Schon der Titel soll es klarstellen. Es geht hier nicht um die Entdeckung von angeblich neuen Klassen oder um eine wie auch immer geartete „neue Klassenpolitik“. Ziel ist es, nur die mittel- und längerfristigen Veränderungen in Bezug auf die Klassenstrukturen der kapitalistischen Gesellschaften zu registrieren, zu analysieren und die politischen Folgerungen zu diskutieren, die daraus abzuleiten sind.
Veränderungen bei der Klassenzusammensetzung sind meistens eher langsame Entwicklungen. Für ihre Analyse ist deshalb ein etwas größerer zeitlicher Rahmen sinnvoll. Der hier betrachtete Zeitabschnitt beginnt mit der Nachkriegszeit. Es geht also um eine Zeitspanne, die ältere Personen noch selbst erlebt haben. Die Untersuchung bezieht sich hauptsächlich auf die Verhältnisse in Deutschland, aber nur im Sinne eines naheliegenden Beispiels. Denn der Blick auf andere Länder zeigt, dort finden ganz ähnliche Entwicklungen statt. Letztlich geht es um die Einschätzung der Lage in den entwickelten kapitalistischen Ländern und nicht um eine spezielle deutsche Situation.
Die Zugehörigkeit der Menschen zu einer Klasse richtet sich nach ihrer Stellung im Prozess der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion. Anders ausgedrückt, grundlegend ist für die Zuordnung die Art und Weise, wie eine Person ihren Lebensunterhalt verdient.
Klassenanalyse ist nicht einfach eine Beschreibung von empirisch feststellbaren gesellschaftlichen Gruppen. Zumindest in ihrer marxistischen Variante erhebt sie den Anspruch, mit der Unterscheidung der Klassen auch eine Aussage über die grundlegenden Bewegungsgesetze einer Gesellschaft zu treffen. Sie ist immer auch eine Aussage über Klassenverhältnisse und damit auch über Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse. Zumindest implizit enthält Klassenanalyse auch eine Aussage darüber, wer wen ausbeutet, wer herrscht und wer beherrscht wird und damit auch über die grundsätzliche Richtung, die eine emanzipatorische, die Klassenverhältnisse aufhebende Bewegung einschlagen muss.
Dem Begriff „Klasse“ kommen in gewisser Weise zwei Dimensionen zu. Einmal die Beschreibung der objektiven Klassenzugehörigkeit, die „Klasse an sich“, und zum anderen etwas Subjektives, was mit der Erfahrung und dem Begreifen der gemeinsamen Lage und Interessen, mit einem Zusammengehörigkeitsgefühl und darauf aufbauend einem Klassenbewusstsein und einer potentiellen politischen Mobilisierung zusammenhängt. Diese zweite Dimension wäre die „Klasse für sich“.
Zur Zeit kann in Deutschland nur in Ansätzen von einer „Klasse für sich“ gesprochen werden. Im folgenden geht es deshalb zuerst um die „Klasse an sich“.
Im Fokus steht die Frage nach der heutigen Arbeiterklasse. Arbeiterklasse wird dabei als analytischer Begriff verstanden, der alle einschließen soll, die als für Lohn Arbeitende die kapitalistische Produktion und Reproduktion betreiben. Er ist nicht gleichzusetzen mit bestimmten historischen Erscheinungsformen dieser Klasse, auch wenn diese sehr wichtig waren und zum Teil noch immer sind.
Zur Abrundung der Darstellung wird auch kurz auf die anderen Klassen der Gesellschaft eingegangen.
Grobe Einteilung der Klassen (in Deutschland)
Die besitzenden Klassen und die Kapitalistenklasse
Für die Angehörigen der besitzenden Klassen generiert ihr Besitz soviel Einkommen, dass daraus der volle Lebensunterhalt bestritten werden kann. Eine Erwerbsarbeit ist für diese Klassen nicht notwendig (was aber nicht ausschließt, dass eine solche zusätzlich stattfindet). Die Eigentumsrechte gewähren direkt oder indirekt Zugriff auf den gesellschaftlich produzierten Mehrwert. Die besitzenden Klassen sind die Hauptnutznießer der Ausbeutungsverhältnisse.
Prinzipiell kann die Art des Besitzes und der Besitztitel sehr unterschiedlich sein. In einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland ist das Eigentum am Produktivvermögen, das in Produktion und Zirkulation investierte Kapital, die mit Abstand wichtigste Form des Eigentums. Die Kapitalisten sind der dominierende Teil der besitzenden Klassen hierzulande. Ihre Anteile an Unternehmen umfassen oft Größenordnungen, die eine direkte Einflussnahme auf die Geschäftstätigkeit dieser Firmen ermöglichen. Für die Klassenzugehörigkeit spielt es aber keine Rolle, ob die Eigentümer selber unternehmerisch oder nur vermögensverwaltend agieren. Weitere wichtige Vermögenskategorien sind Immobilien aller Art und Finanzvermögen (Rentenpapiere (Staatsanleihen), Private Equity, (Hedge-)Fonds und sonstige Wertpapiere). Der Immobilienbesitz geht weit über eine selbst bewohnte Immobilie hinaus. Das Vermögen der besitzenden Klasse in Deutschland ist keineswegs auf dieses Land beschränkt, sondern meistens international gestreut. Genauso wie auch nichtdeutsche Kapitalisten wesentliche Anteile an hiesigen Unternehmen (und Immobilien) halten.
