Im ersten Teil wurden kurz die Klassen in Deutschland beschrieben1. Es wurde festgestellt, dass nicht alle Lohnabhängigen, aber deren große Mehrheit zur Arbeiterklasse, als einer „Klasse an sich“, gerechnet werden können. Außerdem wurden die wichtigsten strukturellen Veränderungen analysiert, die im Laufe der letzten Jahrzehnte bei den Lohnabhängigen festzustellen waren. Im zweiten Teil soll versucht werden, die notwendigen politischen Schlüsse zu ziehen.
Wie wir gesehen haben, ist die Gruppe der Lohnabhängigen sehr groß. Allerdings ist auch eine große Fragmentierung innerhalb dieser Gruppe festzustellen. Außerdem ist generell das heute vorhandenen Klassenbewusstsein nur schwach entwickelt, auch wenn es beträchtliche Unterschiede bei den einzelnen Untergruppen der Lohnabhängigen gibt.
Der betrachtete Zeitraum (etwa seit 1950) ist dadurch charakterisiert, dass keine wesentliche Entwicklung in Richtung der „Klasse für sich“ stattgefunden hat, eher im Gegenteil. Das muss man ohne Illusionen feststellen. Sicher hat es einige Kämpfe gegeben, die dieser negativen Tendenz entgegengewirkt haben. Aber als Gesamtresümee ist zu konstatieren, die Fragmentierung der Klasse hat weiter zugenommen, das Klassenbewusstsein wurde nicht wesentlich gestärkt. Die Veränderung der Strukturen in der Industrie führte vielfach zur zahlenmäßigen Verkleinerung bzw. zum gänzlichen Verschwinden von Belegschaften, die traditionell Kerne der Arbeiterbewegung mit überdurchschnittlichem Bewusstsein waren. Die Belegschaften der neuen Industrien, die vielerorts entstanden sind, sind dagegen oft nur gering mit den Traditionen der Arbeiterbewegung verbunden. Sie sind meistens weniger gewerkschaftlich organisiert als die Belegschaften der „alten“ Industrien, vom politischen Bewusstsein ganz zu schweigen.
 
Diese seit langem anhaltende Situation, deren Ende auch noch nicht abzusehen ist, ist auch das grundlegende Problem aller klassenorientierten linken Kräfte. Ihnen fehlt letztlich der Resonanzboden für linke Forderungen und Politik.
 
 
Die innere Struktur der Klasse der Lohnabhängigen
 
Die gegenwärtige Fragmentierung innerhalb der Klasse ist vielfältig. Differenzierungen sind nach verschiedenen Kriterien möglich, etwa nach Gehaltsniveau, nach Qualifikationen (Angelernte, Facharbeiter, Spezialisten), nach regionalen bzw. Ost-West Unterschieden, nach Festanstellung oder Zeitverträgen, beschäftigt in Groß- oder Kleinbetrieben, in wirtschaftlich aufsteigenden oder absteigenden Branchen, besonders betroffen von Rationalisierungen bzw. Verlagerungen, nach dem gegenwärtigem Bewusstsein usw..
Für die politische Bewertung und als Basis für die weitere Diskussion wird eine Unterteilung in drei größere Gruppen vorgeschlagen.
 
Einmal der Niedriglohnsektor bzw. der durch ungünstige Arbeitsbedingungen festgelegte prekäre Bereich (Zeitverträge, Leiharbeit, Werkverträge und sonstige ungesicherte Arbeitsverhältnisse).
 
Zweitens ein Bereich, der (typischerweise) durch die festangestellten Facharbeiter repräsentiert wird. Auch die Stammbelegschaften in der Großindustrie sind meistens zu dieser Gruppe zu rechnen.
 
Der dritte Bereich setzt sich aus hochqualifizierten Angestellten zusammen, die oft ein Studium absolviert haben. Dieser letzte Bereich befindet sich in einem fließenden Übergang zu der „privilegierten Zwischenklasse“ (wenn man denn eine solche als eigene Klasse abgrenzen will).
 
