Nachdem sich im Laufe des Jahres 2021 die Konfrontation zwischen der Ukraine und Russland verschärft hatte, ließ die Kreml-Führung am 17. Dezember den USA und der NATO jeweils getrennt einen Vertragsentwurf für eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur zukommen. Die fünf Kernforderungen waren: keine weitergehende Erweiterung der NATO nach Osten, Rückbau der NATO-Präsenz auf den Stand der NATO-Russland-Grundakte von 1997, eine Truppenreduzierung beiderseits der Grenze in einer gemeinsam festzulegenden Breite, keine Stationierung von Atomwaffen. Auf dieses Angebot zur Konfliktlösung gingen USA und NATO aber nicht ein. Der Westen hatte offenbar kein Interesse daran.

Nach dem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022, bei dem die russischen Truppen Vororte von Kiew erreichten, fand sich die russische Führung schon bald zu Gesprächen über einen Waffenstillstand bereit. Die ukrainische Regierung unter Selenskyj ging darauf ein, und die Invasionstruppen zogen sich zum Zeichen der Deeskalation zurück. Anfang März begannen Verhandlungen unter Vermittlung der Türkei, die nach späteren Aussagen von Insidern und gut informierten Experten erfolgversprechend verliefen. Als wichtigster Zeuge dafür kann der ukrainische Politiker und Chefunterhändler der ukrainischen Delegation, Dawyd Arachamija gelten (Auernheimer 2024, S.99). Am 9. April 2022 intervenierte jedoch der damalige britische Premier Boris Johnson persönlich in Kiew und überbrachte den Wunsch des Westens nach Abbruch der Verhandlungen.

Das geopolitische Interesse der USA und ihre strategischen Optionen

Ein Ziel der US-Politik war es unter anderem, eine eventuelle eurasische Kooperation zwischen der Europäischen Union und Russland zu verhindern. Würden die EU-Staaten mit ihrem technologischen Know-how und Russland mit seinem Rohstoffreichtum zusammenarbeiten, könnte den USA ein weiterer Rivale entstehen, der die wirtschaftliche Vormachtstellung bedroht, so die Befürchtung.4 Die wirtschaftliche Abhängigkeit der EU von Russland zu beenden, ist vermutlich auch insofern von strategischer Relevanz, als eine solche Abhängigkeit die EU bei künftigen Auseinandersetzungen mit China zu einem unsicheren Kantonisten machen könnte.

Dass der eigentliche Rivale, der die Position der USA als Weltmacht bedroht, inzwischen die Volksrepublik China ist, ist ein offenes Geheimnis. Für die militärische Konfrontation mit der VR China, welche die USA seit langem einkalkulieren, streben sie eine Arbeitsteilung an, bei der die NATO vorrangig für den atlantischen Raum und für das Containment der russischen Föderation zuständig sein soll, die USA im Bündnis mit Australien und Großbritannien (AUKUS) sowie mit Japan für den pazifischen Raum und die Eindämmung der Volksrepublik. Denn ein Krieg mit China könnte selbst die Kräfte der militärischen Supermacht überdehnen. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine, den schrittweise provozierte, ließ sich die von den europäischen Partnerstaaten geforderte Erhöhung der Militärausgaben leichter durchsetzen und für die breite Bevölkerung plausibel machen.

1999 wurden drei ehemalige Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts in die NATO aufgenommen, nämlich Polen, Tschechien und Ungarn. 2004 folgten in einer zweiten Welle die baltischen Staaten, ehemals Sowjetrepubliken, sowie Bulgarien, Rumänien, Slowakei und Slowenien und von 2009 bis 2020 Albanien und drei Staaten aus dem früheren Jugoslawien. 2002 traten die USA außerdem unter George W. Bush vom ABM-Vertrag zur Kontrolle der beidseitigen Raketenabwehrsysteme zurück. Der Vertrag hatte Bedrohungen reduziert, indem er die Verwundbarkeit auf beiden Seiten erhöht hatte.5 2018 kündigte Präsident Donald Trump auch den INF-Vertrag über den Abbau von Mittelstreckenraketen mit nuklearen Sprengköpfen.6

Eine alternative Möglichkeit, den Aufstieg der VR China unter Kontrolle zu halten, wäre die Einbindung Russlands gewesen. Aber damit hätte man die Kooperation zwischen Westeuropa und Russland in Kauf nehmen müssen. Schon die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) war der US-Administration ein Dorn im Auge. So soll James Baker, US-Außenminister von 1989 bis 1992, intern erklärt haben: „Die KSZE ist die eigentliche Gefahr für die NATO“ (Eichner 2022). Denn die KSZE verpflichtete zur Wahrung der Sicherheitsinteressen aller Vertragsstaaten.

