Wir haben uns in den letzten Ausgaben der Arbeiterstimme verstärkt mit den gesellschaftspolitischen Verhältnissen in Deutschland, die erkennbar in Bewegung geraten sind, beschäftigt. Exemplarisch genannt seien Stellungnahmen zum Erstarken der AfD, zur Krise der LINKEN (beide Winter 2023), zu den Massendemonstrationen gegen die AfD oder auch zur Halbzeitbilanz der Ampelkoalition (beide Frühjahr 2024). Dies hat sich nicht zufällig so gehäuft, sondern ist Ausdruck dessen, dass das gewohnt „ruhige“ Wüten des Kapitalismus hierzulande an seine Grenzen gestoßen ist. Wir treten gegenwärtig in eine Phase mit Entwicklungen ein, deren Ausgang unsicherer denn je geworden ist. Der Verweis auf die letztliche Dominanz des westlichen Kapitalismus, der die Krisenlasten wie gewohnt nach unten und - global - nach Süden abschiebt und im Gegenzug die Lebensbedingungen der Bevölkerung des entwickelten Westens „schont“, ist brüchig geworden. Die Systemfrage dreht sich nicht mehr um ein bürgerlich-demokratisches versus sozialistisches Gesellschaftskonzept, sie wird in einer Art Light-Version von oben angeboten und stellt die Geschäftsgrundlage des Regierungshandelns neu auf. Wo bislang die Verfahrensweisen der Demokratie, das Sozialstaatsgebot und generell „unsere Werte“ den Markenkern der Bundesrepublik konsensual bildeten, dort reißen jetzt Lücken auf.
Das Bürgergeld als Testfeld für den Sozialstaat
Wer erinnert sich noch an die lebhafte Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen? Kein Jahrzehnt ist es her, dass die großen Parteien und Verbände ihre Pflöcke in dieser Frage eingeschlagen haben. Mal dafür, mal dagegen. Die LINKE hatte das Grundeinkommensmodell befürwortet (die Arbeiterstimme war mit guten Gründen dagegen, aber das nur nebenbei), weil es für linkes Denken zumindest reizvoll sein kann, Existenzsicherung unabhängig von Lohnarbeit und staatlicher Gängelung, die gerne in Demütigung ausartet, zu sehen.
Dieser Gedanke ist in der heutigen öffentlichen Diskussion nicht mehr zu finden. Als hätte es ihn nie gegeben. SPD, GRÜNE und FDP waren sich im Koalitionsvertrag 2021 noch einig: „Anstelle der bisherigen Grundsicherung (Hartz IV) werden wir ein Bürgergeld einführen. Das Bürgergeld soll die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein.“ (Koalitionsvertrag 2021, S.59) Seit dem Beschluss über die Neufassung wird über das Bürgergeld gestritten, seine Inhalte dienen als Steinbruch für diejenigen, die sozialpolitisch die Daumenschrauben anziehen wollen. Die Hatz auf die Leistungsempfänger, die am unteren Rand der ach so freien Gesellschaft existieren müssen, ist sowohl innerhalb der Regierungskoalition wie auch der C-Parteien angesagt, die Medien dienen als bereitwilliges Sprachrohr. Das Leben in Würde ist weiter denn je entfernt. Der Inflations“ausgleich“, der 2024 zu einer Aufstockung des Single-Regelsatzes auf 563 € geführt hat, wird im nächsten Jahr, nach Ankündigung von Arbeitsminister Heil, keine Fortsetzung finden. Die gegenwärtige Inflation rechtfertige keine Erhöhung, weil die Preissteigerungsrate gesunken sei. Dass es sie aber noch gibt und sie bei den Grundbedürfnissen besonders zuschlägt, findet keine Erwähnung mehr. Der Protest der Sozialverbände wird zu den Akten gelegt, FDP und CDU sind besonders zufrieden und der SPD sowie den GRÜNEN ist es zunehmend egal. Vielleicht kann man sich für die eigene Wählerklientel wieder attraktiver sparen und auch manchen Sozialneider zurückgewinnen. Schließlich soll auch das Lohnabstandsgebot Beachtung finden. Wer würde denn noch für (wenig) Geld arbeiten, wenn Bürgergeld und Wohnkostenübernahme bzw. -zuschuss gleich viel oder sogar mehr einbringen? Typisch für die Verrohung des Sozialsystems ist, dass nicht die