Vor einem Jahr ging in Chile das Volk gegen den Neoliberalismus auf die Straße. Zahllose Menschen, allein in Santiago weit über eine Million, protestierten gegen ihre soziale Lage. Nach kurzer Zeit vereinigten sich die zahlreichen Bewegungen im Ruf nach einer neuen Verfassung. Die aktuelle stammt aus der Zeit der Militärdiktatur. Sie verordnet der Gesellschaft eine neoliberale Ausrichtung. Bisher waren keine grundlegenden Änderungen möglich. Das Wahlrecht verschafft den in der Tradition der Diktatur stehenden Parteien eine Sperrminorität.
Die Macht zur Blockade hat dieses Lager auch jetzt in seinen Händen. Doch die soziale Explosion hat es in Angst und Schrecken versetzt. Das Trauma wurde durch die Streitkräfte verstärkt. Sie waren nicht zu einem Blutbad an den Demonstranten bereit. Das zwang den rechten Präsidenten Sebastián Piñera zu Zugeständnissen. Neben einigen sozialen Wohltaten gehörte dazu das Gesetz zum Start des verfassungsändernden Prozesses.
Die Regierung musste sich dafür mit den wichtigsten Kräften der Opposition verständigen. Verfassungsänderungen benötigen eine 3/5-Mehrheit. Darüber verfügt keines der beiden Lager. Am Ende stand eine Übereinkunft, die von Vertretern der rechtsradikalen UDI bis zur Frente Amplio unterschrieben wurde.
Die Vorgeschichte dieser Übereinkunft wird die Historiker noch lange beschäftigen. Es wird berichtet, dass der Innenminister die Verhandlungen mit einer Drohung begann: “Heute ist in jeder Hinsicht der 10. September 1973 und es hängt von uns ab, dass morgen nicht der 11. September ist.”1 Am 11. September 1973 hat der blutige Militärputsch stattgefunden.
Dieser Ablauf zeigt, dass es sich bei der sozialen Explosion bisher um keine klassische Revolution handelt. Die staatlichen Institutionen sind intakt. Daher ist das Gesetz ein Ausdruck der Kräfteverhältnisse im Moment seines Erlasses. Kein Wunder, dass die Linke daran viel zu kritisieren hat. Interessanterweise findet die Vorgabe “Der Text der neuen Verfassung … muss … die internationalen Abkommen respektieren, die Chile unterzeichnet hat.” mehr Aufmerksamkeit im Ausland als im Lande selbst. Hinsichtlich des Pariser Klimaschutzabkommens oder der UN-Antifolterkonvention ist dagegen nichts zu sagen, doch wie sieht es mit den Freihandelsverträgen aus? Wird ihnen damit ein Bestandsschutz garantiert? Trotz solcher Unklarheiten ist das Gesetz der Schlüssel, der die Tür zu einer neuen Konstitution geöffnet hat. Es liegt nun in den Händen der Opposition, diese historische Chance zu nutzen. Doch daran muss man leider zweifeln.
Das vorhandene Sektierertum kann man z.B. in der Frente Amplio bestaunen. In einer ihrer Organisationen, der Convergencia Social, hat die Unterschrift ihres Parteivorsitzenden und Abgeordneten Gabriel Boric zu einer Austrittswelle geführt. Dabei betonte er, nicht im Namen von CS zu handeln. Unter den Abtrünnigen befindet sich der Bürgermeister von Valparaíso, Jorge Sharp. Er kritisierte, dass mit dem Abkommen die Tausenden auf der Straße übergangen worden seien.2
Die Kommunisten haben die Übereinkunft auch nicht unterschrieben. Zu dem Zeitpunkt konnten sie ihre Forderung nach einer paritätisch nach Geschlechter besetzten Versammlung nicht durchsetzen. Genau so erging es auch ihrem Wunsch nach reservierten Sitzen für die Ureinwohner. Dazu kam, dass sie wohl sehr spät in die Verhandlungen einbezogen worden waren.3
Die Zukunft wird zeigen ob sich die KP damit einen Gefallen getan hat. In demokratischen Revolutionen ist es für Kommunisten wichtig, zu den Parteien des Verfassungsbogens zu gehören. Sollte diese Übereinkunft das Gründungsdokument dafür werden, hätte das eine kuriose Folge. Die UDI, gegründet während der Diktatur vom maßgeblichen Autor der aktuellen Verfassung, gehört dazu. Die Kommunisten aber nicht, obwohl sie seit den 90er Jahren auf die Notwendigkeit einer neuen Konstitution hinweisen. Dass sich die unterschiedlichen Bewegungen in der sozialen Explosion so schnell im Ruf nach einer neuen Verfassung vereinigten, ist ein Ergebnis ihrer jahrelangen Arbeit.