Selbstverständlich gibt es auch Gruppen, die sich nicht so ohne weiteres in dieses Schema einordnen lassen. Trotzdem scheint diese Einteilung sinnvoll, denn allen drei genannten Bereichen kommt eine besondere politischer Bedeutung zu, wenn auch aus jeweils ganz unterschiedlichen Gründen.
 
Der Niedriglohn- und prekäre Sektor ist in den Zeiten des Neoliberalismus stark gewachsen. In der jüngsten Vergangenheit scheint die zahlenmäßige Zunahme aber abgeflaut zu sein. Die Löhne im prekären Bereich bewegen sich oft an der Armutsgrenze und die Unsicherheit der Arbeitsbedingungen lässt kaum eine verlässliche Lebensplanung zu. Für die Gewerkschaften wäre es wichtig, sich in diesem Bereich besser zu verankern, um erfolgreich Arbeitskämpfe führen zu können. Bisher war das nur teilweise der Fall. Aufgrund des häufig niedrigen Organisationsgrads und der prekären Situation ist die eigene Durchsetzungsfähigkeit dieser Gruppen oft gering. Wegen dieser relativen Schwäche besteht eine ständige Gefahr der Vernachlässigung ihrer Interessen durch die real bestehenden Arbeiterbewegungen.
Soziale Brisanz könnte entstehen, wenn weitere erhebliche Teile der (noch) Festangestellten mit dem Abstieg in den prekären Bereich konfrontiert würden. Diese Möglichkeit ist als latente Gefahr für nicht wenige ständig präsent und wirkt sich auf deren Verhalten aus. Für alle linken Kräfte gehört es zu den dringlichsten und wichtigsten Zielen, hier um Verbesserungen zu kämpfen oder, defensiver gesprochen, zumindest die weitere Ausdehnung dieses Bereichs zu verhindern.
 
Der zweite Bereich ist nach wie vor noch die größte Untergruppe bei den Lohnabhängigen. Allerdings zeigte sich hier eher ein Trend zum allmählichen Schrumpfen. Für die Gewerkschaften und die Tarifauseinandersetzungen ist dieser Bereich von zentraler Bedeutung, insbesondere die Stammbelegschaften in der Großindustrie bilden dabei den Kern der mobilisierbaren Kräfte. Denn hier finden sich die Teile der Arbeiterklasse, die von ihren Bewusstsein und ihrer Stellung im Produktionsprozess her in der Lage sind, größere Arbeitskämpfe erfolgreich zu führen, inklusive der dazu notwendigen Streiks. Das sind die Bereiche, die auch heute noch einigermaßen den traditionellen Vorstellungen von Arbeiterklasse entsprechen.
Ein gewisses Klassenbewusstsein ist durchaus vorhanden, wenn auch nicht unbedingt sehr entwickelt und nicht sehr politisch. Zumindest Vorstellungen von einem „Wir da unten müssen zusammenstehen und uns gegen die da oben wehren“, dürften weit verbreitet sein und bei Arbeitskämpfen auch mobilisierend wirken.
 