Kurz etwas zur Größe: etwa 1 % der Bevölkerung (als Anhaltspunkt: es gibt ca. 440 000 Unternehmen mit mehr als 10 Beschäftigten) kann man den besitzenden Klassen zurechnen. Dabei stellen die wirklichen Großkapitalisten auch innerhalb ihrer Klasse eine kleine Minderheit dar. (höchstens 0,1 % der Bevölkerung). Diese Minderheit ist aber der mächtigste und einflussreichste Teil der Kapitalistenklasse.
Eine weitere Untergliederung wird hier nicht vorgenommen. In Deutschland wäre eine solche politisch auch nicht besonders relevant. In anderen Ländern können dagegen weitere Unterteilungen, etwa in Kapitalisten und Grußgrundbesitzer, sinnvoll und notwendig sein.
Den besitzenden Klassen stehen die arbeitenden Klassen gegenüber.
Die Bezeichnung „arbeitend“ verweist darauf, dass ihre Angehörigen einer Erwerbsarbeit nachgehen müssen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ein eventuell vorhandener Besitz ist dafür nicht ausreichend.
Die arbeitenden Klassen kann man wiederum aufteilen in: arbeitende Klassen, die selbst im Besitz ihrer Produktionsmittel sind und
arbeitende Klassen, die nicht im Besitz von Produktionsmittel sind, die allein ihre Arbeitskraft „besitzen“ und deshalb diese verkaufen müssen.
Die erste Gruppe ist sehr heterogen zusammengesetzt. Sie besteht grundsätzlich aus selbständig Arbeitenden. Früher wurde diese Gruppe auch Kleinbürger genannt. Selbständigkeit gibt es in den verschiedensten Berufen und Branchen (z.B. Handwerker, kleinere Läden, Gastronomie), häufig mit fließenden Übergängen von Soloselbständigen zu kleinen Firmen mit ein paar Beschäftigten und weiter zu kleinen kapitalistischen Betrieben. Zu dieser Klasse gehören auch traditionelle akademische Berufe wie z.B. niedergelassene, nicht angestellte Ärzte und Rechtsanwälte. Auch die Bauern muss man (zumindest in Deutschland) zu dieser Gruppe rechnen.
Bereits diese (unvollständige) Aufzählung macht sichtbar, es gibt für diese Klasse weder eine gemeinsame ökonomische Lage, noch eine gemeinsame Tradition und Kultur, noch ein gemeinsames Bewusstsein. Die konkrete ökonomische Lage kann extrem unterschiedlich sein, sowohl zwischen den Untergruppen (Handwerkern, Ärzten, Bauern) als auch innerhalb dieser Untergruppen. Es gibt Angehörige dieser Klasse, die gut bis sehr gut verdienen, welche, die sich mit ihrem Einkommen etwa im gesellschaftlichen Durchschnitt bewegen und auch welche, deren ökonomische Existenzgrundlage ständig gefährdet ist.
Größe: Nach dem Mikrozensus von 2018 sind 9,6 % der Erwerbstätigen Selbständige, 0,3 % mithelfende Familienangehörige (ergibt praktisch 10 %)
Das Statistischen Bundesamt, das die Zahlen ermittelt, betreibt keine Klassenanalyse, es verwendet rein formale Kriterien. Jeder, der erwerbstätig ist, aber nicht abhängig beschäftigt, wird deshalb zu den Selbständigen gezählt. Für eine marxistische Klasseneinteilung ist aber der Besitz von Produktionsmitteln, bzw. das Vorhandenseins eines Geschäfts, Arztpraxis, Kanzlei etc. wesentlich. In der Realität gibt es aber immer mehr formal Selbständige, die praktisch keine nennenswerten Produktionsmittel besitzen. Diese bieten auf dem Markt eigentlich auch nur ihr Arbeitsvermögen an, ohne aber rechtlich eine abhängige Beschäftigung einzugehen. Nach einer solchen Logik könnte man im Extremfall auch einen Tagelöhner zur Gruppe der Selbständigen rechnen. Denn bei ihm gibt es auch keinen Arbeitsvertrag und kein formales Arbeitsverhältnis. Schätzungen belaufen sich auf bis zu 2 Millionen Selbständige (also fast die Hälfte aller Selbständigen), deren Zuordnung zweifelhaft ist und die vielleicht besser den Lohnabhängigen zugeordnet werden sollten.
Da die Gruppe der Selbständigen nicht im Zentrum unseres Interesses steht, wird nicht weiter auf diese Klasse eingegangen.
Arbeitende, die ihre Arbeitskraft verkaufen
In dem bereits oben zitierten Mikrozensus von 2018 finden sich folgende Angaben, die Prozentzahlen werden jeweils bezogen auf alle Erwerbstätige (das sind ca. 42 Millionen Menschen):
16,6 % Arbeiter im Sinne von Lohnempfängern
65,1 % Angestellte
4,7 % Beamte
Auszubildende werden im Mikrozensus als eigene Gruppe mit 3,5 % aufgeführt. Insgesamt tauschen also ca. 90 % aller Erwerbstätigen ihre Arbeitskraft gegen Lohn bzw. Gehalt. Die Beschäftigen bringen ihre Fähigkeiten und Qualifikationen mit, alle Produktionsmittel und die Vorgabe, was und wie gearbeitet werden soll, kommen von der beschäftigenden Institution, gemeinhin Arbeitgeber genannt.
Damit stellt sich die Frage
Sind diese 90 % die Arbeiterklasse ?
