Die Revolte von Castillos Basis

Am Vormittag des 7. Dezember hatte Pedro Castillo in der Art eines Putschisten die Auflösung des Kongresses verkündet. Er verfügte über keinerlei Macht, den Worten auch Taten folgen zu lassen. Daher war seine Entscheidung nur die Simulation eines Staatsstreichs.
Diese Ansprache erzeugte das politische Klima für seine Absetzung. Der Sturz und die Festnahme Castillos fanden unter Bruch der peruanischen Gesetze statt. Deshalb folgte auf die Farçe ein realer Staatsstreich.
Castillo hatte mit seiner Aktion die Mehrheit der Peruaner gegen sich aufgebracht. Deshalb stimmten auch fast alle Abgeordneten der Linken für seine Absetzung. Sie waren sich wahrscheinlich nicht im Klaren, woran sie sich da gerade beteiligten. Die Vizepräsidentin Dina Boluarte - sie rückte nun an die Spitze des Staates - galt in diesem Moment noch als Linke.
Sie hätte mit der Einlösung ihres Versprechens aus der Wahlkampfzeit den Gesetzesbruch heilen können. Castillos Basis erwartete deshalb ihren Rücktritt. Die Folge wären allgemeine Wahlen gewesen. Doch das passierte nicht. Boluarte hatte sich auf einen Kuhhandel mit der Rechten eingelassen. Sie sicherte zu, im Falle der Absetzung Castillos nicht zurückzutreten. Dafür ließ die Rechte das gegen sie laufende Amtsenthebungsverfahren ins Leere laufen.1
In den ersten Tagen ihrer Regierung stützte sie sich nur auf die Streitkräfte und die Botschafterin der USA. Selbst die Mehrheit der rechten Abgeordneten brauchte eine Weile, um zu begreifen, was da gerade geschehen war. Dass diese Frau, die sie bisher genauso bekämpften wie Castillo, nun ihre Präsidentin ist.
Boluartes Rede zur Amtseinführung brachte der Journalist Juan Manuel Robles auf den Punkt: “Dina Boluarte trat ihr Amt als Präsidentin an, und das Erste, was sie tat, war, um einen Waffenstillstand zu bitten. Die scheinbare Harmonie kann nur als ein niederträchtiger Pakt zwischen dem Kongress und der neuen Präsidentin gelesen werden.”2
Die erste Phase der Proteste
Auch Castillos Basis brauchte einige Zeit, um die Gegenwehr zu organisieren. Eine Schilderung davon findet sich in der linksliberalen Wochenzeitung Hildebrandt en sus trece (H13). Unter der Überschrift “Enttäuschung in der Bevölkerung” wird nur über kleine Protestkundgebungen wie auch die Spaltung der Basisorganisationen berichtet. So teilt ein Journalist aus Castillos Heimat mit: "Heute, Donnerstag, [am Tag nach der Absetzung, EB] gab es hier auf dem zentralen Platz in Cajamarca einen Protest, aber er war nicht sehr energisch. Es waren maximal einige hundert Personen. Mich überrascht, dass alle Castillos Abgang akzeptieren, aber sie wollen, dass Dina Boluarte geht. Man bemerkt einen Hass auf den Kongress und sie wollen allgemeine Wahlen.“3
Doch man ahnt, dass es so nicht bleiben muss: “Bei Redaktionsschluss kommt es zu Protesten auf dem Platz San Martín in Lima und einer Blockade der südlichen Panamericana bei Ica. Auf beiden Versammlungen werden vorgezogene Wahlen und der Rücktritt der Regierung Dina Boluarte gefordert.”
Was folgt, sind, Stand August 2023, drei Phasen von Massenaktionen. Die erste startete mit dem Sturz Castillos und dauerte knapp zwei Wochen. Die Menschen machten dann Pause, da sie sich das Weihnachtsgeschäft nicht entgehen lassen konnten. In Peru arbeiten mehr als 70% der Beschäftigten im informellen Sektor. Sie müssen arbeiten, wenn es etwas zu verdienen gibt.
Dazu kommt noch etwas anderes. Die Proteste werden von den Bewohnern der Regionen im Süden getragen. Vielen fehlt das Geld für Reisen in die Hauptstadt. Daher lassen sie sich in Lima von Delegationen vertreten. Für die Finanzierung dieser Reisegruppen legen sie zusammen.
Auf Youtube kann man diesen Gruppen stundenlang beim Demonstrieren zuschauen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es sich dabei um so etwas wie Arbeitsnachweise gegenüber den Daheimgebliebenen handelt.

Diese Videos zeigen zumeist friedliche Proteste. Sie schlugen aber teilweise in Gewalt um. Dafür muss man die Vorgänge aus der Sicht der indigenen Bevölkerung betrachten. Sie wurden in der Vergangenheit von Präsidenten regiert, die von Europäern, Asiaten oder Mestizen abstammten. Jetzt war erstmals einer der ihren in dieser Funktion. Alle Sektoren der Gesellschaft hätten ihm nun mit dem Respekt begegnen müssen, der früher von ihnen erwartet wurde. Das ist nicht geschehen. Castillo wurde sofort mit allen Mitteln bekämpft und am Ende stürzte man ihn unter Bruch der Verfassung. Damit wurden ihre Rechte als Bürger der Republik mit Füßen getreten. Kein Wunder, wenn das Wut und Verzweiflung erzeugt. Diese ließen die Demonstrierenden dann an den Institutionen des Staates aus. Den Leitern der Basisorganisationen ist klar, dass das nichts bringt. Deshalb versuchten sie die Leute zu beruhigen.