 
Ein genauerer Blick auf die Hochqualifizierten
 
Der dritte Bereich, die Hochqualifizierten, erhält seine Bedeutung einmal dadurch, dass er ein zahlenmäßig wachsender ist. Das war in der jüngeren Vergangenheit so und wird vermutlich auch in der Zukunft so bleiben. Die Größe und damit auch das ökonomische und gesellschaftliches Gewicht der Gruppe dürfte langfristig weiter zunehmen.
Und dann gibt es noch einen weiteren Grund, sich eingehender mit diesem Bereich zu befassen. Denn hier sind die Verhältnisse besonders kompliziert. Daraus erwachsen leicht Fehleinschätzungen und Missverständnisse.
Die häufig zur Abgrenzung der Gruppe verwendeten Begriffe wie hochqualifiziert, Hochschulabsolvent, Akademiker bezeichnen alle etwas Ähnliches, wenn auch nicht genau das Gleiche. Diesen Begriffen ist auch gemeinsam, keine direkte Aussage über die Klassenzugehörigkeit zu beinhalten. Denn ein Studium oder ganz allgemein eine Ausbildung ist (im typischen Fall) ein Lebensabschnitt, der der Einordnung in die Klassenstruktur vorgelagert ist. Grundsätzlich lässt die Ausbildung als solche die Klassenfrage offen, wenn auch praktisch eine gewisse Vorentscheidung damit verbunden sein kann.
Konkret gesprochen, es gibt den Fall, dass jemand nach einem Wirtschaftsstudium den elterlichen Betrieb übernimmt. Er ist damit durch sein Erbe der Kapitalistenklasse zugeordnet. Eine andere Person praktiziert nach ihrer Ausbildung als niedergelassene Ärztin und etabliert sich damit als Selbstständige in einem der sogenannten freien Berufe. Wieder jemand anderes geht als Politikwissenschaftler in den Journalismus, erhält aber keine feste Anstellung und schlägt sich mehr schlecht als recht als freier Autor durch. Er ist damit formal selbständig, hat aber ein so geringes und unzuverlässiges Einkommen, dass er eigentlich zur Schicht der Prekären zu rechnen ist.
Und dann gibt es die Absolventen von Hochschulen, die beim Kapital oder beim Staat eine lohnabhängige Beschäftigung aufnehmen. Für diese, und eigentlich nur für diese, stellt sich die Frage, ob sie als Lohnabhängige zu einer modern definierten Arbeiterklasse gerechnet werden können und sollen.
 
Betrachtet man empirisch das gegenwärtige Bewusstsein und die Selbsteinschätzung der Hochqualifizierten, spielen noch weitere Faktoren eine wichtige Rolle. Für viele Menschen ist besonders die Zeit als Jugendliche und junge Erwachsene (das heißt die Zeit der Ausbildung) prägend. In dieser Zeit entwickeln und verfestigen sich Identität, Lebensstil und Habitus. Oft hält diese Prägung das ganze Leben an. Das macht ein Selbstverständnis möglich, in dem Dinge wie Lebensstil, das „Lebensgefühl einer Generation“ oder auch der erreichte Status eines Ingenieurs, Juristen etc. eine zentrale Stelle einnehmen können, eventuell auch abweichend von der im weiteren Leben sich ergebenden realen Lage. In Zeiten wie den gegenwärtigen, die nicht durch größere Klassenauseinandersetzungen charakterisiert sind, sind solche subjektiven Faktoren natürlich besonders wirksam.
Es ist deshalb nicht unwahrscheinlich, dass im konkreten Selbstverständnis vieler die objektive Klassenlage nur eine untergeordnete Rolle spielt. Stattdessen stehen kulturelle Gepflogenheiten und Lebensstile als Akademiker, als Angehörige der gebildeten Schichten etc. im Vordergrund. Die empfundenen Gemeinsamkeiten mit anderen (nicht lohnabhängigen) Vertretern der gleichen Profession oder Ausbildung können eine größere Rolle spielen als die Gemeinsamkeiten mit anderen Lohnabhängigen.
 