Oder was spielt sonst noch eine Rolle ?
Die Zahlen dienen zuerst einmal nur dazu, sich einen Überblick über die Größenverhältnisse zu verschaffen. Auch hier ist daran zu erinnern, dass die Statistiker vor allem formale und juristische Kriterien für ihre Unterteilungen benutzen. Die Unterscheidung von Arbeitern und Angestellten war historisch wichtig, inzwischen hat sie stark an Bedeutung verloren. Das in den genannten Zahlen verwendete Kriterium zur Unterscheidung zwischen Arbeitern (Lohnempfänger) und Angestellten wird in den Tarifverträgen festgelegt. Durch die Entwicklung der Tarifverträge wird diese Unterscheidung immer mehr eine rein formale, mit wenig Aussagekraft. Aber sie ist insofern noch nützlich, weil man davon ausgehen kann, dass alle Arbeiter nach dieser Definition auch der Arbeiterklasse angehören. Etwas komplizierter ist die Lage bei den Angestellten und Beamten. Dort ist es notwendig, noch weitere Kriterien zur Beurteilung der Klassenlage heranzuziehen.
Ein solches Kriterium ist die Ausübung einer leitenden Funktion. Es dürfte wohl klar sein, dass die Angehörigen des höheren Managements, Geschäftsführer etc., nicht zur Arbeiterklasse gezählt werden können, auch wenn sie formal Angestellte sind. (Auch bei Beamten gilt entsprechendes für die hohen Hierarchiestufen.) Die oberste Schicht der Manager, etwa die Vorstände von großen Firmen, wird durch ihre Gehälter in Millionenhöhe (und die oft gewährten Aktienoptionen) direkt in die besitzenden Klassen aufgenommen, falls sie diesen nicht sowieso entstammen. Etwas schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie weit die Abgrenzung in der Hierarchie nach unten vorgenommen werden muss. Wahrscheinlich ist es sinnvoll, zwischen der oberen Leitungsebene, die definitiv nicht dazugehört, und einer unteren (eventuell auch mittleren) Leitungsebene zu unterscheiden, der man eine Zwischenstellung zuschreiben könnte. Soziologen sprechen dabei von „beherrschten Herrschenden“, um deutlich zu machen, dass die unteren Leitungsebenen stark von den Vorgaben und Entscheidungen der oberen Ebenen abhängig sind.
Auch ohne Leitungsfunktionen können unter Umständen einzelne Positionen durch besonders günstige Bedingungen bzw. Privilegien (Gehalt, Freiraum bei der Arbeit, ausgeübte Funktionen) über das übliche Niveau hervorgehoben und von der Mehrheit der Lohnabhängigen so deutlich abgegrenzt sein, dass sie nicht mehr der gleichen Klasse zugerechnet werden können.
Ein weiteres Kriterium ist, in wieweit die Tätigkeit direkt unter der Regie des Kapitals erfolgt. Anders ausgedrückt, ist der Arbeitgeber eine kapitalistische Firma oder eventuell der Staat oder eine gemeinnützige Organisation (die zwar in einer kapitalistischen Gesellschaft und unter vom Kapitalismus geprägten Bedingungen operiert, aber selbst nicht kapitalistisch ist)?
Beschäftigte, die direkt unter der Regie des Kapitals arbeiten, können auch in direkte Interessengegensätze und Konflikte mit dem Kapital geraten. Diese sind dann auch unmittelbarer als Konflikte mit dem Kapital erlebbar, als es in Situationen der Fall ist, bei denen die kapitalistische Bedingtheit nur durch diverse Vermittlungen wirksam ist.
Zur Einschätzung der Klassenlage der Beamten und des öffentlichen Dienstes zuerst ein paar Zahlen:
79 % aller abhängig Beschäftigen (also die große Mehrheit) arbeiten bei privaten, kapitalistischen Unternehmern
21 % sind im nichtprivaten Bereich beschäftigt
12 % im öffentlicher Dienst, also direkt beim Staat, davon
4 % in der allgemeinen Verwaltung und Sicherheit
8 % in Bildung, Sozialleistungen und Daseinsfürsorge
3 % in öffentlichen Unternehmen (privatrechtlich organisiert, aber im öffentlichen Besitz)
6 % in nicht gewinnorientierten Unternehmen und Organisationen
Man sieht, die Gruppe, die nicht unter der direkten Regie des Kapitals arbeitet, ist in sich erheblich untergliedert. Die dort Beschäftigten haben auch einen unterschiedlichen arbeitsrechtlichen Status. Es gibt Arbeiter, Angestellte und Beamte. Aber auch bei den Beamten, die am deutlichsten von den anderen Beschäftigten abgegrenzt sind, gibt es eine erhebliche interne Differenzierung durch ihre Aufgaben, durch die dafür notwendige Ausbildung und das Gehaltsniveau.
Bei den Beamten stellt sich die Frage, ob sie nicht durch ihren Status (Unkündbarkeit, Pensionsberechtigung) in gewissem Sinne von der Notwendigkeit befreit sind, ihre Arbeitskraft verkaufen zu müssen. Sind sie einmal auf Lebenszeit verbeamtet, scheiden sie eigentlich aus dem Arbeitsmarkt aus. Auf jeden Fall ist ihr Verhältnis zum Arbeitgeber Staat dann rechtlich und praktisch deutlich anders als das Verhältnis z.B. eines Angestellten in der Privatindustrie zu seinem Arbeitgeber.