Die Vereinbarung beinhaltet im wesentlichen folgendes: In einer Abstimmung wird festgestellt, ob es überhaupt eine Mehrheit für eine neue Verfassung gibt. Gleichzeitig wird danach gefragt, wie eine Verfassungsgebende Versammlung zusammengestellt werden soll. Hier gab es die Vorschläge “Wahl aller Delegierten durch das Volk” oder “Gemischt”. Bei der gemischten Versammlung sollten 50% der Delegierten vom Volk und die anderen 50% von den aktive Parlamentariern gewählt werden.
Da eine Mehrheit für die neue Verfassung abzusehen war, legte die Regierung ihr Augenmerk auf die Prozedur ihrer Erstellung. Nur mit passenden Regeln hat die Rechte eine Chance, ihre Macht zum Veto auch in der Verfassungsgebenden Versammlung ausüben. Daher setzte sie das, inzwischen etwas entschärfte, binominale Wahlrecht für die Wahl der Convencionalistas, der Delegierten zur Verfassungsgebenden Versammlung, durch. Dieses Wahlrecht verschaffte der Rechten bei der letzten Parlamentswahl 46,5% der Sitze bei nur 38,7% der Stimmen. Das war die Folge der oppositionellen Aufspaltung auf drei Listen.
Ein weiteres Mittel zum Erhalt ihrer Macht ist die 2/3-Mehrheit. So groß muss in der Verfassungsgebenden Versammlung die Zustimmung zum neuen Grundgesetz sein. Im Vergleich zur aktuellen 3/5-Mehrheit ist das eine Verschärfung. Man muss abwarten, ob das so bleibt. Die kommunistische Abgeordnete Camila Vallejo hat zusammen mit Kollegen anderer Fraktionen ein Gesetzesprojekt zur Rückkehr zur 3/5-Regel gestartet.4 Zumindest in der Frage der Parität der Geschlechter war so eine Initiative schon erfolgreich.
Die Entwicklung der Massenbewegung
Ab Weihnachten verabschiedeten sich die Menschen in die Sommerpause. Die Bewegung verschwand aus der öffentlichen Wahrnehmung. Doch während der Ferien fanden zahlreiche interne Treffen, Sommerschulen und Seminare statt. Dort wurde die neue Lage besprochen und die Wiederaufnahme der Demonstrationen geplant. Ende Februar sollte es losgehen. Ein erster Höhepunkt wurde die Demonstration von Hunderttausenden zum Internationalen Tag der Frau. Für die Zeit bis April, da sollte das Referendum ursprünglich stattfinden, hatte man vielfältige Aktionen vorbereitet. Doch dann kam Corona!
Anfang März gab es den ersten positiven Test. Damals erklärte Piñera, Chile sei viel besser auf die Pandemie vorbereitet als Italien. Doch die Maßnahmen waren konfus. Drei Monate später gab es mehr Fälle als in Italien bei nur einem Drittel der Einwohner. Im Juni resümierte die Süddeutsche Zeitung, dass Chile eines der am schwersten getroffenen Länder weltweit ist.5
Zu den Maßnahmen gegen Corona zählten Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Diese waren in Santiago und besonders betroffenen Gebieten viel drastischer als in Deutschland. So durfte man die Wohnung nur für den Weg zur Arbeit verlassen. Für den Gang zum Supermarkt musste man sich per Smartphone eine Genehmigung bei der Polizei besorgen.
Massenaktionen waren damit nicht mehr möglich. Die Regierung verlegte das Referendum auf Oktober. Das verschaffte der Rechten Zeit zur Entwicklung einer eigenen Strategie, doch sie begann sich zu zerlegen. Wie nicht anders zu erwarten, verteidigte eine Mehrheit den Status Quo. Sie warb für Rechazo, die Ablehnung einer neuen Verfassung. Andere unterstützten das, aber mit dem Versprechen, danach das aktuelle Grundgesetz reformieren zu wollen. Eine weitere Richtung sprach sich für Apruebo, die Zustimmung zum Verfassungsgebenden Prozess, aus. Neben der Uneinigkeit verschlechterten auch die Folgen der Pandemie ihre Lage.