Es blieb daher nur die Eindämmung Russlands, verbunden mit dem naheliegenden Risiko, dass Russland die Nähe zur VR China sucht, die sich selbst genötigt sah und sieht, sich trotz der Interessengegensätze in Zentralasien mit Russland zu verbünden.

Die Sicherheitsinteressen Russlands

Vor dem Hintergrund jener Entwicklungen wird verständlich, dass die politische Klasse in Russland die NATO unter Führung der USA als feindliche und bedrohliche Macht wahrnehmen musste, für die die Sicherheitsinteressen Russlands belanglos sind. Noch verständlicher wird dies, wenn man den Blick auf die militärische Überlegenheit der USA richtet. Die Militärausgaben sind die mit Abstand höchsten weltweit. 2008 hatten die USA nach eigenen Angaben 761 militärische Einrichtungen über die ganze Welt verteilt. Russland ist von Militärbasen umzingelt. Im Blick auf die militärische Stärke des Westens – die Relation zwischen allen NATO-Staaten zusammen und Russland ist 14 : 1 – ist es glaubhaft, dass die russische Regierung dem Westen wiederholt einen Dialog angeboten hat.

Schon 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz versuchte Putin seinen Gesprächspartnern klar zu machen, dass Russlands Bestreben auf eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur gerichtet sei. Seine Rede bestand damals einerseits aus Anklagen wegen wenig vertrauensbildender Maßnahmen der NATO-Staaten, zeigte aber zugleich noch das Werben um Verständigung. Er warnte vor der Aufstellung des damals geplanten Raketenabwehrsystems in Osteuropa und machte darauf aufmerksam, dass der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) von den NATO-Staaten nach Jahren noch nicht ratifiziert sei. Im Interview mit Oliver Stone erinnerte daran, dass die NATO im Vorjahr (2015) siebzig Manöver nahe der russischen Grenze durchgeführt habe. Er beklagte, dass dauernd NATO-Flugzeuge ohne Transponder über der Ostsee unterwegs seien, was militärisch eine unsichere Lage schaffe. Er führte auf, welche nach dem Minsker Protokoll getroffenen Vereinbarungen die Kiewer Regierung nach zwei Jahren nicht erfüllt hatte.

Russland hatte ab dem ersten Jahrzehnt wirklich Grund zur Besorgnis. Die NATO rückte nicht nur bis an die russische Grenze heran. Es wurden auch permanent große Manöver mit schweren Waffen durchgeführt, zum Beispiel 2017 in Estland, knappe fünf Panzerstunden von St. Petersburg entfernt.7 Bei dem größten Nato-Manöver in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges mit der Bezeichnung Defender-Europe 2021 übten 28.000 Soldaten aus 26 Staaten über die Dauer von zwei Monaten Luftlandeoperationen etc.. Schon im Jahr 2020 war ein solches Großmanöver veranstaltet worden. Nur geschichtsvergessene Politiker konnten die im kollektiven Gedächtnis Russlands gespeicherten Kriegserfahrungen außer acht lassen, die eine erhöhte Wachsamkeit gegenüber militärischer Bedrohung verständlich machen.

Die Ukraine, ein idealer Stellvertreter

Man brauchte nur die Geschichte Osteuropas zu studieren, um zu ahnen, dass sich maßgebliche politische Kräfte in der Ukraine schnell auf einen Konflikt mit Russland einlassen würden, sobald sie vom kollektiven Westen dazu ermuntert würden. Der Politikwissenschaftler Nikolai Petro sieht einen einhundertfünfzig Jahre währenden Streit um die Identität der Ukraine, ausgetragen zwischen den westukrainischen „Eliten“ und der ost- und südukrainischen Bevölkerung, die nicht nur räumlich Russland nahe steht.8 Die Ukraine ist eine der jüngsten Nationen weltweit, wenn man das Bewusstsein der Staatsbürger und Staatsbürgerinnen, Angehörige einer Nation zu sein, als Kriterium nimmt. Vermutlich hat erst die russische Invasion die Ukrainer zur Nation gemacht, allerdings auf Kosten der Sezession des Donbass und der Krim. Für Nation Buildung sind gemeinsame historische Erfahrungen fast unverzichtbar. Die Bevölkerung der Ukraine hat aber gemeinsame Erfahrungen nur in der Sowjetzeit von 1920 bis 1991 und danach gemacht. Weil nicht wenige mit den Deutschen kollaborierten, als die Wehrmacht das Land beherrschte, sind auch die kollektiven Erinnerungen im Freund-Feind-Schema gespeichert.

