Erinnerung an ein europäisches Ereignis

Grandola Vila Morena, so erklang es am frühen Morgen des 25. April 1974 aus dem portugiesischen Rundfunk. Grandola, braungebrannte Stadt. Heimat der Brüderlichkeit. Das Volk ist, wer am meisten bestimmt in Dir, o Stadt... Es war das verabredete Zeichen für den Sturz einer der letzten langlebigen Diktaturen in Europa durch die „Bewegung der Streitkräfte (MFA)“. Er begann als militärischer Staatsstreich einmal nicht von rechts, sondern von halblinks und links und mündete in den Versuch einer sozialen Revolution. Die Kriege, die das neokoloniale Portugal unter den Diktatoren Salazar und zuletzt Marcelo Caetano (1908-1980) noch in Afrika führte, loderten als zündender Funke zurück ins Mutterland. Eine kriegsmüde, besonders jüngere Offizierselite, die „capitaes“ (Hauptleute) schmiss ihr Unterdrückungshandwerk hin und wandte sich gegen die Diktatur. Portugiesische Armeen kämpften damals hauptsächlich noch in Guinea-Bissau, Angola und Mosambik, weiterhin portugiesisch okkupiert waren Sao Tome und Principe, Kap Verde, Macao und Portugiesisch Timor. Es kostete die einstige koloniale Seefahrt-Großmacht einen horrenden ökonomischen Preis, forderte zehntausende Menschenleben, verschliss die Armee und stellte einen Anachronismus dar. Der Umsturzplan von Armee-Befehlshabern und militärischen Führungsgestalten, die auf ihnen loyale Armee-Teile zählen konnten, war von langer Hand vorbereitet und abgestimmt. Zunächst mit allgemeiner Stoßrichtung der Beseitigung der Diktatur, des Endes des Kolonialismus und der Errichtung einer Demokratie. Portugal war Nato-Land. (Der EG trat es zusammen mit Spanien erst 1986 bei). Eine „rote“ Revolution schien darüber hinaus zunächst nicht in Reichweite.

Der militärisch eingeleitete Umsturz war eine pazifistische Meisterleistung. Die Botschaft der roten Nelken, die sich, überreicht von der Bevölkerung, vor allem den Blumenfrauen auf Märkten, viele Soldaten zum Zeichen ihrer Absicht, nicht zu schießen, in ihre Gewehrläufe steckten und an ihre Uniformen hefteten, stand für einen weitgehend friedlichen und gewaltlosen Übergang. Das war die von oben, von der progressiven Militärführung ausgegebene Parole. Diese Militärs hatten genug vom Blutvergießen und kolonialen Abschlachten, Ausbeuten und Unterdrücken. Eine ihrer herausragenden Köpfe war Major Otelo Saraivo de Carvalho, der als radikal linksorientiert galt. Aber auch Capitan Matos Gomez, der mit der kommunistischen Partei PCP sympathisierte, gehörte dazu. Eine widersprüchliche Rolle spielte der General Antonio de Spinola. Spinola war ursprünglich ein Mann des Regimes und diente diesem im Laufe seiner Karriere in mehreren wichtigen Positionen. Allerdings erkannte er während seiner Zeit als Oberbefehlshaber in Guinea-Bissau auch die Aussichtslosigkeit und den ganzen Anachronismus des Kolonialkrieges. Im Februar 1974 legte er diese Einschätzungen in seinem Buch (Portugal e o Futuro, Portugal und die Zukunft) öffentlich dar. Daraufhin wurde er seines damaligen Postens als stellvertretender Generalstabschef enthoben. Nach dem 25. April wurde dann bei den Kapitulationsverhandlungen, die der aufständische MFA mit dem Diktator Caetano führte, eine geordnete Machtübergabe an eine provisorische Regierung unter Spinola, der in gewisser Weise als neutral galt, ausgehandelt. Im weiteren Verlauf bildete Spinola den Gegenpol zu den linken Kräften im MFA. Im September 1974 trat er nach heftigen Auseinandersetzungen zurück und im März 1975 versuchte er zusammen mit rechten Kräften zu putschen, weil ihm der Aufstand mit seinen Folgen für die breite Masse zu weit ging.