Die Bereiche der Facharbeiter und des Prekariats befinden sich traditionell im Fokus der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen. Nicht so die Sphäre der Hochqualifizierten. Hier gab und gibt es noch eine relativ große Distanz und des öfteren ein Spannungsverhältnis. Das hat einmal historische Gründe, früher gab es praktisch keine Hochschulabsolventen in der Arbeiterklasse. Arbeiter und Akademiker waren klar getrennte gesellschaftliche Gruppen. Letztere grenzten sich von den Arbeitern ab und waren aus Sicht der Arbeiter oft Repräsentanten der Gegenseite. Dazu kamen (und kommen) vielfältige kulturelle Differenzen, die sich durch die soziale Realität immer wieder reproduzieren (man denke nur an die unterschiedlichen Sprachgewohnheiten und Ausdrucksweisen der beiden Gruppen).
Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat diese historische Trennung abgeschwächt. In den Betrieben arbeitet eine immer größere Anzahl von Beschäftigten mit einer Ausbildung an Universitäten, Fachhochschulen etc., ohne Leitungsfunktionen oder sonstwie hervorgehobene Positionen einzunehmen. Es gibt inzwischen Betriebe und Branchen (z.B. der IT-Bereich), in denen die Mehrheit der Beschäftigten dieser Gruppe angehören.
Auch als Beamte bzw. im öffentlichen Dienst werden viele Hochschulabsolventen beschäftigt, die in ihrer großen Mehrheit nie in die oberen Ränge aufsteigen werden (z.B. als Lehrer der verschiedenen Schultypen).
Vielen dieser Beschäftigten ist ein traditionelles „akademisches Standesbewusstsein“ inzwischen fern, es gilt als überholt und als etwas sehr Konservatives, mit dem man sich nicht mehr identifizieren will. Aber ganz verschwunden ist es auch noch nicht.
 
Wie gesagt, die Bezeichnung Akademiker oder hochqualifiziert sagt noch nichts über die Klassenlage aus. Nicht zu leugnen ist allerdings die Tatsache, dass Angehörige dieser Gruppen zur Zeit noch Vorteile genießen, z.B. den, dass ihre Fähigkeiten im Schnitt relativ gefragt sind und vergleichsweise gute Löhne und Arbeitsbedingungen dafür angeboten werden. Hoffnungen auf eine (womöglich etwas größere) Karriere sind für sie realistischer als bei weniger qualifizierten Arbeitskräften. Hochqualifizierte haben generell eine deutlich größere Chance, in leitende oder andere hervorgehobene Positionen aufzusteigen und damit Teil der privilegierten Zwischenklasse zu werden. Sogar wenn keine hervorgehobene Position erreicht wird, ist das Einkommen häufig höher als beim Durchschnitt der Lohnabhängigen und bildet damit eine Basis für materielle Sonderinteressen.
Auch der Schritt in die Selbständigkeit ist für etliche eine durchaus realistische Möglichkeit. Gelegentlich kann es auch weit über Selbstständigkeit hinaus gehen und es gelingt, einen größeren (kapitalistischen) Betrieb aufzubauen. Solche Beispiele von besonders erfolgreichen Start-ups werden in den Medien immer wieder prominent dargestellt.
 
Aber andererseits ist davon auszugehen: für den weitaus größeren Teil der Hochschulabsolventen bzw. die Inhaber von ähnlichen formalen Qualifikationen besteht real nur die Möglichkeit, sich in die große Gruppe der Lohnabhängigen einzureihen und ihren Lebensunterhalt durch Verkauf ihrer Arbeitskraft zu verdienen. In der Realität erfüllen sich Karrierehoffnungen bei weitem nicht für alle. Außerdem garantiert eine lange Ausbildung mit entsprechenden Diplomen keinesfalls eine dazu passende gut bezahlte und sichere Stelle. Es gibt etliche, die sich für längere Zeit von Zeitvertrag zu Zeitvertrag hangeln müssen und es gibt auch Akademiker, die, einmal arbeitslos geworden, aus der Arbeitslosigkeit nicht mehr herauskommen. Grundsätzlich kann man feststellen, die Neoliberalisierung ist auch am qualifizierten Personal nicht vorbeigegangen. Auch diese Gruppen von Beschäftigten sind den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise unterworfen. Insbesondere gilt, je größer diese Gruppe wird und je allgemeiner Hochqualifizierte in der kapitalistischen Produktion und Reproduktion herangezogen werden, desto weniger substanziell können Privilegien ausfallen, die sie eventuell im Vergleich zu anderen Beschäftigen genießen. Und genau davon ist auszugehen. Der Anteil der hochqualifizierten Lohnabhängigen wird noch größer werden, die Umschichtung bei den Qualifikationen des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters in Richtung auf höhere Qualifikationsanforderungen wird sich fortsetzen. Das zahlenmäßigen Anwachsen der Gruppe der Hochqualifizierten zeigt, dass sich ihre Aufgaben in einem grundsätzlichen Wandel befinden. Sie verschieben sich immer mehr hin zu Standardtätigkeiten, die auch von einer entsprechend großen Anzahl von Beschäftigten ausgeführt werden müssen. Die Rolle des nur in geringer Anzahl vorhandenen Spezialisten gibt es zwar nach wie vor. Sie ist aber nicht mehr das (zahlenmäßige) Hauptbetätigungsfeld der Hochqualifizierten.
 