skandalösen Niedriglöhne thematisiert werden, sondern die angeblich zu hohen Sozialleistungen. Der „unkomplizierte“ Zugang zum Bürgergeld, der mit einem Hauch von Entbürokratisierung gewürzt war, ist längst der vorher üblichen Ochsentour gewichen. Der Bezug von Bürgergeld kann ausgesetzt werden, wenn die Meldeauflagen vor dem Arbeitsamt oder einem „zumutbaren“ Jobanbieter verletzt werden, das „Schonvermögen“ gilt entgegen dem Koalitionsvertrag nur mehr ein Jahr lang als verschont. Sanktionen und Offenlegung der persönlichen Verhältnisse gegenüber dem Staat entfalten sich wie früher in schönster Blüte. Das biblische „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ gibt den Ton in einer Gesellschaft an, die rabiater geworden ist in ihren Forderungen und abgestumpfter in ihrer Bereitschaft, Einschnitte für Arme zu akzeptieren. Das Wirtschaftswachstum stagniert im besten Falle, die Arbeitslosenzahlen steigen noch sanft, aber stetig, das Rentenversicherungssystem ist in sich krisenhaft und „nebenher“ wollen auch die Rekordansprüche des Militärs, der Rüstungskonzerne und diejenigen der kriegführenden Ukraine bedient werden. Die Bevölkerung erlebt, dass diesen Zusagen eine Finanzierungskrise gegenübersteht, wie sie beispielsweise im nicht gedeckten Haushaltsentwurf der Ampelkoalition für 2025 Ausdruck findet. Die Mehrheit zieht aber nicht den Protest gegen soziale Kürzungen in Betracht, sondern wählt Parteien, die Einsparungen gerade in diesem Bereich befürworten. Wenn aber Belastungen auf die mittleren Schichten zukommen, dann sollen diejenigen, denen es schlechter geht, auch nicht (relativ) bessergestellt werden. Denn Hilfe werde ja immer noch gewährt, dann sollen die „wirklich“ Bedürftigen halt zur Tafel gehen. Dies setzt die Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg auf ihrer website (https://www.lpb-bw.de/regelsatz-buergergeld; Stand 09.09.2024) in eine Liste von Leistungen um, die vom Gesetzgeber „gewährt“ werden: „Grundsätzlich können beim Bezug von Bürgergeld die Tafel besucht und die entsprechenden Angebote wahrgenommen werden. Die Hilfebedürftigkeit muss vor Ort nachgewiesen werden, dazu dient beispielsweise der Bürgergeld-Bescheid.“
Robustheit ist angesagt im Verhältnis zwischen den Schichten, ebenso zwischen Regierenden und Regierten. Leider entspricht dies nicht dem Klassenkampf, in dem die Hauptklassen ihre antagonistischen Widersprüche austragen. Noch nicht, so bleibt zu hoffen.
Und ewig stört das Asylrecht
„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Bis 1993 bestand der Artikel 16 GG aus diesem Satz. Mit einer Mehrheit von 80% der Abgeordneten änderte der Bundestag die Grundordnung zum Artikel 16a ab, neben der schwarz-gelben Koalition jener Zeit stimmte auch die damals-noch-Volkspartei SPD mehrheitlich zu. Seit dreißig Jahren gibt es Asyl nur mehr unter gewissen, eng und enger gefassten Voraussetzungen. Und trotzdem – oder gerade deswegen – reichen die Restriktionen und Verschärfungen nicht aus. Bei jedem Ereignis, bei dem die Täter arabischen, eher noch allgemein moslemischen Hintergrund aufweisen, wird die Empörungswelle erneut losgetreten. Forderungskataloge überbieten sich gegenseitig an Grausamkeiten. Dem wird von der „bürgerlichen Mitte“, weder von denen, die sich dazu bekennen, noch von den Parteien, die sich die bürgerliche Mitte auf die Fahnen geschrieben haben, Einhalt geboten. Und die Medien machen wieder einmal alles mit.
Wie waren die Anti-AfD- Demonstranten am Anfang des Jahres 2024 noch von der eigenen demokratischen Reife gerührt! Das Schutzrecht gehört offensichtlich nicht dazu, wenn es sich auf Verfolgte und Notleidende aus Ländern bezieht, die das Wirken westlicher Demokratien in ihrer Heimat durchleben mussten.