Während der kurzen und begrenzten Umsturzwirren in der Hauptstadt Lissabon und anderen größeren Orten kamen nur vier Demonstranten bei einem Kasernensturm gewaltsam ums Leben, die von der Geheimpolizei PIDE erschossen wurden. Caetano wurde, von Soldaten abgeschirmt, in einem Panzerwagen aus einer Kaserne, wohin er sich geflüchtet hatte, weggebracht. Er verließ per Flugzeug das Land. Die über viele Jahrzehnte unterdrückten politischen und gesellschaftlichen Kräfte freilich waren entfesselt und formierten sich zu sozialen und ökonomischen Kämpfen mit- und gegeneinander. Aber das verlief im Großen und Ganzen ohne irgendwelches Blutvergießen und ausufernde Exzesse. Wo es ging und möglich war, förderte und schützte das Militär gemäß seinem Programm eine gesellschaftliche Veränderung im demokratischen Sinn. Wesentlicher Teil dieses Programms war das propagierte Bündnis „MFA-Povo“ mit dem Volk und mit der Landbevölkerung. Im Unterschied etwa zu dem nur einige Jahre davor stattgefundenen gewalttätigen Militärputsch in Griechenland (ebenfalls Nato-Mitglied) und zum blutigen Putsch und Terror des Generals Pinochet und seiner Schergen 1973 in Chile. Das MFA bildete Komitees, in denen neben Militärs in Offiziers- und Unteroffiziersrängen Zivilpersonen als Fachkräfte mitwirkten, die vor allem im ländlichen Raum die Alphabetisierung vorantrieben, eine bessere Gesundheitsversorgung organisierten und Agrarberatung betrieben.

Den einen war ein sozialistisches und kollektives Räte-Portugal ein politisches Ziel, den anderen ein geordneter Übergang zu einer bürgerlich-parlamentarischen Demokratie westlichen Zuschnitts. Wiederum andere bastelten an einer autokratischen Restauration der früher herrschenden Kreise und bestimmenden Eliten, das waren die Optionspole. Dazwischen wurden im Wesentlichen die Auseinandersetzungen geführt, die sich zuspitzten, je länger sie dauerten und sich ausweiteten.

Im portugiesischen Sog fiel letzten Endes 1975 auch die sich in langer Agonie befindliche Diktatur des faschistischen Generals Franco im benachbarten Spanien. Doch waren dort die Kräfteverhältnisse auch historisch bedingt anders konfiguriert. Franco übergab das Zepter an die Monarchie. Zwei Auseinandersetzungs-Terrains taten sich auf: die Hauptstadt Lissabon und das benachbarte Setubal mit einem relativ starken Proletariat aus Industrie-, Hafen- und Werftarbeitern der LISNAVE-Werft, die aktiv ihre Streikmittel einsetzten, einerseits. Zum anderen das Land, vor allem der mittig-südlichere Alentejo und die südliche Küstenregion der Algarve, teils von Fischfang und Tourismus lebend. Der Norden, etwa in der zweitgrößten Industrie-Stadt Porto und darum herum, war eher konservativ orientiert und rechts ausgerichtet. Dort befand sich vor allem die Energieindustrie mit großen Wasserkraftwerken und Staudämmen in den Bergen auch für die Landbewässerung. Je südlicher man in Portugal gelangte, desto trockener wurden die Regionen. Dort befanden sich damals große Korkeichenwälder und Olivenplantagen, der einstige, aber heute stark geschwundene Agrar-Reichtum Portugals. Ab den 1960er Jahren wanderten portugiesische Arbeitskräfte zu Zehntausenden als „Gastarbeiter“ in Länder wie Frankreich und Westdeutschland aus.

In diesem überwiegend bäuerlichen Alentejo fand oft unter Militärschutz zunächst eine staatlich geförderte Kampagne der Enteignungen (bei Entschädigung) von großem Grundbesitz mit dem Ziel einer Agrarreform, die das Land neu verteilte, und der Aufbau von zahlreichen gemeinschaftlichen Agrarkollektiven statt. Unterstützt von jeweiligen linken Gruppierungen und bekämpft von den Partei-Organisationen der Besitzenden und ihren bewaffneten Banden. Es gab regional vielerorts Prügel, auch Schüsse, Verletzte, demonstrative Aufmärsche und bedrohliche Gegenmanifestationen. Und es kam zu vielen, auch spontanen Landbesetzungen und lokalen Konflikten darum. Der soziale Machtkampf in den städtischen Metropolen, wo es zur Bildung von Arbeiter- und Stadtteilkommissonen (CT, CM) und immer wieder zu Betriebsbesetzungen kam, konzentrierte sich auf den Widerstreit politischer Parteien und Kräfte, die für die „Große Gesellschaftsreform“ eintraten und jenen, die sich ihr entgegenstellten, um möglichst wenig an den herrschenden Verhältnissen zu ändern oder geändert zu bekommen. Der Staatsstreich schwappte eigendynamisch über in eine prorevolutionäre Situation.

