Auch ohne den Begriff „Zeitenwende“ zu strapazieren, dürfte klar sein, die Analyse und Beurteilung der gegenwärtige Situation ist auch für Linke und Kommunisten nicht ganz einfach. Es stellen sich neue Fragen, bisherige Einschätzungen müssen kritisch überprüft werden. Selbstverständlich geht es dabei nicht um irgendeine Anpassung an die aufgeheizte politische Stimmung, die hierzulande zur Zeit dominiert. Es reicht aber auch nicht, diese Stimmung einfach nur abzulehnen und Widerspruch dagegen einzulegen, so berechtigt und notwendig das auch ist. Wir müssen der Sache schon auf den Grund gehen.

Entsprechend dem Thema liegt der Schwerpunkt dieses Artikels auf der Einschätzung des heutigen Russland, der Russischen Föderation. Selbstverständlich ist der Krieg auch auf das Engste mit den Verhältnissen in der Ukraine und der dortigen Politik verbunden. Darauf wird aber nur am Rande eingegangen, insbesondere wird nicht genauer untersucht, wie und warum die Entwicklung in der Ukraine zu den heutigen Verhältnissen geführt hat. Da muss auf andere Veröffentlichungen verwiesen werden.

Und dann noch eine einleitende Anmerkung. Es ist ganz wesentlich, dass wir unsere eigene Analyse zuerst einmal nur auf einigermaßen gesicherten Fakten aufbauen. Deshalb wird soweit wie nur möglich auf Spekulationen verzichtet, egal ob zum weiteren Verlauf der militärischen Auseinandersetzung oder zu eventuellen politischen Folgen in Russland usw.. Genauso ist dieser Artikel zurückhaltend bei der Kommentierung von allen Ereignissen, die im Zentrum des stattfindenden Informationskrieges stehen. Das betrifft z.B. die Frage nach Kriegsverbrechen in Butscha oder warum die Evakuierung der Zivilisten aus Mariupol immer wieder gescheitert ist. Solchen Fragen wird im folgenden nicht nachgegangen. Nicht weil sie unwichtig wären oder gar weil sie verdrängt werden sollen. Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Nachrichtenlage dann hoffentlich klarer und überprüfbarer ist, darauf zurückkommen müssen.

 

Die Ausgangslage, die Auflösung der Sowjetunion

Die zwei Staaten, die sich im Ukraine-Krieg unmittelbar gegenüberstehen, waren vor 32 Jahren, noch beide selbstverständliche Teile der Sowjetunion. Damals, bei der Auflösung der Sowjetunion, war die jetzige kriegerische Konfrontation keineswegs vorgezeichnet.

Der Wunsch nach Unabhängigkeit hat zwar in der krisenhaften Spätphase der Sowjetunion (SU) eine bedeutende Rolle gespielt, aber eigentlich nicht in Bezug auf die Ukraine. Die Unabhängigkeit war vor allem für die drei baltischen Länder ein mit großer Entschlossenheit angestrebtes Ziel, dann auch für Moldawien/Transnistrien und die Kaukasus-Republiken Georgien und Armenien. Zusätzlich gab es auch Unabhängigkeitsbewegungen in einigen Gebieten, die keine eigenen Sowjetrepubliken waren, wie etwa Tschetschenien oder Abchasien. Nebenbei sei angemerkt, dass die Situation im Kaukasus wegen diverser lokaler Konflikte wie z.B. zwischen Armenien und Aserbaidschan oder Georgien und Abchasien ziemlich anders war als im Baltikum. Darauf wird aber nicht weiter eingegangen, das wäre ein eigenes Thema. Für die Ukraine spielte die Unabhängigkeit zuerst einmal keine entscheidende Rolle (ähnlich wie für Belarus, Kasachstan und andere Sowjetrepubliken).

Um zu erklären, warum es dann trotzdem ziemlich schnell zur Auflösung der SU und zu einer selbstständigen Ukraine gekommen ist, muss man etwas ins Detail gehen.

1989 fanden Wahlen zum (neu geschaffenen) SU-weiten Kongress der Volksdeputierten statt. Bei diesen Wahlen gab es, sehr vereinfacht gesprochen, eine Mehrheit für die Anhänger Gorbatschows, die prinzipiell für den Erhalt der SU eintraten.

Im Frühjahr 1990 fanden dann Wahlen in den einzelnen Republiken statt. Bei diesen Wahlen mussten Gorbatschow und seine Anhänger eine Niederlage hinnehmen. In Russland, der damaligen RSFSR, wurde Jelzin, der auf viel radikalere Veränderungen drängte, Präsident und konkurrierte seitdem mit Gorbatschow um den entscheidenden politischen Einfluss.

