In 100 Jahren vom Ärztestreik zum Privat-Equity-Investment

Der Ärztestreiks 1923/24 endete mit einer Niederlage der meist reaktionären Ärzteschaft und war zugleich die Geburtsstunde der Polikliniken. Die Folge eines reaktionären Streiks waren durchaus fortschrittliche Entwicklungen im Sinne einer besseren Patientenversorgung. Jetzt, Jahrzehnte nach der Abwicklung der ostdeutschen Polikliniken im Zuge der Wiedervereinigung, kehren sie nach 100 Jahren in Form von Medizinischen Versorgungszentren zurück – allerdings überwiegend einer kapitalistischen Logik von Profitmaximierung unterworfen.

Von September 1923 bis Januar 1924 streikten in der Weimarer Republik die niedergelassenen ÄrztInnen, d.h. sie akzeptierten die Krankenscheine der KassenpatientInnen nicht mehr, sondern waren nur noch auf private Rechnung tätig. Hintergrund waren heftige Auseinandersetzungen über Vergütung und staatliche Eingriffe in die ärztliche Souveränität. Eine unmittelbare Folge des Ärztestreiks war die Einrichtung von Ambulatorien und Polikliniken in der Regie der Kassen, die damit die Behandlung ihrer KassenpatientInnen sicherstellten. Während konservative und reaktionäre Teile der Ärzteschaft den Streik unterstützten, beteiligten sich linke und sozialistisch orientierte Ärzte eher am Aufbau der Polikliniken und wurden von ihren KollegInnen dafür angefeindet.

In den folgenden knapp zehn Jahren entwickelten sich umfangreiche ambulante und stationäre medizinische Einrichtungen der Krankenkassen. Mit der Machtübertragung auf den deutschen Faschismus fand diese Entwicklung ein jähes Ende.

In der BRD wurde in der Adenauerzeit die Rolle des ambulant tätigen niedergelassenen Arztes wieder gestärkt und mit dem Kassenarztrecht von 1955 in eine nahezu monopolistische Stellung überführt.

Die DDR ging demgegenüber den umgekehrten Weg. Die ambulante ärztliche Versorgung war fast ausschließlich über die Ambulatorien oder die größeren Polikliniken (Fachärzte, Allgemeinärzte, Zahnärzte, Apotheke und Labor unter einem Dach) abgedeckt. 1989 gab es knapp 21.000 ambulant tätige Ärzte, nur 340 waren in eigener Niederlassung tätig. (Einzelheiten und Zahlen nach Hofemann, Klaus: ‚Die Privatisierung der ambulanten Versorgung, http://www.med.uni-magdeburg.de/jkmg/wp-content/uploads/2013/03/JKM_Band19_Kapitel4_Hofemann.pdf)

Mit der Wiedervereinigung wurde das staatlich getragene System der Polikliniken und Ambulatorien der DDR abgewickelt und das Monopol privatwirtschaftlicher Leistungen in der ambulanten ärztlichen Versorgung auf Ostdeutschland ausgedehnt. 15 Jahre später, unter der Rot-Grünen Regierung Schröder und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), wurde dann der Weg geebnet, den ambulanten Gesundheitssektor für Investoren zu öffnen. Das war eine in diesem Bereich bis dahin unbekannte Entwicklung.

Seit 2004 ist es in Deutschland zulässig, Medizinische Versorgungszentren (MVZ) zu gründen und es ist darüber hinaus möglich, dass fachfremde Personen (nicht nur Ärzte, Apotheker etc.) als Investoren auftreten. Zunächst waren fachgleiche MVZ (also z.B. Augenarzt-Ketten) ausgeschlossen, nur Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen (also z.B. Orthopäde und Radiologe) konnte sich zusammenschließen.

So richtig Bewegung in die MVZ-Gründung kam aber erst, nachdem im Jahr 2014 auch fachgleiche MVZ zugelassen wurden. In den folgenden Jahren stieg die Zahl der MVZ-Gründungen stark an, Ende 2020 gab es bundesweit bereits beinahe 4000 MVZ.

Die Zahl der in MVZ tätigen ÄrztInnen betrug etwa 24.000 (im Vergleich dazu etwa 50.000 in Einzel- und 90.000 in Gemeinschaftspraxen.

(siehe dazu: https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-ausverkauf-der-ambulanten-versorgung-49318.htm)

 

A Golden Opportunity - Finanzialisierung der sozialen Reproduktion

Der Münchener Unternehmensberater McKinsey & Company hat 2017 in einem Strategiepapier für Investitionen in der Gesundheitsbranche geworben. Der Titel des Papiers lautet ‚European healthcare – a golden opportunity‘. Goldgräberstimmung also bei den Investoren.