Über all dem hing wie ein Damoklesschwert die Nato, die einen Umsturz nach links ins sozialistisch-kommunistische Fahrwasser nicht hingenommen hätte, was allen, auch den linken Militärs, klar war. Portugal sollte kein europäisches zweites Kuba werden. Nichts desto trotz entfaltete sich davon unabhängig eine gesellschaftliche Dynamik, die über Monate nur schwer zu bestimmen und auszurechnen war, wohin sie in legaler politischer Verfasstheit, also gewählt und demokratisch, gehen und wie weit darüber hinaus ihr Atem reichen würde. Manchmal war die soziale Basis in Stadt und Land weiter als die Regierungs- und Parteipolitik. Dies spiegelte sich in teils unterschiedlichen, oft instabilen Regierungsbündnissen wider. Mehrere Regierungen, teils mit Beteiligung linker Kräfte, vor allem der PCP, wechselten beinahe monatlich bis vierteljährlich.

Die Schritte zu Sozial- und Agrarreformen zugunsten der breiten Bevölkerung hatten mächtige und einflussreiche Widersacher. Es war ein klassischer gesamtgesellschaftlicher Binnen- und Interessenkonflikt mit ungewissem Ausgang. Es tobte über Monate ein sozialer und politischer Klassenkampf. Von radikal links mit extrem rechts, von gemäßigt links mit gemäßigt rechts und quer dazwischen. „Doppelherrschaft“ könnte man es auch bezeichnen, die das gesellschaftliche Gefüge zeitweilig zu sprengen und zu lähmen drohte.

Es kam aber nicht zur großen Zuspitzung, sondern vielmehr, unter vielerlei Druck, sei es militärisch/strategisch von der Nato oder wirtschaftlich von der EG, zu einer Stabilisierung auf dem Weg zu „normalen“ westeuropäischen Verhältnissen. Damit wurden zwar drohende Szenarien wie eine erneute rechte Diktatur oder eine Nato-Intervention vermieden, aber es mussten auch die Hoffnungen auf alle weiter gehende Ziele wie etwa auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, der für nicht wenige auf der Tagesordnung zu stehen schien, aufgegeben werden. Der niedergeschlagene Prager Frühling lag noch nicht lange zurück, vor kurzem war Allendes legale „Poder Popular“ (Volksmacht) in Chile gewaltsam beendet worden. Gemäßigt sozialistische, radikal linke und kommunistische Kräfte um die nach Moskau orientierte PCP (Alvaro Cunhal) konnten sich weder entscheidend verständigen noch einigen, sondern zerrieben sich in Konkurrenzkämpfen um Einfluss und die „richtige“ Ideologie zur Bestimmung von Strategie und Taktik. Es fehlte der Linken an Einheit, an einer integrierenden führenden Persönlichkeit und der politischen Durchsetzungskraft. Die PCP allein konnte diese nicht herstellen, zu diffus waren Gesellschaft und Arbeiterschaft segmentiert und polarisiert.

Die sozialdemokratische PS (Sozialistische Partei) des aus dem Exil zurückgekehrten Rechtsanwalts Mario Soares, enge Partnerin der deutschen SPD, wurde von dieser finanziell gefördert und politisch unterstützt. Sie spielte eine wichtige, wenn auch unrühmlichen Rolle bei der Abwehr von sozialistischen Bestrebungen, bei der Verteidigung und Festigung der kapitalistischen Wirtschaftsverhältnisse unter dem Deckmantel der Bewahrung der „Demokratie“. Demokratie, basisdemokratisch oder gar revolutionär verstanden, hatte das Nachsehen. Willy Brandt war ein entschiedener Befürworter und Unterstützer der repräsentativ-demokratischen Normalisierung Portugals und damit der klaren Absage an jedwede revolutionären Experimente. PS und SPD waren auf Antikommunismus- und letztlich Antisozialismus-Kurs. Die Angst vor einer „Sowjetisierung“ Portugals spielte damals im Kalten Krieg in der West-Ost-Blockkonfrontation eine maßgebliche Rolle. Doch übte Moskau zu keinem Zeitpunkt einen auch nur irgendwie bestimmenden Einfluss auf die portugiesische Entwicklung aus, was man von den USA, der Nato oder der EG nicht behaupten konnte. Die „fünfte Kolonne“ befand sich auf westlicher Seite.