1990 erklärten sich auch die ersten Sowjetrepubliken, z.B. Litauen, für unabhängig. Die Antwort der Führung unter Gorbatschow war der Vorschlag eines neuen Unionsvertrags. Dieser sollte die Rechte und Pflichten der Zentrale und der Republiken auf eine neue Grundlage stellen. Ziel war dabei die weitgehende Erhaltung des staatlichen Verbunds der bisherigen SU. Über diesen Vorschlag wurde am 17. März 1991 ein Referendum abgehalten. Sechs Republiken beteiligten sich bereits nicht mehr offiziell an diesen Referendum (Estland, Lettland, Litauen, Moldawien, Armenien, Georgien). In den anderen Republiken zeigte sich eine große Zustimmung zum neuen Unionsvertrag (z.B. RSFSR: 71,3 % ja, 26,4 % nein, 75,4 % Beteiligung; Belarus: 82,7 % ja, 16,1 % nein, 83,3 % Beteiligung; Kasachstan: 94,1 % ja, 5,0 % nein, 88,2 % Beteiligung). In der Ukraine gab es 70,2 % Ja-Stimmen und 28 % Nein-Stimmen bei einer Beteiligung von 83,5 %. Daraus wird ersichtlich, es gab auch damals schon Nationalisten, die die staatliche Einheit nicht fortsetzen wollten, aber sie waren weit von einer Mehrheit entfernt. Der neue Unionsvertrag trat aber nie in Kraft. Denn ein paar Tage vor der geplanten Unterzeichnung starteten Kreise um den damaligen Vizepräsidenten der SU, Gennadi Janajew, den sogenannten Augustputsch (19.8.1991). Gorbatschow wurde auf der Krim festgesetzt. Der Putsch brach nach kurzer Zeit zusammen, löste aber eine Dynamik aus, die sehr schnell zur Auflösung der SU führte. Denn die Führung des Widerstand gegen den Putsch konzentrierte sich in den Einzelrepubliken, insbesondere der RSFSR unter Jelzin. Im Rahmen des Widerstandes gegen den Putsch erfolgten auch Unabhängigkeitserklärungen wie die der Ukraine am 24.8.1991 und von Belarus am 25.8.1991. Gorbatschow konnte zwar wieder nach Moskau zurückkehren, unterlag aber im folgenden Machtkampf den radikaleren „Reformern“ wie Jelzin. In den folgenden Monaten erklärten sich nach und nach auch die anderen Republiken für unabhängig, als letztes Kasachstan am 16.12.1991.

Folgerichtig erklärten die Führungen von drei Republiken (Jelzin für Russland, Krawtschuk für die Ukraine und Schuschkewitsch für Belarus) in der Beloweschen Vereinbarung (8.12.1991) die Existenz der Sowjetunion für beendet und beschlossen stattdessen die Gründung der „Gemeinschaft Unabhängigen Staaten“ (GUS), die aber nie eine wesentliche Rolle spielen sollte.

Die Ukraine organisierte ein neues Referendum. Am 1.12.1991 stimmten 90,3 % für die Unabhängigkeit. Nach nicht einmal neun Monaten hatte sich die Stimmung vollkommen gedreht. Allerdings bestand zum Zeitpunkt des zweiten Referendums auch kaum mehr eine realistische Alternative zur Unabhängigkeit.

Die Auflösung der SU in der Form, wie sie abgelaufen ist, ist in gewisser Weise ein Nebenprodukt eines Machtkampfes, zuletzt des Kampfes Jelzin gegen Gorbatschow, wenn man das auf die Personen zuspitzen will. Ein Nebenprodukt deshalb, weil das Hauptfeld der Auseinandersetzung natürlich die Radikalität der anstehenden Transformation war.

Und diese Transformation hat dann auch stattgefunden, in Russland und der Ukraine. In beiden Ländern folgte eine chaotische Übergangsphase zum Kapitalismus. In dieser Zeit kam es zum Aufstieg der Oligarchen. Diese konnten sich im Rahmen der stattfindenden Privatisierungen einen großen Teil des Produktivvermögens aneignen. Noch heute beherrschen sie weite Teile der russischen bzw. ukrainischen Wirtschaft. Diese Zeit war von einer tiefen Wirtschaftskrise begleitet. Besonders in den Jahren 91,92 und 93 kam es zu starken Einbrüchen bei der Produktion, begleitet von hohen Inflationsraten und einer Verarmung breiter Schichten. Die Krise führte auch zu einer Deindustrialisierung. Der Anteil der Industriegüter am BIP ging von 65 % (1990) auf 41 % (2004) zurück. Die Tiefe dieser postsowjetischen Krise und die Folgen, die davon ausgegangen sind, darf man nicht unterschätzen. Nicht vergessen darf man auch, dass die Transformation nicht gewaltfrei durchgesetzt wurde. Man denke nur an die Beschießung des russischen Parlaments (1993) und die anschließende Etablierung einer Präsidialverfassung mit autoritären Zügen unter Jelzin, wobei dieser von den USA mit erheblichen Geldmitteln unterstützt wurde.

Russland erlebte dann 1998/99 nochmal eine Verschärfung der wirtschaftlichen Probleme, die sogenannte Russland- oder Rubel-Krise. In Anschluss an die Turbulenzen der Finanz- und Devisenmärkte in Asien gerieten auch die russischen Finanzmärkte unter Druck. Sowohl ausländisches als auch inländisches Kapital wurde fluchtartig aus Russland abgezogen. Der Staat konnte sein Haushaltsdefizit nicht mehr finanzieren und stellte vielfach seine Zahlungen ein. Firmen wurden nicht mehr für ihre Waren bezahlt und konnten ihrerseits die Löhne oder Zulieferer oder den Strom etc. nicht mehr bezahlen. Die Folge war ein Zusammenbruch der Zahlungsketten. Unter dem Druck des IWF musste die Regierung (noch unter Jelzin) einen strikten Sparkurs einschlagen und weitere „Reformen“ durchführen. Der Rubel, der damals noch nicht frei floatete, wurde um ca. 60% abgewertet. Erst ab dem Jahr 2000 stabilisierte sich die Lage wieder.

Bis dahin war der Verlauf in Russland und der Ukraine weitgehend parallel, wobei der Niedergang in der Ukraine im allgemeinen noch größer war als in Russland. Nach 2000 entwickelten sich Russland und die Ukraine immer weiter auseinander. Eine wesentliche Ursache dafür war das Erdöl und sein Preis. Denn dieser, und in seinem Gefolge auch der Gaspreis, zeigte mehrere Jahre (bis zur Finanzkrise 2008) eine starke Aufwärtsentwicklung, die Russland steigende Einnahmen bescherte. Die Ukraine konnte mangels einschlägiger Ressourcen nicht vom Anstieg der Energiepreise profitieren, im Gegenteil, ihre notwendigen Importe verteuerten sich.