Von Bedeutung ist auch die ausgeübte Funktion, insbesondere bei allen, die direkt im staatlichen Machtapparat eingebunden sind. Auch solche Beschäftigte wird man kaum oder höchstens ganz am Rande zur Arbeiterklasse zählen können.
Die Tatsache, bei der Arbeit nicht direkt dem Kapital unterstellt zu sein, hat ohne Zweifel ihre Bedeutung für Status und Bewusstsein der Beschäftigten. Trotzdem sollte man diesen Aspekt nicht überbewerten. Es gibt im öffentlichen Dienst auch viele Tätigkeiten, bei denen der Bezug zum Staat eher einen Nebenaspekt darstellt.
Eine große Schwierigkeit bei Abgrenzungsversuchen am Rande einer Klasse sind die fließenden Übergänge, die häufig in der Praxis festzustellen sind. Ab welcher Position ist wirklich von einer leitenden Funktion zu sprechen ? Wie hoch muss das Gehalt sein, um als besonders hervorgehoben zu gelten, was sind echte Privilegien ? Und was ist, wenn solche bisher vorhandenen Vorteile ins Rutschen kommen und bedroht sind ?
In der marxistischen Diskussion gibt es bei solchen Fragen keine Einigkeit. Es gibt unterschiedliche Einschätzungen zur Bedeutung dieser Punkte für die Klassenlage. Manche Autoren postulieren das Vorhandensein einer lohnabhängigen Zwischenklasse, die von der eigentlichen Arbeiterklasse zu trennen sei. Bis zu 15 % der Lohnabhängigen, also etwa 5,5 Millionen, werden von ihnen dieser Mittelklasse aus Lohnabhängigen zugeordnet. Sie umfasst die Mehrheit der Angestellten mit leitenden Funktionen und einen großen Teil der Beamten.
Auch wer die Definition einer eigenen Zwischenklasse nicht für sinnvoll hält, muss die objektiv vorhandenen Unterschiede bei den Beschäftigen in Rechnung stellen. Die real vorhandenen Fragmentierungen innerhalb der abhängig Beschäftigten können selbstverständlich politische Folgen nach sich ziehen.
Durch Analyse der statistischen Daten wird man nur eine Annäherung an eine Klassenabgrenzung erreichen können. Letztlich entschieden wird der Verlauf der Klassengrenzen in den realen Situationen des Klassenkampfes. Dann zeigt sich, welche Merkmale (Lohnabhängigkeit, Leitungsfunktion, höheres Gehalt) handlungsanleitend sind und welche, zwar formal zutreffend, aber unwichtig bzw. zweitrangig. Das gilt für beide Seiten der potentiellen Auseinandersetzung. Denn es kann sich auch zeigen, dass eventuelle Privilegien schnell entzogen werden und Bereitschaft zur Loyalität nicht immer belohnt wird.
Abgrenzungsproblematiken gibt es selbstverständlich auch auch bei den anderen Klassen. Auf die zweifelhafte Zuordnung vieler Soloselbständiger wurde schon hingewiesen. Es gibt auch keine eindeutige objektive Grenze, um zu entscheiden, ab welcher Betriebsgröße es sich um einen (kleinen) kapitalistischen Betrieb handelt. Häufig wird die Grenze bei 10 Beschäftigten angenommen bzw. festgesetzt. Ebenso ist nicht eindeutig festgelegt, ab welchem Vermögen genau jemand wirklich zu den besitzenden Klassen zu rechnen ist.
Weitere Kriterien ?
Unter Marxisten gibt es auch eine lange Debatte darüber, ob die Unterscheidung zwischen Produktion und Zirkulation für die Klassenlage der jeweils dort Beschäftigten relevant sein könnte. Sind Produktionsarbeiter der engere Kern der Arbeiterklasse ? Auf komplizierte Weise damit verschränkt ist die Frage, welche Tätigkeit Mehrwert produziert und welche nicht, also nur zur Realisierung des Mehrwert beiträgt bzw. außerhalb der Produktion und Realisierung von Mehrwert steht, aber eine gesellschaftlich notwendige Tätigkeit ist.
Wo genau (und wie viel) Mehrwert produziert wird, ist selbstverständlich ökonomisch von großer Bedeutung für alle kapitalistischen Gesellschaften. Analytisch gesehen ist die Produktion von Mehrwert der Kernbereich der kapitalistischen Gesellschaft. In diesem Sinne kann man die dort Arbeitenden auch als einen Kernbereich der Arbeiterklasse verstehen. Aber damit ist nicht gesagt, dass aus diesem analytisch definierten Kern auch der Kern einer „Klasse für sich“ entstehen muss. Das kann so sein, ist aber keineswegs zwingend. Vor allzu deterministischen Vorstellungen sei gewarnt.
Eindeutig nicht geeignet für eine sinnvolle Analyse der Gesellschaftsstruktur ist dagegen die Rede von der Dienstleistungsgesellschaft (manchmal auch Tertiärisierung genannt), die für die (post)moderne oder postindustrielle Gesellschaft ausschlaggebend wäre. Der Begriff Dienstleistung wird dabei stark ausgedehnt und auf alles und jedes bezogen (persönliche Dienstleistungen, Finanzdienstleistungen, Transport und Logistik, industrienahe Dienstleistungen, Handel, Gesundheitssystem, staatliche Dienstleistungen etc.). Er wird dadurch ökonomisch weitgehend inhaltsleer und kann praktisch keine analytische Funktion mehr erfüllen. Die Rede von der Dienstleistungsgesellschaft dient mehr der ideologischen Verschleierung, als dass sie irgendeinen Erkenntnisgewinn bringen würde.