Aufgrund der objektiven Lage besteht für die Betroffenen eigentlich die Notwendigkeit, sich als Lohnarbeiter zu begreifen, der im Prinzip den gleichen kapitalistischen Mechanismen ausgesetzt ist wie andere Gruppen der Lohnarbeiter. Dementsprechend wäre es auch logisch, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Die Tätigkeiten von höher Qualifizierten sind keineswegs generell vor Rationalisierung, Dequalifizierung, Auslagerung von Arbeitsplätzen und der damit zusammenhängenden Lohndrückerei geschützt. Dafür sorgen die technische Entwicklung und der Kapitalismus. Man muss kein Hellseher sein, um vorherzusagen, dass es solche Entwicklungen, mit entsprechend negativen Folgen für die Beschäftigten, auch in der Zukunft geben wird, vermutlich werden sie zunehmen. Allerdings soll damit nicht die These vertreten werden, dass die relativ günstige Lage für die Hochqualifizierten sich in naher Zukunft generell und schnell verschlechtern wird. Viel wahrscheinlicher ist ein differenzierteres, sich auch ständig veränderndes Muster. Manche Qualifikationen und Tätigkeitsbereiche geraten unter Druck, gleichzeitig ergeben sich für andere neue Chancen.
Zur Zeit ist so etwas wie Klassenbewusstsein, auch ein rein gewerkschaftliches, meistens nur schwach entwickelt, manchmal praktisch gar nicht vorhanden. Weit verbreitet sind noch Vorstellungen von individuellen Problemlösungsmöglichkeiten bei den Arbeitsbeziehungen. Ein entsprechendes Umdenken kam bisher nur zäh voran. Der Schritt, sich des eigenen Status als Lohnabhängige wirklich bewusst zu werden und daraus die Folgerung zu ziehen, gemeinsam und solidarisch mit den anderen Teilen der Lohnabhängigen zu agieren, steht für viele noch aus. Nicht alle, aber ein großer Teil hat dabei noch einen weiten Weg vor sich.
Die Zuordnung von hochqualifizierten Lohnabhängigen zur Arbeiterklasse ist also noch stärker als bei anderen Untergruppen eine Zuordnung zur einer analytischen „Klasse an sich“.
 