 

Die Russischen Föderation nach 2000.

Im August 1999 ernannte Jelzin Wladimir Putin zum Ministerpräsidenten, im Mai 2000 wurde dieser Präsident der Russischen Föderation.

Wirtschaft

Für Russland bedeutete die wirtschaftliche Stabilisierung einmal den Rückgang der hohen Inflationsraten. Die Produktion erholte sich allmählich, die Staatseinnahmen stiegen ebenfalls. Der russische Staat wurde wieder zahlungsfähig und kreditwürdig. Die Leistungen des Staates konnten wieder zuverlässig erbracht werden, wenn auch auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau.

Charakteristisch für die russische Ökonomie ist der große Anteil des Energie- und Rohstoffsektors. Dieser liefert den Löwenanteil der privaten Profite und auch der Staatseinnahmen. Rohstoffe stehen für ca. 80 Prozent des russischen Exports und finanzieren zu rund 50 Prozent den Staatshaushalt.(Zahlen nach Ostausschuss der deutschen Wirtschaft – Stand März 2014)

An erster Stelle stehen die Träger von fossiler Energie: Erdöl, Erdgas und Steinkohle. Diese Produkte sind mit großen Abstand die wichtigsten für die russische Ökonomie. Aber auch bei anderen Rohstoffen spielt Russland international eine wichtige Rolle. Zu nennen wären etwa Nickel, Titan und Palladium.

Auf den günstigen Energieträgern baut auch ein Teil der Industrie auf, z.B. die Herstellung von Aluminium und von Stickstoffdünger. Beide Produktionszweige sind sehr energieintensiv. Bedeutend sind auch noch andere rohstoffnahe Industrien wie die Erzeugung von Eisen und Stahl und die Basischemie.

Auch landwirtschaftliche Rohstoffe sind für Russland wichtig. Im Wirtschaftsjahr 2020/21 war es z.B. mit 19,67 % Marktanteil der weltweit führende Exporteur von Weizen und Weizenprodukten (vor der EU mit 14,96 % und Kanada mit 13,95 %; zum Vergleich Ukraine 8,48 %; Angaben laut Statista).

In Russland gibt es immer noch eine vielfältige Industrie. Allerdings scheint diese, was ihre Leistungsfähigkeit bzw. die Modernität und Qualität der Produkte betrifft, international oft wenig konkurrenzfähig zu sein. Natürlich gibt es Ausnahmen, z.B. Waffen und andere militärische Güter oder auch Atomkraftwerke und deren Zubehör wie Brennstäbe.

Staatlicherseits gab es Bestrebungen, die industrielle Basis zu modernisieren und zu stärken. Durch die Definition von strategischen Zielen (hier wirtschaftlich und nicht militärisch zu verstehen) wurde versucht industriepolitisch Einfluss zu nehmen und die Weichen für die Zukunft zu stellen. Aber anscheinend bisher mit nur mäßigen Erfolg, soweit man das von hier aus beurteilen kann.

Die sogenannten Oligarchen kontrollieren nach wie vor wesentliche Teile der russischen Ökonomie. Daneben gibt es aber auch noch einen nennenswerten staatlichen Sektor, im Energiebereich (Gazprom und Rosneft) und im Rüstungsbereich und damit verwandten Branchen. (28,4% aller in der Wirtschaft Beschäftigten arbeiten in Firmen mit staatlichen bzw. kommunalen Eigentümern, nach Daten des russischen Amtes für Statistik zu 2013)

Russlands Wirtschaftspolitik ist neoliberal geprägt. Eine prominente und einflussreiche Vertreterin des Neoliberalismus ist die Chefin der russischen Zentralbank, Elvira Nabiullina. Der Staat ist bei seinen Ausgaben sparsam. Die Zeiten der hohen Erdöl- bzw. Gaspreise wurden genutzt, um finanzielle Reserven zu bilden, die inzwischen eine beträchtliche Höhe erreicht haben. In der Vergangenheit war Russland weitgehend offen für ausländisches Kapital, genauso wie auch der Export von einheimischem Kapital problemlos möglich war. Es gab bedeutende ausländische Investitionen in Russland, viele transnationale Konzerne waren daran beteiligt. Ausländische Konzerne investierten auch in die Gewinnung von Erdöl und Erdgas.

Das von Öl und Gas dominierte Wirtschaftsmodell offenbarte aber auch seine Grenzen. Nach der Finanzkrise 2008 und während der Corona-Flaute (2020/21) ging weltweit die Nachfrage nach Öl zurück und dementsprechend brachen die Preise ein, was entsprechende negative Folgen für den russischen Staatshaushalt hatte. Die neoliberale Ausrichtung und die Offenheit für ausländisches Kapital blieb nicht ohne Widerspruch. Es gibt eine auch in Staat und Regierung vertretene und in den letzten Jahren anscheinend stärker gewordene Strömung, die man als national-konservativ bezeichnen könnte. Sie plädiert hauptsächlich für eine stärkere Binnenorientierung in der Wirtschaft und für die Förderung einer auf Importsubstitution ausgerichteten Industrie, außerdem für eine stärkere Ausrichtung auf den asiatischen Raum. Ein relativ bekannter Vertreter dieser Richtung ist etwa der Ökonom Sergei Glasjew (Mitglied der russischen Akademie der Wissenschaften). Die politische Entwicklung der letzten Jahre begünstigte diese Strömung. Bereits die Sanktionen ab 2014 haben die Investitionen des Auslands abgebremst. Nach den jüngsten Sanktionen hat sich die Situation völlig gewandelt. Viele westliche Firmen ziehen sich wieder aus Russland zurück.