Es gibt dann auch noch einige andere Punkte, die zwar nichts mit der Klassenzugehörigkeit zu tun haben, aber im Zusammenhang mit Klassenkämpfen sehr wichtig sein können, z.B. die Frage nach der Streik- und Durchsetzungsfähigkeit von Belegschaften bzw. Branchen. Damit ist nicht die Streikbereitschaft gemeint (ein Teil des subjektiven Faktors), sondern die durch die Umstände gegebenen realen Chancen, durch Streik großen Druck auf das Kapital ausüben und damit eine wirksame Gegenmacht aufbauen zu können.
Aus rein praktischen Gründen spielt auch die Beschäftigung in Groß- oder Kleinbetrieben eine Rolle. Denn das hat erhebliche Auswirkungen auf die Möglichkeit, Belegschaften mit Erfolg zu organisieren. Offensichtlich ist es leichter, in einem Großbetrieb eine gewisse Anzahl von Kollegen_innen durch ein Netz von Vertrauensleuten und Aktiven organisatorisch einzubinden, als die gleiche Zahl von Kollegen_innen zu erreichen, wenn sie verstreut in vielen Kleinbetrieben arbeiten.
Die Veränderungen bei den Erwerbstätigen
Es entspricht den kapitalistischen Verhältnissen, dass sich die Kapitalakkumulation in ihrer konkreten Form ständig verändert. Davon ist selbstverständlich auch die Nachfrage nach Arbeitskräften betroffen, mit entsprechenden Folgen für die Zusammensetzung der Klassen. In den zurückliegenden Jahrzehnten haben erhebliche Veränderungen stattgefunden (und werden vermutlich auch weiterhin stattfinden).
Zwei große Trends
Zwei seit Jahrzehnten wirksame Großtrends sind zu nennen. Der eine Trend bezieht sich auf die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen. Inzwischen (Zahlen von 2018) sind etwa 47% der Erwerbstätigen und 48% der Lohnabhängigen Frauen. Allerdings sind die Unterschiede bei den Geschlechtern noch größer, als diese beiden Zahlen vermuten lassen. Die Unterschiede zeigen sich bei der Verteilung der Voll- und Teilzeitarbeit. So sind bei den Männern über 90 % in Vollzeit tätig und zwar unabhängig von der Zahl der Kinder und sonstigen Haushaltskonstellationen (erst kurz vor der Erreichung der Altersgrenze sinkt dann dieser Wert etwas). Erwerbstätige Frauen arbeiten dagegen nur etwa zur Hälfte in Vollzeit. Frauen mit Kindern sind überwiegend in Teilzeit oder sogar nur geringfügig beschäftigt. Frauen mit Kindern unter drei Jahren bzw. mit drei oder mehr Kindern sind überwiegend nicht erwerbstätig. Offensichtlich ist die Verteilung der Haus- und Sorgearbeit immer noch sehr unterschiedlich.
Durch die Feminisierung der Erwerbsarbeit wurde die Standardkonstellation bei Paarhaushalten mit Kindern von der Nichterwerbstätigkeit der Frau zur Teilzeitarbeit verschoben. Der Mann als genereller Alleinverdiener ist weitgehend verschwunden. In den 50er und 60er Jahren war das noch anders.
Der zweite große und langfristige Trend ist der zu einer längeren Ausbildung und zu „höheren“ formalen Schul- und Berufsbildungsabschlüssen. Spätestens seit den Bildungsreformen am Ende der 60er Jahre steigen der Anteil pro Jahrgang mit Abschlüssen wie Abitur/Fachabitur und auch der Anteil, der ein Hochschulstudium absolviert, kontinuierlich an. Am Ende der 50er Jahre betrug der Anteil mit Abitur weniger als 10 %, mittlerweile werden Abiturquoten von über 50 % pro Jahrgang erreicht.
Leider findet man keine guten statistischen Daten über die Veränderungen der Qualifikationsstruktur der Beschäftigten. (häufig sind die Zeitreihen zu kurz, es gibt nur Angaben zur Gesamtbevölkerung).
2019 betrug der Anteil mit Hochschulabschluss 23,1 % aller Erwerbstätigen.
In der Gesamtbevölkerung hat sich der Anteil der Schulabschlüsse folgendermaßen entwickelt:
Hauptschule Polytechnische Mittlerer Hochschul- ohne
Oberschule Abschluss Fachhochschulreife Abschluss
1976 74 % x 14,2% 7,7% x
2019 28,6% 6,5% 23,5% 33,5 4%
Für 2020 wurde gemeldet, dass zum ersten Mal die Zahl der Erstsemester (ca. 500 000) größer ist als die Zahl derer, die eine Ausbildung im dualen System beginnen.
Nicht vergessen werden sollte, dass die Ausdehnung der Bildungszeit in Schulen und Hochschulen bei Berufsanfängern vielfach durch eine innerbetriebliche Weiterqualifizierung der Beschäftigten ergänzt wurde. Ein Teil der Qualifikationen, die von den Betrieben benötigt wurden, ist durch Weiterqualifizierung von bereits Beschäftigten geschaffen worden. Angeblich üben mehr als 20 % der sozialversichungspflichtig Beschäftigten Tätigkeiten aus, für die sie gemäß ihrer (ursprünglichen) formalen Zertifikate unterqualifiziert sind. (Bauer et al., 2018) Auch solche Entwicklungen zeigen die sich im Laufe der Zeit stark verändernden Anforderungsprofile an. Ein steigender Bedarf an mehr (Hoch-)Schulausbildung ist dafür nur ein Zeichen. Es gibt ganz allgemein einen Trend zu steigenden Qualifikationsanforderungen.