Die Ukrainer gehören unterschiedlichen Kulturräumen an. Denn über Jahrhunderte waren sie Untertanen verschiedener Herrschaften gewesen, des Königreichs Polen-Litauen, des Zarenreichs, der Habsburger Monarchie, der Republik Polen und kleinerer Staaten. Und sozioökonomisch sind oder waren die Interessenlagen zwischen dem agrarisch und kleinbürgerlich geprägten Westen und dem bunt zusammengewürfelten Proletariat im Donbass mit Bergbau und Schwerindustrie sehr unterschiedlich.

Das Dilemma für die ukrainische Nationalbewegung besteht darin, dass sie die Zeit der Sowjetunion ausschließlich als Zeit der Unterdrückung wahrgenommen haben möchte. Alles andere will sie aus dem kollektiven Gedächtnis auslöschen. Der westlich orientierte, von USA und EU favorisierte ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko (2005 – 2010) begann mit entsprechenden geschichtspolitischen Neubewertungen der Sowjetzeit und symbolischen Akten wie der Umbenennung einer großen Kiewer Straße. Großes Gewicht in dieser Geschichtspolitik hat die Anklage wegen kultureller Unterdrückung, speziell der ukrainischen Sprache, was historischer Prüfung nicht Stand hält (Auernheimer 2024). Das Ukrainische, erst spät zur Literatur- und Schulsprache gemacht, wurde in den 1920er Jahren von den Sowjets besonders gefördert, um dem ukrainischen Nationalismus den Boden zu entziehen. Die Zurückdrängung im Lauf der Jahre lässt sich soziologisch damit erklären, dass Russisch in der Union als Lingua Franca der Verständigung zwischen den vielen Sprachgruppen diente.

Aber das Unterdrückungsnarrativ ist ein Kernelement des ukrainischen Nationalismus mit seinen faschistoiden Zügen, verbunden mit radikaler Russophobie. Das erklärt die Bilderstürmerei in der Kulturpolitik. Seit 2014 betreiben die staatlichen Organe auf allen Ebenen eine Politik Entrussifizierung, die darauf abzielt, nicht nur alles zu tilgen, was an die Sowjetära erinnert, sondern alles Russische vergessen machen soll. Die Umbenennung von Straßen, Plätzen, Ortschaften und der Sturz von Denkmälern wurden 2014 nach dem Staatsstreich zur Staatsdoktrin erhoben. Zahlreiche Straßen und Plätze sind nach dem Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera benannt. Sprachpolitisch wird sprachliche Homogenität angestrebt. Der Gebrauch des Russischen, vor allem, aber nicht nur im Osten der Ukraine die Sprache der Mehrheit, soll auf den privaten Raum beschränkt werden. Nach dem Sprachgesetz von 2019 darf im öffentlichen Raum nur die ukrainische Sprache verwendet werden.

Mit der Westbindung der Ukraine sieht sich Russland also einem äußerst feindseligen Nachbarn gegenüber. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Bewegung der Bandera-Anhänger, die als faschistoid einzustufen ist (Auernheimer 2024, S.57ff.). Sie hat so etwas wie kulturelle Hegemonie errungen und großen Einfluss auf den Staatsapparat.

Vorläufig kein Sieger

Nachdem die Offensive der ukrainischen Armee trotz der massiven Waffenlieferungen, der militärischen Ausbildung, Beratung und Feindaufklärung seitens des Westens im Sommer 2023 gescheitert war, hatte sich eine Patt-Situation mit eingefrorenen Frontlinien ergeben. Erwartungen der USA wurden enttäuscht. Nun will man die europäischen Verbündeten in die Pflicht nehmen, die diese Erwartung mit einem massiven Aufrüstungsprogramm erfüllen.