 
Eine langfristige Perspektive: die Klasseneinheit aller Lohnabhängigen
 
Nur wenige begreifen die heutige Gesellschaft als Klassengesellschaft. Diesen weit verbreiteten Vorstellungen muss immer wieder entgegenhalten werden: selbstverständlich leben wir nach wie vor in einer kapitalistischen Klassengesellschaft. Das Klassenverhältnis bestimmt nicht nur die Arbeitswelt, sondern geht weit darüber hinaus und betrifft letztlich ganz allgemein alle Lebensbedingungen. Kapitalismus bedeutet immer auch Klassengesellschaft. Auch das Verhältnis zur Natur und der Umgang mit ihr wird durch den Kapitalismus und die kapitalistische Klassengesellschaft determiniert. Somit sind auch Themen wie Klima und Ökologie nur scheinbar unabhängig von der Klassenfrage. Spätestens beim Versuch, dafür wirkliche Lösungen und nicht nur eine gewisse Abmilderung der Probleme zu erreichen, wird auch die Klassenfrage sichtbar werden.
Erst recht ist die Klassenfrage entscheidend, wenn es einmal darum geht, eine grundlegende Umgestaltung dieser Gesellschaft im Interesse der lohnabhängigen Klassen herbeizuführen.
 
Dazu bedarf es aber der Herausbildung der „Klasse für sich“. Diese sollte möglichst alle Teile und Fragmente der Lohnabhängigen umfassen, also auf einer weitgehenden Klasseneinheit aufbauen. Denn nur eine selbstbewusste und weitgehend geeinte Arbeiterklasse kann wirklich politisches Gewicht entfalten. Je größer die Teile sind, die abseits stehen oder vielleicht gar mit dem Klassengegner paktieren, desto schwächer ist das Gewicht der Arbeiterklasse. Die Klasseneinheit aller Lohnarbeiter ist das Ziel und muss deswegen für alle marxistisch orientierten Linken der strategische Kern ihrer Arbeit bleiben.
Das Ziel der Klasseneinheit lässt sich gut begründen. Aber damit ist es in der Praxis noch nicht erreicht. Offensichtlich ist die gegenwärtige Situation noch weit von einer umfassenden Klasseneinheit entfernt, die sowohl Facharbeiter, als auch Prekäre und die lohnabhängigen Hochqualifizierten einschließt. Selbstverständlich gibt es keine simplen Rezepte, die einfach anzuwenden wären, um dieses Ziel zu erreichen.
 
 
Die gegenwärtige Lage: Schwanken ...
 
Betrachtet man die gegenwärtige politische Situation, muss man das weitgehende Fehlen von Klassenfragen in der öffentlichen Diskussion konstatieren. Natürlich sind diese real vorhanden, sie werden aber meistens nicht als solche benannt. Große klassenbewusste Aktionen oder gar Bewegungen gibt es zur Zeit nicht. Nur bei Tarifauseinandersetzungen werden Klassenfragen einigermaßen sichtbar. In der aktuellen Politik spiegeln sich die Interessen der arbeitenden Klassen häufig nur indirekt, vermittelt über den Begriff „soziale Gerechtigkeit“.
Die (relative) Abwesenheit der Klassenfrage in den entwickelten kapitalistischen Ländern ist zu einem ganz erheblichen Teil darauf zurückzuführen, dass es möglich war, einem sehr großen Kreis der Gesellschaft einen bemerkenswerten materiellen Wohlstand zu ermöglichen und auch eine Perspektive für die Zukunft zu bieten. In der Nachkriegszeit galt das Versprechen, für eigene Leistungen belohnt zu werden und die Aussicht, dass die Kinder es besser haben werden als die Eltern. Dieses „Versprechen“ war zwar schon immer stark ideologisch geprägt, aber man kann nicht abstreiten, dass es auch einen realen Kern hatte. Seit der neoliberalen Offensive gilt dieses Versprechen mindestens für die „unteren“ 50% der Bevölkerung nicht mehr. Ein individuelles sich Abrackern führt nicht mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer besseren Bezahlung und es ist höchst fraglich, ob es den Kindern einmal besser gehen wird.
 
 
Zwischen Verunsicherung, Resignation und ...
 