Von der Ökonomie her ist Russland eher als Schwellenland einzustufen, allerdings mit einigen Inseln in der Hochtechnologie. Abschließend noch ein paar Grunddaten. Bei der Größe der Bevölkerung ist Russland (ca. 145 Mio.) gut mit Deutschland plus Frankreich (83 + 67 = 150 Mio.) vergleichbar. Auffallend ist beim Vergleich der Wirtschaftskraft der große Unterschied zwischen dem nominalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) und dem BIP gemessen in Kaufkraftparitäten (KKP). Beim nominalen BIP weist Russland nur 27 % des BIP von Deutschland plus Frankreich aus. Rechnet man in KKP sind es immerhin 60 % (Zahlen für 2020 aus Wikipedia). Offensichtlich wird der Rubel auf den internationalen Devisenmärkten nur relativ schwach bewertet (und das seit Jahren und unabhängig vom Krieg in der Ukraine). Die interne Kaufkraft des Rubel ist deutlich größer.

Innenpolitik

Die Zeit der ökonomische Stabilisierung war innenpolitisch von einer Stärkung der Zentralmacht begleitet. Die eigenen Wege, die in manchen Regionen (z.B. Tatarstan) von den dortigen Administrationen versucht wurden, wurden wieder unterbunden. In Tschetschenien (teilweise auch in angrenzenden Gebieten wie Dagestan und Inguschetien) wurde ein von beiden Seiten brutaler Krieg geführt, der mit der Niederlage der dortigen Unabhängigkeitsbewegung (sei es der radikal islamistischen oder der eher gemäßigt islamistischen/säkularen Nationalisten) endete.

Die genauen internen Machtverhältnisse, die sich seit 1990 in Russland etabliert haben, sind von außen nicht so ohne weiteres zu durchschauen. Offensichtlich gibt es innerhalb der herrschenden Kreise verschiedene Gruppen, wie etwa Vertreter aus dem Machtapparat, die sogenannten Silowiki, oder die Oligarchen.

Das Gewicht der Silowiki scheint im Laufe der Zeit eher zugenommen zu haben. Den Oligarchen dagegen wurden die Schranken ihres politischen Einflusses aufgezeigt (z.B. im Fall Chodorkowski). Anscheinend haben sie keinen unmittelbar bestimmenden Einfluss mehr auf die Staatsführung. Aber der Besitz der Oligarchen wurde im allgemeinen nicht angetastet.

Die Medien wurden immer stärker einer direkten staatlichen Kontrolle unterworfen. Die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten wurde schrittweise abgebaut oder zumindest relativiert, vor allem durch Verbote bzw. die administrative Behinderung von oppositionellen Gruppen. Die Repression hat im Laufe der Jahre zugenommen.

Die Silowiki bzw. Personen, die diesen Kreisen entstammen, haben sich inzwischen auch direkten Zugriff auf die gesellschaftlichen Reichtümer verschafft. Sie besetzen vielfach Positionen an ökonomisch wichtigen Stellen (z.B. als Chefs von staatlich kontrollierten Firmen wie Gazprom, Rosneft etc.). Anscheinend gibt es vielfältige korrupte Praktiken, durch die sich einflussreiche Staatsvertreter bereichern können.

Präsident Putin fungiert vermutlich als Schiedsrichter und letzter Entscheider über den diversen Machtgruppen.

Außenpolitik

Im Zuge der Auflösung der SU und einige Zeit danach waren viele Ansätze zur Kooperation mit dem „Westen“ zu beobachten. Dazu nur ein paar Stichpunkte. 1990 beschlossen alle KSZE-Staaten die Charta von Paris. Diese sollte die Basis für die zukünftige partnerschaftliche Entwicklung bilden. Die Staaten der NATO und des, damals noch bestehenden, Warschauer Pakts versprachen, sich zukünftig nicht mehr als Gegner zu betrachten. Bereits die erste NATO-Osterweiterung 1997 sorgte dann für erhebliche Irritationen auf russischer Seite, beendete aber die Phase der Kooperation noch nicht. Es folgte die NATO-Russland-Grundakte (1997), die eine neue Basis für die Zusammenarbeit bilden sollte. Seit 1998 (bis 2014) war der russische Präsident Teilnehmer an der früheren G7-Runde, die damit zur G8 wurde. Auch die Rede Putins im Bundestag (2001) stand noch im Zeichen der Kooperation.

Danach wurde die zunehmende Distanz und Konfrontation immer offensichtlicher, z.B. in der Rede Putins auf der Sicherheitskonferenz in München (2007). Einen erheblichen Beitrag zum Entstehen dieser Konfrontation leistete die Politik der NATO-Ausdehnung nach Osten. (siehe dazu Artikel in der ARSTI 125 „Der NATO-Prolog des Ukraine-Krieges“). Weitere Stichpunkte sind: Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos durch USA und BRD (Februar 2008), NATO-Beitrittsperspektive für Georgien und die Ukraine (April 2008), die militärische Intervention Russlands in Südossetien bzw. Georgien und Abchasien (August 2008), die Annexion der Krim und die Entstehung der sogenannten Volksrepubliken von Luhansk und Donezk (2014).

Russische Außenpolitik gab es natürlich nicht nur Richtung Westen. Insbesondere mit der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (2001, Vorläufer 1996) wurde eine Kooperation nach Asien hin etabliert. Aber das steht nicht im Fokus dieses Artikels.

 

Nach der Transformation zum Kapitalismus musste logischerweise auch die Außenpolitik auf eine neue Basis gestellt werden. Beim Verhältnis Russland zum „Westen“ gab es keinen Systemgegensatz mehr. Als Rohstofflieferant stellt Russland in gewisser Weise sogar eine ideale Ergänzung für die rohstoffarmen westeuropäischen Länder dar.