 

Was ist als historisches Fazit der Nelkenrevolution festzuhalten?

Sie war zunächst ein großer Aufbruch des völlig entmündigten portugiesischen Volkes zu neuer Freiheit. Sie markierte ferner das Ende des portugiesischen Kolonialismus, auch wenn es danach in der Folge besonders in Angola zu einem lange anhaltenden Bürgerkrieg kam, genährt auch durch den Ost-West-Konflikt. Sie führte in einem schwer umkämpften Übergang zu einer allgemeinen Demokratisierung des Landes. Sie wirkte wie ein Signal an die internationale wie deutsche Linke. Sie zeigte, dass unter bestimmten Bedingungen die Frage nach Alternativen und auch nach Sozialismus gestellt werden kann. Progressives Militär griff weitgehend ohne aktive Waffengewalt, Unterdrückung oder Verfolgung in eine politische Entwicklung ein und vollzog einen friedfertigen Staatsstreich zur Beseitigung einer Diktatur. Dies eröffnete politische und soziale Spielräume und gestalterische Optionen, ja sogar für soziale Experimente (Betriebs- und Landkollektive) unter militärischem Schutz! Das COPCON, das militärische Kontinentalkommando der MFA, sollte dies garantieren und koordinieren. Auch sonst gab es eine Reihe von Militärformationen, darunter auch Eliteeinheiten, auf die sich das Movimiento de Forças Armadas verlässlich stützen konnte. Parallel wählten und delegierten Soldaten und Mannschaften in ihren eigenen Einheiten Soldatenräte, die sich zum SUV, „Vereinte Soldaten werden siegen“, zusammenschlossen.

Das MFA, die „Bewegung der Streitkräfte“, war als revolutionär angetretenes Übergangsorgan keine einheitliche Kraft, sondern spiegelte in sich die gesellschaftlichen Widersprüche. Ebenso verhielt es sich mit dem COPCON. Die Streitkräftebewegung war, von gewissen Allianzen abgesehen, nicht selbst politisch gestaltend tätig, sondern überließ dies den zivilen Kräften und Strukturen, die sich demokratisch neu formierten. Die MFA verstand sich mehr als Wächterin für diesen Prozess. Sie war aber auch fortexistierenden Geflechten von Machtbeziehungen der alten Ordnung ausgesetzt. Und sie war in sich gespalten und konnte deshalb nicht immer einheitlich auftreten. Personen wie der progressive Carvalho konnten sich nicht nach vorne positionieren, sondern wurden am Ende ausgeschaltet und sogar angeklagt. Zu einem zeitweilig befürchteten, durchaus nicht undenkbaren Bürgerkrieg bewaffneter, einander bekämpfender Parteien und Gruppierungen kam es dennoch nicht. Einzelne Scharmützel mit solchem Charakter waren nicht ausgeschlossen. Die Entwicklung war mitunter zum Zerreißen angespannt, es gab Bangen und Hoffen.

Die deutsche und europäische Linke entsandte tausende Erntehelfer:innen und Aktivist:innen, die vor allem die agrarkollektiven und sozialkooperativen Bestrebungen unterstützen und stärken sollten. Eigene Revolutionsvorstellungen wurden auf den Kampf in Portugal projiziert. In Westdeutschland entstand ein Netzwerk von Portugal-Solidaritätskomitees, die in zahllosen Veranstaltungen und Flugblatt-Aktionen vor allem Aufklärungsarbeit leisteten, den Revolutionsgedanken bewarben und Geld sammelten. Jede politisch linke Gruppierung hier hatte ihre „Lieblings“-Adressaten und Partner im entsprechenden portugiesischen linkspolitischen Spektrum. So kooperierte und bezog sich etwa das Sozialistische Büro auf das MES, die bedeutendste linkssozialistische Bewegung. Dann gab es verschiedene linke Splittergruppen: Die LCI-Liga und LUAR wiederum waren Ableger der trotzkistischen Internationale, MRPP und PRP-BR betrieben ML-Parteiaufbau oder bereiteten sich auf einen bewaffneten Kampf vor. Die kontroversen Debatten dort hatten ihren Widerpart in den strittigen Diskussionen hierzulande. Delegierte aus Betrieben und linken Projekten in Portugal tourten in Rundreisen durch Westdeutschland und West-Berlin, um aus erster Hand über die Lage vor Ort zu berichten und den Stand der Entwicklung zu diskutieren.