Es ist aber auch lästig, von einem Grundrechtsartikel, der sich der Quantifizierung der Berechtigten entzieht, in seinem Handeln gebunden zu sein. Dabei war der Artikel 16 GG über Jahrzehnte ein Aushängeschild deutscher Entnazifizierung und zur gleichen Zeit Kampfmittel im Kalten Krieg. Woher sollten sie denn kommen, die politisch Verfolgten, wenn nicht aus dem sozialistischen Machtbereich? Solange die Grenzen weitgehend dicht waren, war die Anzahl der Geflohenen kein Problem.
Und der Fluchthelfer und Schleuser war ein hochgeachteter und -dekorierter Freiheitsheld, wenn er DDR-Bürger nach Westen bugsierte.
Nun, diese Zeiten sind unwiederbringlich vorbei und die Herkunftsländer der Fliehenden sind andere geworden. Die Verbringung von illegal Einreisenden auf deutsches Gebiet wird als grenzüberschreitende Kriminalität verfolgt und mit Gefängnisstrafen geahndet.
Der Eindruck hat sich verfestigt, dass es statthaft geworden ist, auf die Geflüchteten verbal einzuprügeln, nur mehr mit Unterstellungen, Verleumdungen, Verallgemeinerungen und unverbrämtem Rassismus zu arbeiten. Die bürgerliche Mitte möchte ihre Wähler zurück, deshalb wird ein Grundrecht geschleift, dass es nur so eine Art hat. Sachkenntnis und die Gebundenheit an die angeblich so gemeinschaftsbildenden Werte zählen nicht mehr. Und die Wahlbevölkerung scheint der Politik diesen Gefallen zu tun: in einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen zu den wichtigsten Themen führt das Problemfeld Flüchtlinge/Migration mit 45% (06.09.2024) die Liste an. Dreimal häufiger steht das Thema auf der deutschen Mängelliste als das nächstwichtigste. Der Druck aus der Bevölkerung ist vorhanden, doch wird er gewaltig verstärkt durch die anhaltende mediale Verbreitung. Jeder Politikerin und jedem Politiker, denen zündende Formulierungen einfallen, wie man Flüchtlinge abschreckt, behindert und demütigt, stehen die Mikrofone offen.
Dabei gibt es auch Konjunkturen der Grausamkeiten. So war vor wenigen Jahren eine Kampagne der CSU über die Öffentlichkeit hinweggerauscht, in der eine Obergrenze für die Geflüchteten eingefordert wurde. 200 000 Personen sollten das Maximum sein. In der Tat wurden im letzten Zehn-Jahres-Durchschnitt knapp 290 000 Anträge gestellt, eingerechnet die Spitzen in den Jahren 2015/16 mit zusammen 1,2 Millionen. Man kann davon ausgehen, dass außerhalb solcher Sondersituationen die Zahlen beherrschbar sind, wenn man sich nur um die dringenden Erfordernisse kümmern würde und die Menschen nicht in irgendwelchen Sammelunterkünften verrotten ließe, anstatt ihnen die Sprache beizubringen und sie beruflich zu qualifizieren.
(Hilflos ist es übrigens, die Frage nach dem 200 001. Flüchtling zu stellen. Hier agieren die Hilfeleistenden viel zu defensiv angesichts der Zumutungen und Fallstricke, mit denen sie und ihre Schützlinge zu tun haben.)
Aber zurück zur Obergrenze von 2024. Im demokratischen Unterbietungswettbewerb sind Anfang September der Möchte-gern-Kanzler Söder und der Möchte-gern-Finanzminister-bleiben Lindner nach vorne geprescht: eine Zahl „unter 100 000“ sollte die Aufnahmegrenze bilden. Das würde beinhalten, dass die Fluchtsituation von 2012 und früher wieder hergestellt werden müsste. Kein Arabischer Frühling, kein Machtwechsel in Afghanistan, keine Interventionen in Syrien und so weiter. Realistisch ist das nicht und die westlichen Interventionspläne gerade im Nahen Osten lassen keine Entspannung bei den Fluchtursachen erwarten. Wenn aber die Anzahl der Flüchtenden aus den genannten Gründen nicht sinkt, wird der Druck auf die europäischen und damit auch auf die deutschen Grenzen nicht nachlassen. Die Vorstellung, man müsse an den Grenzen nur zurückweisen, dann käme keiner mehr,
ist nicht nur naiv, sie ist auch eine billige Lüge der politisch Verantwortlichen. Zum einen wäre die Absicht nur umsetzbar, wenn sie den personellen Apparat dafür ausweiten. Zum anderen bleibt die Frage, wohin die Menschen zurückgehen sollen. Die europäischen Nachbarn werden sich herzlich bedanken. Und dann kam noch der Gedanke auf, dass „Rückführungen“ von Abgelehnten in ihre (vermutlichen) Herkunftsländer eine prima Idee seien. Gespeist wurde diese Vorstellung einmal vom Wahlkampf der AfD, wenn Höcke das Bild ungezählter „Abschiebeflieger“ malt, die im Stundentakt vom Erfurter Flughafen starten. Gerade noch perfider folgte dann wenige Tage vor der Thüringen-/Sachsenwahl die Nachricht, dass 28 Straftäter nach Kabul ausgeflogen wurden. Den Ampelparteien hat dieses schäbige, durchsichtige Wahlkampfmanöver nichts mehr gebracht. Wenigstens das kann man zufrieden feststellen.