Der erste Ansatz (etwa ab 1990) war, in der Außenpolitik einen Schulterschluss mit den führenden kapitalistischen Staaten zu versuchen. Erklärungen wie die Charta von Paris und Zusicherungen von westlichen Politikern, auf die Sicherheitsinteressen Russlands Rücksicht zu nehmen, schienen die Basis für eine (gleichberechtigte) Zusammenarbeit zu bilden. Auf Dauer hat das aber nicht funktioniert. Die Interessen waren trotz Kapitalismus auf beiden Seiten zu unterschiedlich.

Als Rohstofflieferant nimmt Russland im Weltkapitalismus letztlich eine periphere Position ein. Und mehr wurde Russland von der führenden kapitalistischen Macht, den USA, auch nicht zugestanden. Diese zweitrangige Position wurde von Russland aber nicht akzeptiert. Russland ist in fast allen Bereichen den USA unterlegen, dem gesamten „Westen“ sowieso. Aber bei der Atombewaffnung besteht in etwa Parität mit den USA. Deshalb sieht sich Russland als Weltmacht und beansprucht für sich ein Verhältnis auf Augenhöhe mit den USA. Es ist nicht bereit, sich deren Hegemonie unterzuordnen, wie das viele andere Länder tun, auch Deutschland, Frankreich, Japan usw..

Ein weiterer Grund für die Beanspruchung einer Großmachtrolle dürfte in der Geschichte liegen. Russland sieht sich als Erbe des Supermachtstatus der Sowjetunion.

Bei der Hegemoniefrage geht es nicht allein um die Position Russlands. Aus Sicht der USA gilt es auch zu verhindern, dass andere kapitalistische Länder sich von der Vormacht USA lösen und einen deutlich unabhängigeren Kurs anstreben, eventuell in mehr oder weniger enger Kooperation mit Russland. In Frage kämen dabei etwa Deutschland und/oder Frankreich und darüber hinaus die gesamte (von den beiden Ländern angeführte) EU. Am deutlichsten sichtbar wurde diese Möglichkeit vielleicht 2002/03 vor dem Irakkrieg, der von Deutschland und Frankreich in Übereinstimmung mit Russland nicht mitgetragen wurde. Weitere Punkte sind das Projekt Nord Stream (Vertragsunterzeichnung 2005, Planungen für Nord Stream 2 ab 2013) und das Veto gegen den sofortigen NATO-Beitritt der Ukraine 2008. Allerdings gab es in allen dafür infrage kommenden westlichen Ländern immer auch erhebliche Widerstände gegen eine stärker auf Russland ausgerichtete Politik. Eine echte Abkehr von den USA stand nie ernsthaft zur Debatte.

Trotzdem könnten solche Befürchtungen die aggressivere Vorgehensweise der USA bei allen Fragen zur NATO-Osterweiterung, zur Unterstützung von anti-russischen Bewegungen in der Ukraine (und Georgien), zur Bewaffnung dieser Länder usw. erklären. Genauso wie die enge Kooperation in solchen Fragen mit Polen und dem Baltikum.

Die Weigerung Russlands, sich in das Hegemoniesystem der USA einzuordnen, muss als der entscheidende Grund für das Wiederaufleben der Konfrontation angesehen werden. Alle anderen Faktoren sind entweder davon abgeleitet oder letztlich zweitrangig. Vermutlich würden sie nach einer Eingliederung in das Hegemoniesystem keine wesentliche Rolle mehr spielen. Das gilt auch für das ständig kritisierte Demokratiedefizit.

In der realen historischen Entwicklung brauchte die Definition des eigenen weltpolitischen Standpunkts und einer eigenständigen Außenpolitik Zeit. Nach den chaotischen Jelzin-Jahren war die allmähliche wirtschaftliche und innenpolitischen Stabilisierung Voraussetzung für die Formulierung der außenpolitischen Linie. Es ist davon auszugehen, dass dies eine längere Entwicklung war, die schrittweise und weitgehend in einem ad-hoc Prozess aus den aktuellen Gegebenheiten und Widersprüchen heraus erfolgte. Auf Aktionen folgten Reaktionen, ausgeführt von Russland und den anderen Mächten wie den USA. Keineswegs darf dieser Prozess auf einen Plan, der schon immer von Putin verfolgt wurde, reduziert werden. Faktum ist, die Differenzen mit dem „Westen“ wurden im Laufe der Jahre immer größer. Die Ansätze zur Zusammenarbeit verkümmerten. Der „Westen“ und insbesondere die USA trugen durch ihre Aktionen erheblich zu dieser Entwicklung bei.

 

Die Herausbildung einer neuen nationalen russischen Ideologie

Mehr oder weniger parallel zu den oben genannten Prozessen der wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung und der Entwicklung einer eigenständigen Rolle in der Außenpolitik kristallisierten sich Elemente eines neuen Selbstverständnisses bzw. einer neuen nationalen Ideologie heraus.

Eine solche Ideologie ist naturgemäß eine relativ vage Angelegenheit. Ihre Verbreitung und Verankerung ist nicht in allen gesellschaftlichen Gruppen gleich. Auch inhaltlich gibt es dort unterschiedliche Schwerpunkte oder verschiedene Interpretationen einzelner Elemente.

Stichwörter, die diese neue russische Ideologie umreißen können, sind etwa: Die Betonung der Eigenständigkeit und der Souveränität des Landes, die auch durch seine schiere Größe gerechtfertigt wird. Die Vorstellung von einer einzigartigen russischen Zivilisation und deren Abgrenzung von einer westeuropäischen, das bedeutet orthodox-christlich, gesellschaftlich konservativ, anti-feministisch, anti-gay, anti-dekadent, anti-liberal, eine starke und autoritäre Führung begrüßend oder zumindest hinnehmend.