Nato und EG hielten sich zwar vordergründig zurück, aber zogen doch unzweifelhaft die entscheidenden Strippen hinter den Kulissen. Man drohte etwa mit stattfindenden Nato-Manövern, die USA verfügten über Militärstützpunkte im Land und einen Luftstützpunkt auf den Azoren, die zu Portugal gehören. EG-Gelder flossen zugunsten einer „freien Wirtschaft“ und von Konzern- und Unternehmensinvestitionen. Die Bewegung der Streitkräfte büßte an Einfluss ein, war immer weniger zu einheitlichem Handeln fähig und zerfiel allmählich in ihre Fraktionen, die die Oberhand gewannen und sich gegenseitig blockierten und befehdeten. Befehls- und Gehorsamkeits-Strukturen wurden reinstalliert, etablierte Soldatenräte wieder beseitigt. Einzelne Armee-Teile traten nun aktiv den Linkstendenzen in Militär und Gesellschaft entgegen. Die deutsche Sozialdemokratie spielte eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung des „demokratisch-parlamentarischen“ portugiesischen Wegs und setzte ihre Programmatik der aufkeimenden, basisdemokratischen Mobilisierung und Organisierung von unten entgegen.

Ab etwa Mitte bis Ende des Jahres 1976 war der Kampf um die politische Macht so gut wie entschieden. Vielen war der revolutionäre Elan abhandengekommen. Ernüchtert musste man den Realitäten, der sich mit Macht neu etablierenden Ordnung ins Auge sehen. Portugal begab sich auf den Weg zur bürgerlichen Demokratie. Nach und nach konnten so Errungenschaften der Revolution, etwa in Teilen die Agrarreform, auf gesetzlichem Weg durch Mehrheiten rückgängig gemacht und abgeschafft werden, um frühere Besitzverhältnisse wieder herzustellen. Die Nelkenrevolution in ihrer Doppelnatur begann als Revolution, entwickelte weitreichende Ambitionen und etablierte aber letztlich ein bürgerlich-demokratisches Portugal. Das trägt die Tragik einer verpassten Chance in sich. Vielleicht bleibt die Erinnerung an diese Chance und die Hoffnung auf eine friedliche und humane Revolution auch im kollektiven Gedächtnis. Andererseits sollte man die Entwicklung in Portugal nach 1974 auch nicht verklären. Es konnten damals nur Ansätze in Richtung auf eine zum Kapitalismus alternative Gesellschaft erreicht werden. Die entscheidenden Schritte, die die (Macht-)Verhältnisse wirklich verändert hätten, wurden nicht gegangen. Es ist auch zweifelhaft, ob unter den historischen Voraussetzungen und den gegebenen Bedingungen ein solcher Kampf hätte erfolgreich geführt werden können.

© EK/HB, 20. Mai 2024.

 

Literatur:

Sozialistisches Büro Offenbach: Portugal – Auf dem Weg zum Sozialismus? Offenbach 1975;

Otelo Saraiva de Carvalho: Anklage und Verteidigung. Der Prozess gegen die Nelkenrevolution. Frankfurt 1989;

Redaktion A Ideia: Alternative sofort!“ Ein libertäres Programm am Beispiel Portugals. Wien 1980;

Charles Reeve: Die portugiesische Erfahrung. Das putschistisch-militärische Konzept der Sozialen Revolution. Hamburg o.J.;

Paul M. Sweezy: Klassenkämpfe in Portugal: In: Monthly Review, Heft 5/1975 (1. Jg.), S. 1-23;

Ders.: Klassenkämpfe in Portugal, II. Teil. Monthly Review, Heft 6/1975 (1. Jg.), S. 13-31;

Jaime Semprun: Der soziale Krieg in Portugal. Hamburg 1975;

Urte Sperling: Die Nelkenrevolution in Portugal. Köln 2014;

Klaus Steiniger: Portugal im April. Chronist der Nelkenrevolution. Berlin 2011;

Der Autor verfasste in der marxistischen Zeitschrift ‚Arbeiterstimme‘ einen zweiteiligen Artikel „Portugal im revolutionären Aufbruch 1974/75“, Teil I, Ausgabe Herbst 2014, Nr. 185; Teil II, Winter 2014/15, Nr. 186. Die beiden Zeitungsausgaben können online als Download bezogen werden über: www.arbeiterstimme.org > Archiv.