Bei diesem Thema geben die niedrigsten Instinkte das Niveau vor, das wirkt im Zusammenspiel mit den diversen Krisen, Verschlechterungen und düsteren Erwartungen auf die Mittelschichten zurück. Sie merken, dass die politische Führung anfällig geworden ist, wenn ihre Regierungsspielchen nicht mehr so einfach aufgehen, weil neuartige Mehrheitsverhältnisse auftreten. Deren reflexhafte Schuldzuweisungen, ihr Maulheldentum und die ewig gleichen Phrasen stoßen wachsende Wählerschichten zwar ab, sie wecken aber auch die Erwartung, dass tatsächlich „durchgegriffen“ werden muss.
So gelten Bezahlkarten statt dürftig Bargeld als praktikabler Versuch, dem Flüchtlingsstatus die Attraktivität zu nehmen. Auch dürfen sie mit der wenigen Staatsknete die zurückgebliebenen Familien nicht mehr unterstützen. Generell werden die guten Gründe, warum Menschen fliehen und dabei ihr Leben riskieren, hier nicht ernst genommen. Unterstellt wird ihnen, dass sie das Sozialnetz in Deutschland ausnutzen, gerne deutsche, natürlich blonde Frau belästigen, den Islam, wahrscheinlich auch das Kalifat mit Messern und Bomben durchsetzen wollen. Diese absurden Vorstellungen werden von den Verantwortlichen nicht zurückgewiesen, die Diskussion über Migration wird nicht auf eine rationale Basis gestellt. Die politisch Verantwortlichen reiten die Konjunktur, weil sie Angst haben, sonst abgeworfen zu werden. Dabei werden die rechtlichen Standards ausgehöhlt, um sie später, bei Gelegenheit, abzusenken oder ganz zu schleifen. Das gilt auch als der neue Realismus, der gegen die alte „Naivität“ der Gutmenschen, der Friedensbewegten, der Putinversteher und was der abwertenden Bezeichnungen noch mehr sind, in Stellung gebracht wird.
Realistisch ist es also nach heutiger Lesart, die Regime in Afghanistan und Syrien zu ächten und zu boykottieren, aber doch über sichere Fluchtorte in diesen Ländern zu schwadronieren und, der Anfang ist gemacht, dorthin abzuschieben. Ganz ohne Gespräche und Vereinbarungen mit den „Diktatoren“ dieser Region wird das wohl nicht zu machen sein. Darüber schweigt man aber so still und die Medien fragen sowas von gar nicht nach, dass es doch auffällt. Auf dieser Ebene liegt auch die Forderung nach der Ausweitung sicherer Drittstaaten und Herkunftsländer. Durch einen Federstrich der Verwaltung, so wird suggeriert, werde man Flüchtlinge zu illegalen Eindringlingen erklären, die sich in der Folge auch nicht mehr auf das Asylrecht berufen können. De facto sollen die flüchtenden Menschen einfach anderswo bleiben oder stranden. Was hat Deutschland damit zu tun? Diese Fiktion ist seit Jahrzehnten eine Lebenslüge, die bereits in den 1990er Jahren auf europäischer Ebene als rechtlicher Standard (jetzt Dublin III) vereinbart wurde.