Als ein Beispiel dafür kann die neue Aufmerksamkeit für den reaktionären Philosophen Iwan Iljin gelten.

Es ist offensichtlich, dass die staatlich gelenkten Medien bei der Verbreitung einer solchen Ideologie eine wesentliche Rolle spielen. Es wäre aber falsch, die Herausbildung einer nationalen Ideologie nur als Schöpfung der Medien bzw. der Führung abzutun. Vielmehr handelt es sich um die Entwicklung eines ideologischen Überbaus für die russische Gesellschaft, gemäß den gegebenen Bedingungen, materiell und gesellschaftlich. Die einschneidenden Veränderungen nach der Auflösung der Sowjetunion bedingen und erfordern die Herausbildung eines neuen Überbaus.

Die Medien bringen zwar vor allem die Positionen der gegenwärtigen Führung zum Ausdruck und sind entsprechend einseitig. Kritische Stimmen werden immer mehr unterdrückt. Deshalb ist es nicht einfach festzustellen, wie groß die Verankerung der neuen Ideologie wirklich ist. Es ist aber schon davon auszugehen, dass Nationalismus, die Betonung der Eigenständigkeit gegenüber den USA (den dekadenten Westen) und ähnliche Elemente prinzipiell erhebliche Zustimmung finden. Genauso wie entsprechende reale Taten Zustimmung finden, etwa die Annexion der Krim. Ob das für den Krieg gegen die Ukraine, zumal bei immer längerer Dauer und immer mehr Opfern, auch zutrifft, muss zur Zeit offen bleiben.

Es ist interessant, dass auch in anderen postsozialistischen Ländern, etwa Polen und Ungarn, teilweise ähnliche ideologische Versatzstücke (LGBT-freie Zonen und Ähnliches) propagiert werden.

Es passt zu dieser Ideologie, dass sich die russische Führung in die Tradition einer russischen Großmachtpolitik einreiht. Das beinhaltet auch einen positiven Bezug auf die Machtpolitik des zaristischen Russland. Der harte Bruch mit dieser Tradition nach der Oktoberrevolution wird dagegen heftig kritisiert (Ukraine als Schöpfung Lenins). Die Tatsache, dass sich die Sowjetunion im weiteren Verlauf der Geschichte in gewisser Weise wieder einer russischen Großmachtpolitik angenähert hat, wird zustimmend kommentiert. Die Auflösung der Sowjetunion wird als Katastrophe betrachtet, aber definitiv nicht wegen der Beendigung des sozialistischen Experiments. Als Katastrophe werden die machtpolitischen Folgen verstanden und vielleicht noch das Entstehen einer russischen Diaspora in den Nachfolgestaaten.

Aus jüngeren Äußerungen Putins, ausführlich dargelegt in seinem Essay (vom Juli 2021) zur Geschichte Russlands und der Ukraine, wird erkennbar, für Russlands Führung nehmen nationalistische und auch reaktionäre Vorstellungen (Betonung des orthodoxen Christentums) einen immer größer werdenden Raum ein.

 

Ein kurzer Blick auf die Ukraine

Die Entwicklung in der Ukraine nach 1990 mit allen Schwankungen und Kurswechseln inklusive den nicht geringen Einflüssen von Außen kann hier nicht nachgezeichnet werden (siehe dazu eine Veröffentlichung der „Arbeiterpolitik“ https://arbeiterpolitik.de/2022/04/zur-geschichte-der-ukraine/ ).

Die Ukraine ist ein oligarchisch geprägtes kapitalistisches Land. Die im Vergleich zu Russland viel geringeren Ressourcen erlauben der Ukraine keine eigenständige Großmachtpolitik. Das war auch der Grund für die Rückgabe der Atomwaffen im Rahmen des Budapester Memorandums (1994). Aus dem gleichen Grund war die außenpolitische Orientierung (Anlehnung an Russland, Ausrichtung nach „Westen“ bis hin zur NATO-Mitgliedschaft, Neutralität) für die Ukraine von Anfang an eine sehr wichtige und auch höchst umstrittene Frage.

Und dann gibt es noch einen zweiten wesentlichen Unterschied. Die Entwicklung verlief nicht gradlinig.Die Ukraine hat keine Person, auch keine Partei, hervorgebracht, die über lange Zeit die politischen Verhältnisse dominiert hätte. Es gab hier schon etliche Präsidentenwechsel, durch Wahlen, aber auch durch Konfrontationen der verschiedenen Lager (die sogenannte orangene Revolution (2004) und der Euro-Maidan (2014)).

Mit der putschartigen Absetzung des Präsidenten Janukowitsch hat sich eine Westorientierung durchgesetzt. Westorientierung bedeutet in diesen Fall auch eine deutlich anti-russische Politik. Getragen wird das von einem Bündnis aus verschiedenen politischen Kräften und Oligarchen. Das Bündnis schließt ausgeprägt nationalistische und eindeutig rechte Kreise mit ein. Das Bündnis und seine Politik kann auf Rückhalt im Ausland zählen, insbesondere bei den USA.

Unstrittig gibt es einen eindeutig rechten bist faschistoiden Flügel in der Ukraine. Der rechte Flügel hat Einfluss auf Gesellschaft und Regierung. Vermutlich ist der Einfluss der Rechten größer als die Wahlergebnisse das ausweisen. Das liegt einmal an deren Aktivismus und auch daran, dass manche Rechte gelernt haben, einen zu radikalen Auftritt zu vermeiden.