Großteils haben die Menschen diese neuen Realitäten durchaus wahrgenommen und in gewissem Sinne auch die Konsequenzen daraus gezogen.
Allerdings nicht in Form von Gegenwehr und verstärkter gewerkschaftlicher oder politischer Aktivitäten, sondern eher in Form von Passivität und Resignation. Ein Zeichen dafür ist z.B. die Zunahme des (generellen) Nichtwählens bei den Arbeitern (ganz zu schweigen vom Wählen der AFD). Es ist nicht verwunderlich, dass die SPD (und die Grünen) als Hauptverantwortliche für die Agenda-Politik stark an Vertrauen verloren haben. Aber man sollte sich nichts vormachen, es ist auch eine starke Desorientierung festzustellen. Die Enttäuschung über die SPD war auch nur auf der Basis einer lange akzeptierten (vermutlich auch gewünschten) Stellvertreterpolitik möglich. Nachdem sich gezeigt hat, dass die Stellvertreterpolitik nicht funktioniert, ist man ratlos und verunsichert über die zukünftige Perspektive. Die Abstiegserfahrungen bzw. die Befürchtungen, einen sozialen Abstieg erleiden zu müssen, lösen anscheinend Frustration, Gefühle der Ausgrenzung und des Abgehängtseins aus, aber (noch) wenig politischen Widerstand.
Dabei gibt es durchaus die langsam zunehmende Erkenntnis, dass wir in einer kapitalistischen Gesellschaft leben und dass deshalb das große Geld, die Konzerne, die Wirtschaft, oder wie immer das genannt wird, weitgehend über die Verhältnisse bestimmen. Und es gibt auch das Bewusstsein, dass man seine eigenen Interessen dagegen setzen muss und damit auch eine gewisse Bereitschaft zum Kampf. Ein solches vages „antikapitalistisches“ Bewusstsein ist in vielen Schichten vorhanden. Aber es sind auch sehr häufig, oft gleichzeitig bei den selben Menschen, Vorstellungen verbreitet, dass nur Auswüchse im Kapitalismus aber nicht der Kapitalismus selbst das Problem wären, dass es keine wirkliche Alternative zum Kapitalismus gebe bzw. diese noch schlechter funktionieren würden.
 
 
Einsatz für Menschheitsziele
 
Die größeren und die öffentliche Diskussion dominierenden Bewegungen sind derzeit wenig von der Lage der Lohnabhängigen bestimmt. Sie werden nicht von Menschen getragen, die sich vor allem als Lohnabhängige oder gar als Arbeiterklasse verstehen. Im Gegenteil, die Ziele werden als über jede Klassenfrage hinausgehende, als Menschheitsziele verstanden. Das gilt für den Einsatz gegen die Klimaveränderungen ebenso wie für die sonstigen ökologischen Fragen, für den Einsatz gegen Diskriminierungen und auch für die Problematik von Flucht und Migration.
Diese Lage spiegelt sich auch innerhalb der Linken. Sowohl im Umfeld aller linken Strömungen, als auch innerhalb der Partei „Die Linke“ ist eine Differenzierung zwischen (mindestens) zwei verschiedenen Politikansätzen festzustellen. Ein Ansatz betont die Sozialpolitik und bezieht sich damit auf die (klassische) Arbeiterschaft mit ihren Anliegen. Der zweite Ansatz legt seinen Focus eher auf Umwelt, Klima und Identitätspolitik. Dieser wird hauptsächlich von sogenannten jungen, urbanen Schichten getragen. Letztere sind meistens ziemlich weit von einer, wie auch immer begründeten, Klassenorientierung entfernt. Ihre Motivation ist oft stark von moralischen Ansprüchen geprägt. Die Differenzen und Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit erklären sich aus unterschiedlichen Mentalitäten und kulturellen Hintergründen, sowohl bei den jeweiligen Aktivisten, als auch bei den Unterstützern und Adressaten der Politik, bei letzteren eher noch mehr als bei den Aktivisten. Stark vereinfachend und zugespitzt könnte man von zwei typischen Vertretern für das jeweilige Politikverständnis sprechen: die klassischen Industriearbeiter einerseits und Menschen aus dem universitären Bereich andererseits. Die dort jeweils gängigen Auffassungen etwa zur Mobilität und Ökologie, zu Fragen der Migration oder zur sogenannten Identitätspolitik enthalten, ganz vorsichtig ausgedrückt, Konfliktpotential. Aber oft geht es gar nicht darum, die spezifischen Ziele und Forderungen des jeweils anderen Ansatzes abzulehnen. Prinzipiell sind bzw. könnten die meisten Ziele und Forderungen für beide Teile akzeptabel sein, seien sie nun sozial oder ökologisch. Das heißt aber nicht, dass sie wirklich gemeinsam getragen werden. Denn man findet oft nicht zu einer gemeinsamen Sprache, nicht zu einer gemeinsamen Sichtweise der Dinge und deshalb auch nicht zu einer gemeinsamen politischen Strategie.
Leider werden die vorhandenen Differenzen nicht immer in einer solidarischen Weise ausgetragen. (Ein Beispiel dafür ist sowohl das jüngste Buch („Die Selbstgerechten“) von Sarah Wagenknecht, als auch die innerparteiliche Kritik daran)
 