Der europäische Staat, in dem Geflohene unsere geheiligte Erde betreten, sei dann für die asylrechtliche Abwicklung zuständig. Deutschland ist von EU-Mitgliedern oder Gleichgestellten, total sicheren Drittstaaten, umgeben, folglich kann man hier gar nicht zuständig sein. Warum das nicht funktioniert, erklärt sich von selbst. Die Ungleichheit der Ansprüche und Lasten führt zum systemischen Kollaps in dem Moment, in dem der Mechanismus wirklich beansprucht wird. Jede Weigerung, asylbezogene Regelungen abzuschaffen, die sich jeden Tag aufs Neue als kontraproduktiv erwiesen haben, verschärft die Gesamtsituation und bringt nur neues Unrecht hervor. Der neue Realismus hat die Europäische Union in diesem Punkt dazu geführt, dass ihre Mitglieder nur mehr dort einig sein können, wo Regelungen getroffen werden, die dritte Staaten belasten. Abkommen mit der Türkei und Tunesien gelten als Ausweis der Handlungsfähigkeit. Die Hebel, die damit Erdoğan und Kaȉs Saȉed in die Hand bekommen haben, stehen nicht zur Diskussion oder sie beziehen sich ausschließlich auf die finanziellen Vereinbarungen.
Das Thema Migration hat gerade in Deutschland eine Sprengkraft erhalten, die sie nach den verfügbaren Fakten niemals hätte bekommen dürfen. Wesentlich verantwortlich ist eine politische Klasse, die gebannt von den Zahlen zur „Sonntagsfrage“ und getrieben von Online- und Offlinemedien schnelle Scheinerfolge anstrebt und damit im Wettkampf mit den Meistern des Scheins, hierzulande und zurzeit die AfD, steht. Sieger sehen anders aus.
Oh, wie schön ist Panama
Zugestanden, in Panama sind „unsere“ Interessen schon hervorragend sichergestellt.
Und wenn Bedarf entstünde, könnte die maritime Freiheit im und um den Panamakanal herum jederzeit durch die vor der Haustür lagernde Vierte US-Flotte verteidigt werden. Zusätzlich trägt das im Jahresturnus stattfindende Manöver PANAMAX zur Freiheit der Meere bei. Und das sind bei weitem nicht die einzigen Militärübungen am Ort.
Kein Bedarf also für die Bundesmarine, einmal einen Abstecher nach Westen, auf den amerikanischen Kontinent zu machen. Stattdessen hat das deutsche Militär seit 2021 ein neues Interessensfeld ausgemacht: den sogenannten Indopazifik und dort vor allem das Seegebiet vor der Volksrepublik China. Hier war schon die Fregatte Bayern freiheitserhaltend tätig und jetzt ist also die Fregatte Baden-Württemberg Anfang Mai auf eine siebenmonatige „Ausbildungs- und Präsenzfahrt“ gegangen.
Minister Pistorius spricht davon, dass „Wegschauen“ keine Option sei. Schauen wir also hin: die Baden-Württemberg ist Produkt der Aufrüstungswelle in den letzten zehn Jahren und sie ist nicht allein. Drei weitere baugleiche Kriegsschiffe ergänzen das Portfolio. Der Auftrag lautet, gemeinsame Kriegsübungen mit befreundeten Armeen durchzuführen und damit die territorialen Ansprüche Chinas im Südchinesischen Meer zurückzuweisen.
Die deutsche Fregatte wird dieser Tage den Seeweg zwischen der Volksrepublik und Taiwan passieren, wir sind eben so frei. Danach stehen weitere Manöverbeteiligungen auf dem Plan, allzu genau will man sich nicht in die Karten schauen lassen. Dies ist nicht das einzige deutsche Kriegsgerät in der Region. „Arctic Defender“, eine Trainingsreihe von Militärflugzeugen mehrerer Nato-Staaten in Alaska, „war für die beteiligten Flugzeuge der deutschen Luftwaffe der erste Teil ihres insgesamt fünfteiligen Großmanövers Pacific Skies, bei dem von Mitte Juni bis Mitte August vier weitere Manöverteile im Rahmen einer Weltumrundung verbunden wurden. Für die Bundeswehr war das eine Premiere.“ (J. Kronauer: Generalproben.
In: KONKRET 9/2024, S. 20) Dutzende deutsche Kampfflugzeuge trainieren mit unterschiedlichen Armeen, ob in Japan oder vor Hawaii. Nebenbei ist die Fregatte Hessen im Frühjahr 2024 gerade von ihrer Einsatzfahrt im Roten Meer, sprich vor dem Jemen, zurückgekehrt. Der scharfe Waffeneinsatz gehörte zum Auftrag, den hat die Besatzung auch zur Zufriedenheit ihres Kommandeurs erledigt. Mehrere Ziele des Feindes wurden zerstört.
Seit Jahren wird der Kurs der Bundeswehr diskutiert. Soll sie schwerpunktmäßig das Land verteidigen? Soll sie vorrangig Teil einer europäischen NATO-Strategie sein? Oder soll sie, angeleitet von der US-Armee, weltweit agieren? Es lassen sich Belege für alle drei Schwerpunktbildungen finden. Das ist das Einfallstor für die Steigerung der deutschen Militärausgaben, die keine sachlichen Begrenzungen mehr duldet.