Vorläufig gibt es keinen Sieger in diesem Krieg. Der Westen hat sein Ziel, Russland zu schwächen, nicht erreicht. Die Ukraine wird Teile ihres Territoriums opfern müssen, wie es jetzt aussieht. EU- und NATO-Mitgliedschaft stehen in den Sternen.9 Für das ukrainische Regime ist der bisherige Kriegsverlauf extrem enttäuschend. Für die Bevölkerung ist der Krieg eine Katastrophe, was aber die Führung nicht wahrhaben will. Für Russland ist Putins Traum von eurasischen Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon ausgeträumt, und es hat mit Finnland und Schweden mehr NATO-Staaten zu Nachbarn als vor dem Krieg.

Ein großer Verlierer in diesem geopolitischen Konflikt ist die Weltgemeinschaft. Denn erstens hat die Aufrüstung auf allen Seiten Fahrt aufgenommen und verschlingt Ressourcen, die dringend für die Bekämpfung der Armut und den Schutz von Umwelt und Klima gebraucht würden.10 Zweitens ist in dem neuen kalten Krieg die dafür notwendige internationale Kooperation und Verständigung blockiert. Die entsprechenden Mechanismen und diplomatischen Kanäle funktionieren vermutlich auf längere Sicht nicht mehr. Es wurden Feindbilder produziert und gegenseitiges Misstrauen geschaffen.

Georg Auernheimer

Georg Auernheimer, Prof. Dr. phil., *1939, lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln. Als Dozent und Publizist befasst er sich seit vielen Jahren mit der neoliberal ausgerichteten Globalisierung und ihren Folgen.

 

1 Siehe z. B. H. Kujat am 21. 1. 23 im Interview mit der Schweizer Zeitung „Zeitgeschehen im Fokus“. https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-1-vom-18-januar-2023.html (Zugriff am 29.12.23)

3 Bei der Abstimmung über die Absetzung des Präsidenten wurde die von der Verfassung vorgeschriebene Mehrheit nicht erreicht.

4 Seit die USA mit der Entwicklung des Fracking-Verfahrens fossile Energie im Überfluss haben, mag zu dem strategischen Imperativ noch das Interesse daran hinzugekommen sein, Russland als konkurrierenden Lieferanten für die EU auszuschalten.

5 Präsident Bush argumentierte, die Bedrohung komme inzwischen eher von Drittstaaten. Putins Vorschlag, ein gemeinsames Raketenabwehrsystem zu vereinbaren, stieß auf taube Ohren (Stone 2018, S.61 u. 110).

6 Im INF-Vertrag wurde festgelegt, dass beide Seiten weltweit sowohl ihre boden-/landgestützten Nuklearraketen mit kürzerer (500–1000 km) und mittlerer Reichweite (1000–5500 km) als auch deren Abschussvorrichtungen und Infrastruktur innerhalb von 3 Jahren vernichten und keine neuen herstellen (https://de.wikipedia.org/wiki/INF-Vertrag, Zugriff am 15.11.22).

10 Die Rüstungsausgaben der NATO-Staaten und die der Russischen Föderation haben sich im Vergleich zu 2021 verzehnfacht.

 

Literatur:

Auernheimer, Georg (2024): Die strategische Falle. Die Ukraine im Weltordnungskrieg. Köln: PapyRossa.

Baud, Jaques (2023): Putin. Herr des Geschehens? Frankfurt/M.: Westend Verlag.

Eichner, Klaus (2022): Bis alles in Scherben fällt. Der Kampf der USA um eine neue Weltordnung. Berlin: Edition Ost.

Hendrickson, David C. (2022): Die andere Seite der Souveränität: Wie das Völkerrecht auf der Ukraine lastet. Institut für Frieden und Demokratie. peacediplomacy.org

Krone-Schmalz, Gabriele (2015): Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens. 12. Aufl. München: C.H. Beck.

Mearsheimer, John (2022): The causes and consequences of the Ukraine war. A lecture (06.06.22). https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=qciVozNtCDM

Mearsheimer, John (2023a): The Darkness Ahead: Where the Ukaine War is Headed. https://mearsheimer.substack.com/p/the-darkness-ahead-where-the-ukraine

Petro, Nicolai (2022): The Tragedy of Ukraine. Boston: De Gruyter.

Stone, Oliver (2018): Die Putin-Interviews. Die vollständigen Abschriften. Rottenburg: Kopp Verlag.

 

Georg Auernheimer
Die strategische Falle
Die Ukraine im Weltordnungskrieg
191 Seiten, 16,90 € PapyRossa Verlag