Durch die Ausgangssperren brach vielen Menschen ihr Einkommen weg. Ihnen fehlte das Geld für die Miete oder das Essen. So kam es in einigen Stadtvierteln Santiagos im April und Mai zu Protesten gegen den Hunger.
Als Reaktion auf diese Notlage verabschiedete das Parlament ein Gesetz zur vorgezogenen Auszahlung von 10% der Einlagen aus den privaten Rentenversicherungen. Ein weiterer Hieb gegen den neoliberalen Baum. Verzehren die Menschen jetzt ihre Altersvorsorge, eine weitere Auszahlung von 10% wird diskutiert, brauchen sie im Alter trotzdem eine Rente. Unsereiner kann sich da nur Zahlungen aus dem Staatshaushalt oder die Einrichtung eines umlagefinanzierten Rentenversicherungssystems vorstellen. Mal sehen, was den neoliberalen Akteuren dazu einfallen wird.
Da viele Chilenen bisher nur eine sehr kleine Altersvorsorge aufbauen konnten, hätte ihnen diese Auszahlung nicht viel geholfen. Daher schuf die Regierung für die Armen und einen Teil der Mittelschicht Coronagutscheine6 über 50.000 Pesos, ca. 54,- €. Das ist ungefähr 1/7 des monatlichen Mindestlohnes, aber der reicht schon nicht zum Leben.
Die Strategie der Spannung
Das wichtigste Argument der Verteidiger des Status Quo basiert auf einer Strategie der Spannung. Es setzt auf die Angst der Menschen vor Veränderung. Daher versuchte man die soziale Bewegung mit Unsicherheit und Gewalt in Verbindung zu bringen. Dazu verwendete man die Bilder von gewalttätigen Auseinandersetzungen. Sie entstanden, wenn sich Demonstranten der Primera Linea (Erste Reihe) gegen Polizeiübergriffe verteidigen mussten. Auch die Parole vom drohenden Chilezuela wurde aus der Mottenkiste geholt. Doch es blieb nicht bei der Propaganda.
Im Süden Chiles gibt es seit langer Zeit eine diffuse Gewalt. Es ist unklar, wer dahinter steht. Manche machen dafür radikale Strömungen der Mapuches verantwortlich, bewiesen ist das aber nicht. Es könnte sich auch um False-Flag-Operationen handeln, um die politischen Bewegungen der Ureinwohner zu diskreditieren. Manchmal geht es aber wohl nur um schlichten Versicherungsbetrug.
Vor diesem Hintergrund nahmen Fernfahrer einen Brandanschlag auf einen LKW7 zum Anlass, einen landesweiten Streik auszurufen. Von Arica im Norden bis Punta Arenas im Süden wollten sie die Panamericana blockieren. Fernfahrer klingt nach Arbeiterklasse. So wurde diese Information auch kritiklos weitergegeben. Die junge Welt8 adelte die CNTC zur “Gewerkschaft der Transportarbeiter”. Tatsächlich handelt es sich um einen Berufsverband, der Teil eines korporativen Staates sein möchte. So zählt er die “Verbesserung der Logistik und Geschäftsführung des Güterverkehrs in Chile”9 zu seiner Mission. Konsequenterweise richtete deshalb auch der Chef des Südlichen Eigentümerverbands von LKWs (Fedesur) das Ultimatum an die Regierung. Sie forderten ein härteres Vorgehen gegen die Gewalt in der Araucanía.