Wie erwähnt, findet man nur wenig Daten über die konkreten Arbeitssituationen in den privaten Betrieben. Während beim Staat klar ist, welche Anforderungen an die Ausbildung bei den einzelnen Laufbahnen gelten, ist das bei privaten Firmen meistens weniger klar. Auch ist nicht immer klar, welche Rolle in der betrieblichen Realität unterschiedliche Bildungsabschlüsse wirklich spielen. Welchen Unterschied macht etwa ein Abschluss an einer Universität gegenüber einem an einer Fachhochschule, wie unterscheiden sich die Chancen von Menschen mit Master von denen mit Bachelor-Abschlüssen und wie weit sind die darauf aufbauenden Laufbahnen später noch durchlässig?
Die beiden Trends, der der Feminisierung und der zu mehr Bildung, sind gesamtgesellschaftliche Entwicklungen. Sie sind keineswegs auf die Lohnabhängigen beschränkt. Die Veränderungen sind nicht klassenspezifisch und werden auch nicht als solche wahrgenommen. Es ist eher das Gegenteil der Fall. Viele mit langer Ausbildung und höheren formalen Abschlüssen begreifen sich nicht als Angehörige einer Klasse, auch wenn sie eindeutig lohnabhängig sind. Sie sehen oft Klassen als überholt an und als Erscheinungen von gestern. Die beschriebenen Umschichtungen haben die Klassenstruktur der Gesellschaft in der allgemeinen Wahrnehmung nicht deutlicher werden lassen. Sie haben objektiv die Unterschiede innerhalb der Lohnabhängigen vergrößert. Von Bedeutung ist auch eine Art ständig stattfindender Generationenwechsel. Die nachrückenden, jungen, anders ausgebildeten Arbeitskräfte unterscheiden sich von den „alten“ in ihrem Selbstverständnis und Bewusstsein.
Eine Veränderung des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters hat sich auch durch die stattgefundene Einwanderung ergeben. Allerdings hat die Migration kaum zu Veränderungen der in den Statistiken ausgewiesenen Klassenstruktur geführt.
Aber es ist festzuhalten, dass es Bereiche gibt, in denen Nichtdeutsche und Migranten in überproportionalen Anteilen anzutreffen sind. Meistens sind das die schlecht zahlenden Branchen, die prekären Verhältnisse mit den ungünstigen Bedingungen. Man denke nur an die Fleischverarbeiter bei Tönnies, auf die in der Corona Pandemie ein Licht fiel, an die vielen LKW- Fahrer aus Osteuropa, die Subkontrakt-Firmen auf den Baustellen oder an die saisonalen Erntehelfer. Es handelt sich dabei um eine Fragmentierung, die aus den Statistiken nur unzureichend deutlich wird.
Die neoliberale Offensive, die Globalisierung
Ein Faktum, das die Klassenverhältnisse massiv beeinflusst hat, ist die neoliberale Offensive, wie sie ab den 80er Jahren und verstärkt dann in den 90er Jahren stattgefunden hat. Am stärksten kommt diese Entwicklung in der sogenannten Agenda-Politik der Schröder/Fischer-Regierung zum Ausdruck. Die Folge dieser Politik war die starke Vergrößerung des Niedriglohnsektors und die zunehmende Prekarisierung. Prekarisierung meint nicht nur schlechte Bezahlung, sondern einen weitgehenden Abbau von Sicherheiten und Verlässlichkeit. Also Zeitverträge statt feste Anstellung, Leiharbeiterschaft, immer weiter ausgedehnte Praktika und einen deutlich schlechteren Schutz für den Krisenfall (Verkürzung von Arbeitslosengeld und Hilfe, verstärkter Druck, auch schlechtere Arbeit anzunehmen, Einführung von Hartz IV). Damit verbunden sind die Ausdehnung der Lieferketten und die Verlagerung von Arbeit auf Zulieferer. Die Beschäftigten der Zulieferer arbeiten oft unter anderen (schlechteren) Bedingungen, unter Umständen aber trotzdem im gleichen Betriebsgelände. Mehr oder weniger große Teile der Produktion wurden ins Ausland verlagert. Ganz allgemein gesprochen hat die Globalisierung bewirkt, die Zahl der Produktionsarbeiter hierzulande abzubauen und woanders zu erhöhen..
Die starke Zunahme des Niedriglohnsektor ist nicht die einzige Folge des Neoliberalismus für die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit. Weitere Veränderungen betreffen auch viele vorher in öffentlicher Regie geführten Einrichtungen wie etwa Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, die privatisiert wurden. Privatisierungen hat es z.B. auch bei kommunalen Betrieben und auch beim Wohnungsbestand gegeben. Auch wenn diese Privatisierungswelle inzwischen wieder abgeflaut ist, sind die Auswirkungen noch erheblich.