Klasseneinheit und eine „Klasse für sich“ sind zur Zeit sehr entfernte Ziele. Marxisten wissen, dass der Weg dahin nicht künstlich beschleunigt werden kann, etwa allein durch verstärkte Propaganda. Aber es ist möglich und notwendig, eine Entwicklung in diese Richtung zu unterstützen durch langfristig angelegte, konsequent klassenorientierte (Tages-) Politik. Jede konkrete Aktion und die gesamte Strategie muss immer wieder darauf überprüft werden, ob sie im Einklang mit dem Ziel der Klasseneinheit steht.
Die Ausgangslage ist nicht günstig, das liegt an den Fragmentierungen, mit den damit verbundenen speziellen Interessen der Untergruppen und ihrem unterschiedlichen Bewusstseinsstand. Dazu kommt die gegenwärtige generelle Schwäche der Linken. Deshalb ist nicht gewährleistet. dass überall genügend Kerne von Aktiven vorhanden sind, die für eine klassenorientierte Politik mobilisierbar wären und diese dann als Multiplikatoren weiter tragen können. Es ist auch fraglich, wie groß der Kreis innerhalb des linken Spektrums ist, bei dem über die Bedeutung von Klassenorientierung und Klasseneinheit wirklich Klarheit besteht.
 
Das Skizzieren der „Klasse an sich“ ist eine relativ einfache Übung. Für eine politische Wirksamkeit ist aber die Herausbildung einer „Klasse für sich“ erforderlich. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist die Herstellung der Klasseneinheit. Ohne ein Mindestmaß an Klasseneinheit kann es auch keine „Klasse für sich“ geben. Und ohne „Klasse für sich“ ist eine tiefgreifende Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft nicht denkbar. Als Ziel ist die Klasseneinheit für die sozialistische Linke deshalb ohne Alternative.
Es ist keineswegs sicher, dass eine Entwicklung in diese Richtung in absehbarer Zukunft beginnen wird. Es gibt dafür keine Garantie. Es ist heute nicht abzusehen, wie eine Entwicklung zur „Klasse für sich“ verlaufen wird, welche Teile der Klasse diesen Weg gehen werden und welche eventuell nicht, welche Spaltungen dabei eine Rolle spielen werden und ob diese letztlich überwunden werden können. Dabei ist nichts selbstverständlich und nichts ist ausgeschlossen.
 

1 In der Druckversion gibt es dort einen Fehler bei einer Zahlenangabe. In der ARSTI Nr. 214 auf Seite 6 heißt es: „ (… es gibt 250 000 Unternehmen mit mehr als 10 Beschäftigten)“. Richtig ist: es gibt ca. 440 000 Unternehmen mit mehr als 10 Beschäftigten.

 

Klassenanalyse (Teil I)