Die Eigentumsverhältnisse der zahlreichen MVZ sind nicht immer klar ersichtlich. Die Zahl der von Investoren geführten MVZ steigt aber auf jeden Fall rasant an. Deutschland gibt es derzeit ca. 90 ‚Ketten‘ medizinischer Einrichtungen, die von Privat-Equity-Unternehmen übernommen wurden, 45 im ambulanten Bereich, 6 Krankenhausketten, 18 Pflegedienste und Pflegeheime, 5 in der Rehabilitation und 3 Labore. Im Pflegesektor sind ca. 80.000 Beschäftigte in Einrichtungen tätig, die Privat-Equity-geführt sind.

In einer Untersuchung für die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns aus dem Jahr 2020 zeigte sich, dass von den ca. 600 bayerischen MVZ etwa 10% Private-Equity geführt sind. Tendenz auch hier rasant steigend.

(Zahlen nach Buzek und Scheuplein. Der Münsteraner Stadtgeograf Richard Buzek hat zusammen mit Christoph Scheuplein umfangreiche Untersuchungen zum Thema publiziert)

Dabei wird von den Investoren – im Falle des Gesundheitswesens überwiegend von nicht börsennotierten Private-Equity-Gesellschaften – Anlage suchendes Kapital eingesammelt und in Einrichtungen der Sozialen Vorsorge investiert (Rente, Pflege- oder Reha-einrichtungen, Arztpraxen etc.), die vornehmlich über zeitlich begrenzte Fonds Geld von Anlegern einsammeln und damit z.B. eine bestehende Arztpraxis oder ein MVZ aufkaufen, mit anderen Praxen oder MVZ zusammenfügen und Ketten von MVZ bilden (beispielsweise im Münchener Raum die Augenarzt-Kette Smile Eyes) und nach wenigen Jahren gewinnbringend weiterverkaufen. Der Weiterverkauf findet häufig erneut an einen Investor statt, und die Sache geht von vorne los. Die Haltedauer liegt bei wenigen Jahren, die Rendite liegt in der Regel im zweistelligen Bereich. Ca. 75% der Privat-Equity haben ihren Sitz in Steueroasen, d.h. Krankenkassenbeiträge fließen weitgehend unversteuert in die Taschen von Investoren.

Mutmaßlich handelt es sich erst um den Beginn der Finanzialisierung der ambulanten Gesundheitsversorgung. Im Gegensatz zur Privatisierung der Krankenhäuser ist dieser Bereich nicht so sehr im Focus der Öffentlichkeit.

Dabei sind die Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung erheblich. Renditeorientierung und Gewinnmaximierung sind die Folgen des Einstiegs von Investoren. Die bisherige Empirie zeigt, dass dies naturgemäß nicht zu Einsparungen im Gesundheitswesen führt, sondern im Gegenteil zu Mehrausgaben. Auch die Selbstbeteiligungskosten für die Kunden, also die Patienten, werden weiter steigen.

 

Gegenentwürfe zur Finanzialisierung des Gesundheitswesens

Als Sofortmaßnahme leuchtet ein, dass Investoren die Möglichkeit zur Kapitalanlage im Gesundheitswesen wieder entzogen werden muss. Eine entsprechende Gesetzesinitiative wurde von Gesundheitsminister Lauterbach angekündigt. Man darf gespannt sein, was daraus wird.

Kommunale MVZ

Inzwischen existieren auch ein ganze Reihe kommunaler MVZ oder vergleichbarer Einrichtungen. Im Idealfall fungiert die Kommune als Arbeitgeber und stellt das medizinische Personal an, allerdings gibt es auch hier in der Realität Kooperationen mit Konzernen.

Polikliniksyndikat

Aus linker Perspektive sind solidarische Gesundheitszentren wie das Polikliniksyndikat eine spannende Alternative, die es bereits in verschiedenen deutschen Städten wie Hamburg, Berlin, Dresden Leipzig oder Köln gibt. Das Augenmerk liegt auf den Bedürfnissen der PatientInnen. Gewinn und Rendite spielen keine Rolle. In Deutschland ist dies freilich bisher nur eine Randerscheinung

Dass vergleichbare Einrichtungen der solidarischen kostenlosen Gesundheitsversorgung auch in Europa in größerem Umfang möglich sind, zeigt das Beispiel der MPLP (Organisation Medizin für das Volk), in Belgien, die der dortigen Partei der Arbeit (PTB/PvdA) nahesteht. Nach jahrzehntelangen und am Ende erfolgreichen Kämpfen gegen unterschiedliche belgische Regierungen und ärztliche StandeskollegInnen versorgt die MPLP heute 25.000 PatientInnen ín 11 Gesundheitszentren regelmäßig mit hervorragender und kostenloser Medizin. (Weitere Einzelheiten finden sich in der Arbeiterstimme Nr. 220 aus dem Jahr 2023)

Dr. K. B. Juni 2024