Den Grund für die Blockaden konnte man gut vermitteln. Bei dem Anschlag wurde ein 9-Jähriges Mädchen durch einige Kugeln Schrot verletzt.10 Daher schritten die Fuhrunternehmer zur Tat und ließen ihre Angestellten die südliche Hauptverkehrsader blockieren. Darauf hatten ihre Verbündeten in den privaten Medien nur gewartet. Nach kurzer Zeit wurde behauptet, dass die Lebensmittelversorgung in den Städten in Gefahr sei. Doch sie hätten besser arbeiten sollen. So zeigte ein Kanal die leeren Regale eines Supermarktes. Aufmerksame Zuschauer erkannten aber, dass die Preise in britischen Pfund angegeben waren. Am Ende wurde nur über diese Fälschung gesprochen und der Sender musste sich entschuldigen.11
Der zweite Vorfall ereignete sich kurz vor dem Referendum. Bei einer Demonstration anlässlich des Jahrestages der sozialen Explosion wurden im Großraum Santiago zwei Kirchen angezündet. Im direkten Umfeld eines der Brände nahm die Polizei einen Berufssoldaten fest. Daraufhin erklärte der Verteidigungsminister: “Ich schließe es aus, dass er an einer Unterwanderungsaktion zur Informationsgewinnung beteiligt war.”12 Doch glaubten ihm das wahrscheinlich nicht besonders viele. Es wäre nicht der erste Versuch von Angestellten der “Sicherheitskräfte” gewesen, in die soziale Bewegung einzudringen.13
Das Agieren der Opposition
Die Kräfte der Mitte und der Linken standen geschlossen hinter Apruebo, ansonsten waren sie völlig uneins. So gründeten ihre Parteien zahllose Kommandos zur Koordination ihrer Werbekampagnen. Wer will, kann sich das bei Wikipedia14 ansehen. Doch findet sich dort ein Fehler. Die Parteien PS, PPD und PR marschieren dort alleine. Laut dem Newsletter15 der PS vom Januar hatten sie sich aber zum Kommando Chile Apruebo zusammengeschlossen. Selbstverständlich haben sowohl die Kommunisten als auch die Parteien der FA und die Christdemokraten mit ihren jeweiligen Verbündeten eigene Kommandos gebildet. Da braucht man sich nicht zu wundern, dass viele Menschen von Parteien überhaupt nichts mehr wissen wollen.
Gerade wegen dieser Spaltungen setzte in den Wochen vor der Abstimmung eine durch Corona zwar behinderte, aber gerade in den Sozialen Medien vielfältig blühende Bewegung für Apruebo ein.
Wer sich den Eintrag bei Wikipedia genauer ansieht, wird die rechten Parteien Evolución Política und Renovación Nacional in beiden Abteilungen finden. Bei Evopoli liegt der Grund bei ihrem Seitenwechsel von Apruebo zu Rechazo. Dagegen konnte sich die Partei des Präsidenten, RN, nicht auf eine gemeinsame Linie einigen. So wurde die Organisationsdisziplin aufgehoben und ihre Vertreter agierten sowohl für wie gegen eine Veränderung.
Das Ergebnis
Vor dem Hintergrund der Ereignisse der letzten 12 Monate sind die Zahlen rund um die Abstimmung ernüchternd. Selbstverständlich übertrifft das Ergebnis mit 78,27% für Apruebo alle Erwartungen. Man hatte mit einem Sieg gerechnet, aber nicht so deutlich. Die Wahl aller Delegierten durch das Volk fand eine vergleichbare Zustimmung. So gesehen hätte es nicht besser laufen können, doch die Wahlbeteiligung steht dieser Einschätzung entgegen.
Seit der Parlamentswahl von 2017 stieg die Zahl der in den Wahlregistern verzeichneten Personen um eine gute halbe Million. Das ist die Folge des politischen Aufbruchs. Doch die Wahlbeteiligung erhöhte sich nur von 46,6 auf 50,9 Prozent. Rechnet man das durch, hat die soziale Erschütterung nur ca. 340.000 bisherige Nichtwähler zur Stimmabgabe bewegt. Bei über 14 Millionen Wahlberechtigten ist das eine miserable Zahl.
Doch so einfach ist das nicht. Servel, die chilenische Wahlbehörde, hat die aktuelle Wahlbeteiligung mit der aus der zweiten Runde der letzten Präsidentschaftswahl verglichen. Danach ist Chile gespalten. In Santiago und den Regionen im Norden beteiligten sich deutlich mehr Menschen. Im Gegensatz dazu hat im Süden das Interesse an der Stimmabgabe weiter nachgelassen. Da in der zahlenmäßig stärksten Region, Santiago, die Wahlbeteiligung ein Plus aufweist, schlägt sich das im Gesamtergebnis nieder.