Der Sturz von Janukowitsch war nicht verfassungsgemäß, aber er war keine faschistische Machtergreifung. Deshalb ist die Behauptung, in der Ukraine würde ein Nazi-System herrschen, nicht haltbar. Das ist russische Propaganda. Genauso wenig wie die (stattfindende und abzulehnende) Diskriminierung der russischen Sprache sinnvoll als Genozid bezeichnet werden kann.

 

Die Krieg und seine unmittelbare Vorgeschichte

Trotz der zweifellos vorhandenen aggressiven westlichen Politik wäre es falsch, Russland einen rein reaktiven Part zuzuschreiben als jemand, der nur reagiert hat, der gleichsam zum Handeln gezwungenen war, ohne wirklich eine Wahl zu haben.

Die Konfrontation hat sich über einen längeren Zeitraum stufenweise entwickelt, nicht nur im Bezug auf die Ukraine. (nur als Stichpunkte: Georgien 2008, Syrien, Libyen (Gruppe Wagner), Krim und die sogenannten Volksrepubliken 2014, mediale Aktivitäten in vielen westlichen Ländern, Unterstützung von Rechtspopulisten). Eine vorwiegend reaktive Rolle Russlands war vielleicht für die früheren Jahre zutreffend. Etwa ab 2008 agierte Russland mehr und mehr auch aktiv und zunehmend selbstbewusst. Es konnte dabei aus Sicht seiner Führung auch erhebliche Erfolge (Syrien, Krim) erzielen, die in gewisser Weise geschickt und ohne allzu große politische Kosten erreicht wurden.

In den Monaten vor Kriegsbeginn hat Russland durch seinen Militäraufmarsch eindeutig die Dynamik des Geschehens bestimmt. Es hat sich auf die „Spezialoperation“ vorbereitet. Der Truppenaufmarsch hat offensichtlich von Anfang an den Angriff auf die Ukraine zumindest als sehr wahrscheinliche Möglichkeit beinhaltet. Die (ultimativen) Verhandlungsangebote über neue Sicherheitsverträge hatten erkennbar hauptsächlich den Zweck der Entlastungspropaganda. Putin selbst hat in seinem Essay und in Reden die Ziele benannt, die ihm wichtig sind: neben der Verhinderung einer weiteren NATO-Ausdehnung auch ein entscheidender Schritt hin zur Zusammenführung aller slawisch-orthodoxen Teile des alten zaristischen Russland.

Hier sei einmal etwas Spekulation gestattet. Anscheinend wurde die Situation (auch weltpolitisch) als günstig eingeschätzt, um schnell einen Erfolg zu erreichen. Dabei war es offensichtlich, dass das Ziel nur mit Gewalt und Krieg bei Missachtung international anerkannter Grenzen erreicht werden kann. Das wurde ganz bewusst in Kauf genommen. Eine unmittelbare und gravierende Bedrohung Russlands, die einen Präventivschlag hätte begründen können, gab es im Februar 2022 nicht.

Richtig ist auch, dass die westlichen Mächte und besonders die USA bei der Durchsetzung ihrer Interessen nicht nur einmal zur Gewalt gegriffen und gegen das Völkerrecht verstoßen haben. Durch eine solche Klarstellung werden zwar die doppelten Standards und die Heuchelei vieler westlicher Kommentare kenntlich gemacht, aber das Handeln Russlands wird dadurch nicht besser. Der Angriff Russlands ist ähnlich einzustufen wie der Einfall der USA in den Irak 2003. Auch Russland erfindet Rechtfertigungen für seine Propaganda. Deren Inhalte lassen sich vor allem aus dem Versuch erklären, an für das russische historische Selbstverständnis wichtige Erinnerungen (Kampf gegen Nazi-Deutschland) anzuknüpfen, aber weniger aus der tatsächlichen Lage in der Ukraine.

Um es zusammenzufassen, der Angriff ist in keiner Weise zu rechtfertigen. Es handelt sich um machtpolitisch motivierte Abenteurerpolitik auf Kosten der eigenen Bevölkerung und vor allem auf Kosten der Ukraine.

Eine ganz andere Frage ist, ob Russland durch den Krieg seine Position verbessern kann. Das ist mehr als fraglich. Die viel wahrscheinlichere Folge ist eine Schwächung Russlands und eine Festigung der Position der USA. Diese Aussage kann man inzwischen wagen, obwohl der Krieg noch andauert und deshalb ein abschließendes Urteil nicht möglich ist.

Ist Russland in der Ukraine in eine Falle getappt? Ja, vielleicht. Aber in diese Falle konnte es nur tappen, weil es sich dafür entschieden hat, einen Krieg zu beginnen.

 

Russlands Stellung in der Welt

In den Medien hierzulande wird meistens behauptet, Russland sei jetzt international isoliert. Als Beleg dafür wird auf die Abstimmung in der UNO-Vollversammlung verwiesen. In der fraglichen Resolution wird die Russische Föderation als Aggressor verurteilt, zur sofortigen Einstellung der Kämpfe und zum bedingungslosen Rückzug aufgefordert. Ferner wird die Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit der Ukraine bekräftigt. 141 Länder stimmten für diese Resolution, 5 lehnten sie ab, es gab 35 Enthaltungen, 12 Länder nahmen nicht an der Abstimmung teil (darunter Armenien, Usbekistan und Turkmenistan).