Die Konkurrenz unter den Lohnabhängigen hat sich verschärft. Mit der seit den 70er Jahren bestehenden Sockelarbeitslosigkeit und der zunehmenden Tarifflucht von Betrieben erhöht sich der Druck auf die Beschäftigten. Wirkung zeigt das nicht nur bei den unmittelbar Betroffenen, sondern auch bei dem viel größeren Kreis der potentiell Betroffenen.
Nicht vergessen darf man dabei, dass der Niedriglohnsektor die eine Seite der ökonomisch gesellschaftlichen Entwicklung ist. Die andere Seite besteht im zunehmenden Reichtum am anderen Ende der Einkommens- und Vermögenspyramide. Die neoliberalen Zeiten sind charakterisiert durch eine ausgeprägte Zunahme der Ungleichheit. Immer mehr zeichnet sich ab, dass das statistisch ausgewiesene Wirtschaftswachstum, das ja für die Mehrheit der Jahre noch zu verzeichnen war, praktisch nur noch bei den Gutverdienenden und Reichen zu weiteren Zuwächsen führt, während die unteren 30 bis 50 % oft reale Einkommensverluste hinnehmen müssen. In „guten Jahren“ konnte dieser Trend höchstens aufgehalten, aber nicht wirklich umgedreht werden.
In diesen Zusammenhang muss man auch die neoliberale Abwicklung der DDR-Betriebe nennen. Man kann zwar nicht sagen, dass diese die Zusammensetzung der Lohnarbeiter in klar erkennbarer Weise verändert hätte, aber die Erfahrung, für viele mit längerer Arbeitslosigkeit verbunden, war prägend. Es bedeutete eine Zurücksetzung und Abstiegserfahrung, die bis heute noch erheblich nachwirkt. Auch bei jenen, die vielleicht persönlich nicht so gravierend betroffen waren, aber die Entwicklung bei Verwandten, Freunden oder Kollegen_innen wahrgenommen haben.
Der notwendige Schritt zur „Klasse für sich“
Fasst man die skizzierten Veränderungen bei den Lohnabhängigen zusammen, gilt es eine große Vielfalt zu konstatieren. Es gab in den vergangenen Jahrzehnten keine Vereinheitlichung, sondern eine weitere Differenzierung und Aufsplitterung. Die Zugehörigkeit zu einer „Klasse an sich“ lässt sich im Wesentlichen über das Kriterium Lohnabhängigkeit feststellen. Darüber hinaus gibt es aber wenig, was zu einer Klasseneinheit, die alle Untergruppen umfassen würde, beiträgt, insbesondere kein gemeinsames Klassenbewusstsein.
In entwickelten kapitalistischen Gesellschaften sind die Mechanismen der Ausbeutung (die Produktion des Mehrwerts durch die Arbeiterklasse im Gegensatz zur Aneignung desselben durch die Kapitalisten) keine offensichtlichen, von allen unmittelbar erkennbaren Tatsachen. Es gibt viel oberflächlichen Schein, der die eigentlichen ökonomischen Vorgänge verschleiert. Dazu kommt die jahrzehntelange Propaganda über die soziale Marktwirtschaft und das angebliche Überholtsein von Klassen und Klassengegensätzen. Der Begriff Ausbeutung hat sich im Alltagsverständnis auf besonders extreme Formen der Ausbeutung verengt. Viele verbinden damit nicht mehr ein grundsätzliches Strukturmerkmal des Kapitalismus. Die ideologische Sicht auf die Organisation der Gesellschaft über den Markt als etwas quasi Naturgegebenes wird hierzulande von einem erheblichen Anteil der Bevölkerung und auch der Lohnabhängigen akzeptiert und erscheint vielen irgendwie alternativlos. Die Klassenfrage scheint sich nicht mehr zu stellen.
In der jüngeren Vergangenheit kamen die Vorstöße, die objektiv mit einer Zuspitzung der Klassenfrage verbunden waren, von der Gegenseite. Für viele war der real erlebte Klassenkampf der Klassenkampf von oben, wie er z.B. bei der Durchsetzung des Neoliberalismus praktiziert wurde. Aber selbstverständlich wird das von seinen Propagandisten nicht Klassenkampf genannt, sondern, ideologisch verbrämt, etwa als sachliche Notwendigkeit, bedingt durch diverse „Sachzwänge“.
Zugegeben, das ideologische Gebäude zur Rechtfertigung des Kapitalismus zeigt Risse. Die nicht zu verbergenden Widersprüche und die daraus erwachsenden Krisen stören immer wieder das von den Medien gemalte, idealisierte Bild. Die allgemeine Akzeptanz der Unantastbarkeit des Privateigentums wird z.B. durch die Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkt und die immer größer werdende Ungleichheit bei Einkommen und Besitz in Frage gestellt.
Die „Klasse an sich“ beschreibt eigentlich nur ein Potential. Die Klasse konstituiert sich als historische und gesellschaftliche Kraft erst dann, wenn sie Schritte zur „Klasse für sich“ unternimmt. Das ist ein notwendiger und entscheidender Prozess, um das in der Klasse angelegte Potential zu entfalten und in entsprechenden politischen und gesellschaftlichen Einfluss umzusetzen. Wenn eine „Klasse für sich“ höchstens in Ansätzen existiert, wie das heute der Fall ist, bleibt der Einfluss der Lohnabhängigen begrenzt. Es ist dann damit zu rechnen, dass verschiedene Teile der Klasse ihre Interessen auf unterschiedliche, nicht koordinierte Art und Weise zum Ausdruck bringen. Dies kann unter Umständen in einer Form geschehen, in der Klassenzusammenhänge kaum mehr erkennbar sind und auch im Selbstverständnis der Beteiligten keine Rolle spielen, zumindest keine wesentliche. Gibt es keine „Klasse für sich“ und besteht ein eklatanter Mangel an Klassenbewusstsein, drohen immer politische Zersplitterung, Beschränkung auf Partikularinteressen, Desorientierung oder Resignation. Ohne sich selbst bewusst zu werden, kann die Arbeiterklasse die ihr aufgrund ihrer Größe und Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozess zukommende Stärke nicht entfalten.