Man kann dieses Muster grob auf folgenden Nenner bringen. Die Menschen, deren Leben mit dem mineralischen Extraktivismus (Bodenschätze) verbunden ist, haben sich mit der sozialen Explosion zu Wort gemeldet, doch der agrarische Süden schläft weiter.
Trotzdem setzte sich Apruebo in fast allen Kommunen durch, nur in drei Stadtteilen von Santiago nicht. Da es die Viertel der besser Gestellten sind, kommentierte das eine kleine Website so: “Chile ist weder gespalten noch polarisiert. Das Problem sind drei ausländische Kommunen, die die Demokratie gekidnappt haben”16 Das ist eine schöne Polemik. Wahrscheinlich haben an diesen Orten tatsächlich viele Bewohner nichtspanische Nachnamen. Trotzdem sollte man diese Ethnisierung des Sozialen unterlassen, gerade auch in Chile. Ein Teil der Ureinwohner lehnt die Forderung nach für sie reservierten Sitzen in der Verfassungsgebenden Versammlung ab. Sie halten das für einen Akt der Fremdbestimmung. 17 Aus Empörung darüber, dass der Bürgermeister von Lumaco, selber ein Mapuche, diese Forderung erhebt, haben sie sein Rathaus besetzt. 18 Diese Richtung arbeitet an einem Statut der Selbstbestimmung. Man wird sehen, was sie darunter verstehen, aber eines ist sicher. Für völkische Mapuches sind auch alle Menschen mit spanischen Nachnamen Ausländer. Das sollten sich die Macher dieser Seite vor Augen führen, gerade wenn sie sich dem wissenschaftlichen Sozialismus verpflichtet fühlen.
Wie geht es weiter?
Eigentlich müssten sich die politischen Kräfte der ehemaligen Nueva Mayoria auf eine gemeinsame Liste für die Wahl der Convencionales einigen. Dabei handelt es sich um das breite Feld von den Christdemokraten bis zu den Kommunisten. In der Vergangenheit hat das eine Zeit lang funktioniert. In den Geschichtsbüchern findet man das unter dem Stichwort Frente Popular, der Volksfront der 40er Jahre. Am Ende war keine der beteiligten Parteien damit so richtig zufrieden. Jede einzelne Richtung zog die zu ihrer Ideologie passende Schlussfolgerung. Als Ergebnis spaltete sich dieses Lagers. Den Schlusspunkt bildete der Militärputsch von 1973. Dabei hat die Volksfront die soziale Lage der Bevölkerung deutlich verbessert. Sie führte für die Industriearbeiterschaft, die Bergleute und die Mittelschicht den Sozialstaat ein. Aufgrund der Kräfteverhältnisse war das für die Landarbeiter nicht möglich. Das war einer der Gründe, warum es zur Regierung von Salvador Allende gekommen ist. Während der folgenden Militärregierung wurde dieser Sozialstaat komplett geschleift.
Die Analyse der Wahlbeteiligung zeigt, dass heute die sozialen Schichten die Wiedereinführung des Sozialstaats verlangen, die damals von der Volksfrontregierung profitierten. Daher sollten die Kräfte wieder zusammenfinden, die damals diesen Sozialstaat schufen. Leider ist das sehr unwahrscheinlich.
Gleich nach der Abstimmung erklärte Fuad Chahín, der Chef der Christdemokraten, dass “eine einzige Liste undurchführbar ist”19. Einen gemeinsamen Antritt mit Kommunisten schließt er aus. Obwohl er weiß: “Wir müssen einen Ausgleich finden, weil, wenn wir sehr gespalten sind, werden wir am Ende der Rechten helfen, die mit einem Drittel der Stimmen die Hälfte der Convencionales gewinnen kann”.
Ob die Kommunisten heute überhaupt zu einer gemeinsamen Liste mit den Christdemokraten bereit gewesen wären, kann man aus der Ferne schlecht beurteilen. Da sie inzwischen mit ihren Verbündeten das Wahlbündnis Chile digno, verde y soberano20 vorgestellt haben, ist der Zug für ein großes Bündnis wohl abgefahren.