Mehr geht also immer und ein Genug gibt es nicht.
So sind Waffenlieferungen an die Ukraine über die NATO koordiniert, sie sprechen trotzdem nicht nur für die europäische Ausrichtung der Armee. Sie müssen auch ersetzt werden, um der Bundeswehr (im Inneren) wieder zur Verfügung zu stehen. Waffenkäufe im großen Stil sind zwar wichtig für eine Militärdoktrin, die Deutschland als Territorialmacht begreift, dies genügt aber nicht. Die Seestreitkräfte sind, wie gezeigt, nicht auf Nord- und Ostsee beschränkt, sondern greifen weit darüber hinaus. Mit den abgestuften und jederzeit steigerbaren – man denke an die Diskussionen um die Taurus-Bereitstellung - Waffen- und Kampfmittellieferungen in die Ukraine wird direkter Einfluss auf deren Kriegswirksamkeit, Strategie und Taktik genommen. Mehr Einfluss in Europa geht kaum, solange sich Deutschland unter dem Schirm der USA befindet. Litauen wiederum flüchtet sich unter den direkten Schirm der BRD, wenn auch die letztliche Garantie in Washington ausgestellt wird. Die Bundeswehr führt an der Grenze zu Weißrussland das Kommando über ein Bataillon. Ziel ist der Aufbau einer Kampfbrigade, die nicht nur zu Übungszwecken dort stationiert wird, sondern auf Dauer die litauischen Truppen zwischen Weißrussland und dem russischen Kaliningrad ergänzt. Im Krisen- und Konfliktfall mit Russland wird man dort von Anfang an dabei gewesen sein.
Wie soll sonst bewiesen werden, dass Deutschland bereit ist, seine Verantwortung in der globalen Auseinandersetzung zu übernehmen? Alle Zeichen weisen in dieselbe Richtung: man rüstet auf, man bildet fremde Krieger aus, man finanziert und munitioniert Stellvertreterkriege, man ist bei den vielen Rüstungsprojekten auf europäischer Ebene dabei, wo es nur geht, und man geht den USA hilfreich zur Hand. So muss man es wohl verstehen, wenn am Rande eines NATO-Gipfels bekannt wird, dass ab 2026 US-Marschflugkörper, nuklear bestückbar, mit einer Reichweite von 2500 km in Deutschland stationiert werden. Nach Pistorius sei diese Maßnahme nur für den Übergang gedacht, bis Europa diese „Fähigkeitslücke“ aus eigener Produktion schließen könne. In fünf bis sieben Jahren sei es dann so weit, ereifert er sich. Damit nimmt er den Mund doch ziemlich voll. Diese Kriegswaffen zwingen Russland eine neue strategische Lage auf, die nicht folgenlos bleiben wird. Der Frieden in Europa wird damit, unabhängig davon, ob der Ukrainekrieg die nächsten Jahre endet oder eingefroren wird, weiterhin in höchstem Maße bedroht.
Dass diese Regierungsentscheidung am liebsten ohne öffentliche Diskussion durchgewunken werden sollte, ist ebenfalls offensichtlich.
Zumindest die Gründung des BSW hat das Thema Krieg und Frieden auf die Agenda zurückgeholt, während Medien und Meinungsinstitute, besonders im Westen, diese Frage als überholt und aus der Zeit gefallen ansahen. Und wenn, dann sei es doch eher ein psychologisches Problem, das vor allem im Osten beheimatet sei. Doch so einfach geht die Propagandarechnung nicht auf. Schließlich wird den Menschen, die hier leben müssen und keine Zweitvilla in Neuseeland besitzen, zugemutet, die weitgehend unbegrenzte, da vertragsfreie Aufrüstung und Modernisierung massenvernichtender Waffen gegen Russland zu dulden. Am besten ohne Widerrede und im Vertrauen darauf, dass „der Russe“ eben die harte Hand spüren müsse. Bloß nicht die Nerven verlieren.
Auch bei diesem Thema werden die Betroffenen nicht ernst genommen, so dass den traditionellen Parteien ein weiterer existenzieller Baustein der Lebensperspektive verloren geht. Zukunft ohne Frieden geht nicht. Das Misstrauen in die Absichten der Regierung wächst, die Folgen liegen auf der Hand.