Das Ergebnis wird aber insbesondere durch die Enthaltung der beiden Schwergewichte China und Indien relativiert. Außerdem schließen sich keineswegs alle, die mit „Ja“ abgestimmt haben, dem Sanktionsregime an. Richtiger müsste man sagen, Russland ist im „Westen“, den USA und seinen engen Verbündeten, isoliert. Das ist natürlich wirtschaftlich und politisch ein bedeutender Block, aber nicht die Welt. Schon die Türkei als NATO-Staat, dann Israel, Saudi-Arabien und andere Ölproduzenten, praktisch ganz Süd-Amerika usw. sind da sehr zurückhaltend. Die Zustimmung ist nicht so gewaltig, wie es auf den ersten Blick aussieht. Und das hat seine Gründe. Es gibt für etliche Staaten Anlass, gegenüber den USA und ihrem Anhang skeptisch zu sein und die Nähe zu Russland zu suchen. Für Indien z.B. ist Russland traditionell als Lieferant von Rüstungsgütern relevant. Ein weiterer wichtiger Grund ist die Unterstützung im UNO-Sicherheitsrat, die die SU und später Russland bisher geleistet haben. Das ist besonders wichtig bezüglich Kaschmir. Ohne russische Unterstützung hätte es vielleicht schon UNO-Beschlüsse für die Durchführung einer Volksabstimmung zur Unabhängigkeit Kaschmirs oder ähnliches gegeben, was keineswegs im Sinne Indiens gewesen wäre.

Aus dem Gegensatz Russlands zum Block der USA kann sich für andere Länder, die ebenfalls im Gegensatz zu den USA stehen, eine Erweiterung des politischen Spielraums ergeben. Ein Bündnis mit bzw. eine Anlehnung an Russland ermöglicht diesen eine gewisse Absicherung ihrer Position. Allerdings funktioniert das hauptsächlich nach der Logik „der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Russland steht dabei nicht automatisch für eine, wie auch immer definierte, progressive Richtung und schon gar nicht für Sozialismus und die Interessen der Arbeiterklassen.

Diese Feststellung ist wichtig, um jegliche Illusion in Bezug auf den Charakter der russischen Politik zu vermeiden. Welche Länder von einem erweiterten Spielraum profitieren und welche Folgen und Ergebnisse sich daraus ergeben, ist grundsätzlich offen. Es ist richtig, in der Vergangenheit wurde z.B. auch Kuba von Russland unterstützt (und es ließen sich noch weitere Beispiele nennen). Aber Russland wird letztlich seine Kräfte dort einsetzen, wo es glaubt, dass es für seine eigenen Interessen sinnvoll ist. Das kann dann auch in Richtung rechts gehen. Das ist z.B. daraus ersichtlich, dass keine Scheu davor besteht, mit Rechtspopulisten und anderen eindeutig Rechten (etwa Le Pen, Salvini) zu kungeln.

 

Die Sicht von Kommunisten

Das Hauptproblem für Kommunisten und Linke in der gegenwärtigen Lage liegt in der eigenen Schwäche. Durch das Fehlen einer starken und links politisierten Arbeiterbewegung bestehen praktisch keine realen Einflussmöglichkeiten. Der Versuch, ohne eigene Stärke im Rücken auf bürgerliche Kräfte im Sinne einer weniger aggressiven, auf Frieden orientierten Politik Einfluss nehmen zu wollen, erweist sich als vertrackt und trügerisch.

Das bezieht sich nicht nur auf die Unzuverlässigkeit angeblich „friedliebender“ Kräfte wie etwa die Grünen.

Auch andere potenzielle Ansatzpunkte können sich bei genauerer Betrachtung als trügerisch erweisen, weil sie letztlich nur von Vertretern einer anderen imperialistischen Variante verfolgt werden. Die einen gewichten vielleicht, gemäß ihren Interessen, den Zugriff auf billige Rohstoffe anders und sind deshalb an einer Zusammenarbeit mit Russland interessiert. Andere wollen ein großes Bündnis gegen China schmieden (siehe die Äußerungen von Admiral Schönbach in Indien). Auch eine stärkere Eigenständigkeit der EU von den USA ist für Kommunisten nicht per se unterstützenswert. Denn Eigenständigkeit hebt den imperialistischen Charakter der europäischen Mächte nicht auf. Die Unterstützung einer solchen Politik bedarf einer genauen Begründung, insbesondere in Hinblick darauf, was genau unterstützt wird und welche Grenzen es dabei gibt. Ein automatisches oder besser blindes „alles, was den USA schadet, ist gut“ ist keine ausreichende Orientierung.

Selbstverständlich ist es legitim und richtig, die Widersprüche der Gegenseite, des Klassengegners (auch Russland muss dazu gerechnet werden), für die Verfolgung der eigenen Interessen auszunützen. Wie gesagt, für Länder des globalen Südens kann das Vorhandensein eines Rivalen Russland den Spielraum erweitern, unter Umständen in bedeutender Weise. Für die Weltpolitik dürfte längerfristig die Auseinandersetzung zwischen den USA (plus Anhang) und China von entscheidender Bedeutung sein. Für diese Auseinandersetzung ist es zweifellos wichtig, welche Rolle Russland dabei einnehmen wird. Alles im allem kann das Spiel „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ auch aus kommunistischer Sicht positive Effekte bringen. Insbesondere dann, wenn illusionslos und eingedenk der bestehenden Widersprüche an die Sache herangegangen wird.

Für Kommunisten bedeutet das: Wir müssen Russland realistisch, auch in all seiner Widersprüchlichkeit, darstellen. Als kapitalistisch, zumindest teilweise reaktionär, machtpolitisch agierend und dabei auch völkerrechtliche und humanitäre Grundsätze missachtend, aber auch als Widerpart gegen die USA, der nach wie vor führenden imperialistische Macht. Wir müssen uns dabei selbstverständlich von der westlichen Argumention, sprich Propaganda, genauso fernhalten wie von der russischen. Unsere Einschätzungen und Positionen müssen jeweils völlig eigenständig begründet werden.