Leider viel zu spät haben die Sozialisten und FA in einer gemeinsamen Verlautbarung erklärt, alles zu tun, um eine “Namensliste, so geeint wie möglich, zu erreichen, die KP eingeschlossen”21 Damit streben sie das klassische Volksfrontbündnis an, das bis zu den Christdemokraten reichen soll. Dieser Vorschlag hätte gleich nach dem Referendum präsentiert werden müssen. Vier Wochen danach haben sich viele Akteure schon positioniert. Diese Verzögerung ist eine Folge der Zersplitterung. Die wichtigen Leute der FA waren früher bei den Sozialisten.
Damit sieht es gegenwärtig nach zwei oppositionellen Listen aus. Eine Situation, aus der die Rechte ihren Honig saugt. Dazu kommt, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung unabhängige Convencionales möchte. Nach einer Umfrage kann sich ein Drittel der Bevölkerung sogar vorstellen, selbst zu kandidieren. Daher wird es lokal wohl einige freischwebende Bewerber geben. Das wirft am Ende jede Kalkulation über den Haufen.
Doch sollte man die Rechnung nicht ohne das Volk machen. Andreas Klein, Leiter des Auslandsbüro Chile der Konrad-Adenauer-Stiftung, warnt: “Viele Menschen setzen große Hoffnung in die neue Verfassung, allerdings lassen die Ereignisse des letzten Jahres daran zweifeln, ob sie die Geduld aufbringen, auf die erwünschten sozialen Veränderungen bis zum Ende des Verfassungsprozesses zu warten.”22
Chile stehen unruhige Zeiten bevor. Es ist zu hoffen, dass die Streitkräfte ihre Neutralität beibehalten. Ansonsten kann dieser hoffnungsvolle Aufbruch wieder einmal böse enden.
Emil Berger
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https://www.eldinamo.cl/nacional/2019/11/15/gabriel-boric-convergencia-social-acuerdo-constitucion/
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https://www.latercera.com/politica/noticia/quien-sube-y-quien-baja-despues-del-aplastante-triunfo-del-apruebo/KI4TMXDOWFAPVCQDG4OAXLRSJY/
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https://www.elciudadano.com/editorial/en-defensa-de-camila-vallejo-y-el-proyecto-ley-para-terminar-con-los-2-3/11/19/
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https://www.eldesconcierto.cl/nacional/2020/08/23/camioneros-anuncian-paro-nacional-tras-ataque-incendiario-en-la-araucania.html
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https://www.eldesconcierto.cl/nacional/2020/08/22/defensoria-de-la-ninez-anuncia-querella-por-nina-herida-en-ataque-incendiario-en-la-araucania.html
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https://www.eldesconcierto.cl/tendencias/2020/09/02/mega-supermercado-no-es-chile-disculpas.html
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https://www.elmostrador.cl/dia/2020/10/19/desbordes-por-funcionario-de-la-armada-detenido-en-desmanes-descarto-que-haya-estado-en-labores-de-infiltrado/
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https://www.eldesconcierto.cl/nacional/2020/11/21/carabinero-infiltrado-confirman-que-sujeto-funado-en-protesta-si-pertenecia-a-la-institucion.html
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https://es.wikipedia.org/wiki/Anexo:Apoyos_pol%C3%ADticos_en_el_plebiscito_nacional_de_Chile_de_2020
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https://portal.pschile.cl/wp-content/uploads/2020/01/Newsletter-Enero-2020-PS.pdf
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https://www.gamba.cl/2020/10/chile-no-esta-ni-dividido-ni-polarizado-el-problema-son-tres-comunas-cuicas-que-tienen-secuestrada-la-democracia/
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https://www.eldesconcierto.cl/nacional/2020/11/21/aucan-huilcaman-y-su-rechazo-a-los-escanos-reservados-nos-encontramos-redactando-un-estatuto-de-autodeterminacion.html
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https://www.eldesconcierto.cl/nacional/2020/11/09/en-contra-de-escanos-reservados-comunidades-mapuche-se-toman-municipio-de-lumaco.html
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https://radio.uchile.cl/2020/10/26/fuad-chahin-analiza-a-la-oposicion-de-cara-a-la-convencion-constituyente-una-sola-lista-es-inviable-y-todos-lo-sabemos/
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http://pcchile.cl/2020/11/22/chile-digno-verde-y-soberano-nueva-coalicion-politica-presenta-pre-candidaturas-para-convencion-constituyente/
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https://www.kas.de/de/laenderberichte/detail/-/content/historischer-wahltag-in-chile