Eine Herausbildung der „Klasse für sich“ ist keineswegs durch die objektive Situation determiniert. Diese stellt zwar den Rahmen bzw. die Basis dar, auf der sich solches entwickelt, und sie wird das Entstehen von Interessengegensätzen und Konflikten beeinflussen und prägen. Aber der konkrete Ablauf dieser Entwicklung ist nicht festgelegt, sondern zeichnet sich durch eine große Offenheit aus. Sehr viele andere Einflüsse können dabei eine wichtige Rolle spielen.
Auch eine noch so detaillierte Klassenanalyse kann nicht die Basis dafür sein, um daraus konkrete Prognosen über den Verlauf von Klassenkämpfen abzuleiten. Aussagen im Sinne von „dort ist das Zentrum des Kapitalismus, dort muss sich auch der stärkste Widerstand entfalten“, oder umgekehrt, „dieser Bereich ist nur am Rande der Klasse zuzuordnen und deshalb sind dort keine Kämpfe zu erwarten“, wären Ökonomismus und verfehlen die wirkliche gesellschaftliche Entwicklung, die oft eben nicht simpel und geradlinig verläuft.
Wichtig ist eine detaillierte Analyse der Lage aber innerhalb einer konkreten Auseinandersetzung. Hier muss man eventuelle Differenzierungen der Interessen und potentielle Spaltungslinien möglichst genau erkennen und bei der Formulierung von Forderungen berücksichtigen. Denn es ist auch nichts Neues, dass kleinere und größere Unterschiede, echte und vermeintliche Privilegien spaltend wirken können und auch von der Gegenseite bewusst zur Spaltung eingesetzt werden. Wenn es z.B. in einer Situation zu Kämpfen kommt, in der Stammbelegschaft, Leiharbeiter und Beschäftigte von Zulieferern gemeinsam im selben Betriebsgelände arbeiten, muss diese Situation selbstverständlich bei allen Überlegungen zur Vorgehensweise und zur Taktik einbezogen werden.
Vermutlich wird sich eine zukünftige Entwicklung zu einer „Klasse an sich“ nicht gleichmäßig in der gesamten Klasse vollziehen und auch nicht zeitlich in einem Zug. Manche Teile werden vorangehen, andere (vorerst) zurückbleiben. Es entstehen Kerne, die die Auseinandersetzung vorantreiben. Im Laufe eines solchen konkreten Prozess entscheidet sich dann auch, wo (zumindest für einen gewissen Zeitraum) die Grenzen der „Klasse für sich“ verlaufen (und wieweit diese von der „Klasse an sich“ abweichen). Selbstverständlich ist dabei mit Widersprüchen, auch mit Konflikten zwischen Teilen der Klasse zu rechnen.
Letztlich ist es auch nicht so wichtig, ob für die bevorzugten Teile der Lohnabhängigen eine eigene Zwischenklasse definiert wird oder nicht. Es ist notwendig, objektiv vorhandene Differenzierungen im Auge zu behalten und mögliche Auswirkungen zu bedenken. Ob und wie stark eine Spaltung entlang solcher Unterschiede sich in Klassenkämpfen manifestiert, ist nicht von vornherein festgelegt. Wenn Kerne der Klasse erfolgreich klassenkämpferisch agieren, wird das entsprechenden Einfluss auf die anderen Teile haben, die sich bis dahin noch zurückgehalten haben. Im günstigsten Fall kann es Gruppen am Rande der Klasse motivieren, selbst aktiv zu werden und sich den Kämpfen anzuschließen. Der konkrete Ablauf entscheidet letztlich über das Geschehen, welche Teile sich wie positionieren, welche aktiv und welche passiv sind. Auf welche Seite sich z.B. die untere Leitungsebene schlägt, lässt sich nicht generell und eindeutig vorhersagen. Entsprechendes gilt für alle anderen Gruppen innerhalb der fragmentierten Klasse.
Wenn man die Analyse der objektiven Lage zusammenfasst, kann man feststellen: der zahlenmäßig winzigen Kapitalistenklasse steht einmal eine Klasse von Selbständigen gegenüber (etwa 10 %) und eine große Gruppe von Lohnabhängigen. Etwa 10 bis 15 % dieser Lohnabhängigen muss man eventuell zu einer Zwischenklasse rechnen.
Es verbleiben also noch immer ca. 75 bis 80 % der Erwerbstätigen, die man zur Arbeiterklasse rechnen kann und muss, allerdings nur zu einer „Klasse an sich“. Diese „Klasse an sich“ weist eine große Fragmentierung auf, die in den letzten Jahrzehnten noch zugenommen hat.
Teil II wird in der nächsten Ausgabe der Arbeiterstimme erscheinen. Klassenanalyse Teil II
Literaturhinweis:
Bauer, Thomas; Christian K. Rulff; Michael Tamminga; „Formale Unterqualifikation in Deutschland“, Gütersloh 2018