Die ersten Toten gab es am 11. Dezember in Andahuaylas. Eine Menschenmenge versuchte den Flughafen zu besetzen. Dabei starb ein 15-Jähriger durch ein Projektil.3a Nachdem sich diese Nachricht verbreitet hatte, richtete sich die Wut gegen die Polizeistation. Sie wurde mit Steinen und Stöcken angegriffen und zu guter Letzt angezündet.4 Dabei erschoss die Polizei einen 18-Jährigen.5

Dass ein Staat mit der Besetzung von Flughäfen auch anders umgehen kann, zeigt ein Vorfall aus Santa Cruz im Nachbarland Bolivien. Dort stürmten rechte Demonstranten die Landebahn, ohne dass es zu Todesopfern kam.6

Demonstranten gleich Terroristen

Warum dieses unterschiedliche Verhalten der Behörden? In Peru wurden die Protestierenden von Anfang an zu Staatsfeinden erklärt. So suggerierte Óscar Arriola, General der Peruanischen Nationalpolizei (PNP) und Chef der Abteilung für Terrorismusbekämpfung (DIRCOTE), dass MOVADEF, eine legale Organisation von Anhängern Senderos, hinter den Protesten stehe. Er behauptete, dass die Forderungen nach “Schließung des Kongresses und Verfassungsgebender Versammlung, der Abschaffung des Neoliberalismus und von Neuwahlen”7 die von Sendero ausgegebenen Losungen für die Proteste seien.
Außerdem unterstellte er den Demonstranten, dass sie gegen den Rechtsstaat auf die Straße gehen. Andere erklärten die Forderung nach dem Rücktritt Boluartes zu einer Art Staatsstreich. Auch wurde behauptet, dass die Menschen von Bolivien aus aufgehetzt werden. Dabei fiel der Name Evo Morales8, weshalb man ihn zur Persona non grata erklärte.
Wie geht man mit aus dem Ausland gesteuerten Staatsfeinden um? Ganz klar, mit aller Macht, die einem zur Verfügung steht. Daher erinnerte die Reaktion der Regierung mehr an eine Militärdiktatur als an das Agieren eines demokratischen Rechtsstaats. Dass Polizei und Militär auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel geachtet haben, kann man nicht behaupten.
Straßenblockaden gehören in Peru schon seit langem zu den Aktionsformen bei sozialen Auseinandersetzungen. Der Versuch, Flughäfen zu blockieren, ist da nur eine Anpassung an veränderte Reisegewohnheiten.
Die gewalttätigen Auseinandersetzungen führten auch in kritischen Medien wie H13 zu einer schlechten Presse. "In Arequipa stürmten unterdessen rund 2.000 Demonstranten die Landebahn des internationalen Flughafens. Der Mob zerstörte die Lichter, brannte Sicherheitskabinen nieder und erzwang die Schließung dieses Flughafens.
Landesweit blockierten Demonstranten mehr als 20 Landstraßen in Arequipa, Abancay, La Libertad, Ica, Cusco, Amazonas und Ucayali.
Die Eskalation der Gewalt zwang die Regierung von Dina Boluarte den Ausnahmezustand in den Landkreisen Abancay, Andahuaylas, Chincheros, Grau, Cotabambas, Antabamba und Aymaraes in Apurímac, sowie in einigen Städten in den Regionen Arequipa und Ica zu verhängen, wo die Regierung meint, dass eine Konzentration von „Konfliktsituationen“ vorliegt."9
Auch die Zusammenfassung der ersten zwei Protestwochen fokussierte sich auf die Gewalt. Die zahllosen friedlichen Demonstrationen und lokalen Streiks fielen dabei unter den Tisch. Trotzdem gibt sie einen Eindruck von der Lage in Teilen des Landes wieder.
28 Tote, darunter fünf Minderjährige; 356 Zivilisten und 290 Polizisten verletzt; 15 Polizeistationen zerstört; sechs Büros der Staatsanwaltschaft mit Tausenden von Akten verbrannt; vier Gebäude der Justiz und drei Niederlassungen des Staatsarchivs angegriffen; die wichtigste Molkerei Perus außer Betrieb; vier Flughäfen, die geschlossen wurden und nun militärisch gesichert werden; ein kollabierter Tourismus und ein Land in Not. Dies ist Teil der tragischen Bilanz der letzten Tage der Unruhen und der sozialen Gewalt in Peru.”10
Der zweite Anlauf
Am 4. Januar startete der zweite Versuch, Boluarte zum Rücktritt zu bewegen. Er dauerte bis Ende Februar, da waren die Menschen wieder erschöpft. Dazu gesellten sich wetterbedingte Naturkatastrophen.
Die Aktionsformen glichen denen von Dezember. Es gab Demonstrationen, Straßenblockaden, man versuchte Flughäfen zu besetzen und es fanden lokale Generalstreiks statt. Für den 14. Januar wurde zur “Segunda Marcha de los Cuatro Suyos” (In etwa: Zweiter Marsch der vier Himmelsrichtungen) aufgerufen, in Anlehnung an den historischen “Marcha de los Cuatro Suyos”, die wichtigste Demonstration gegen Alberto Fujimori.
Die Organisatoren, lokale Frentes de Defensa (Verteidigungsfronten), wollten 50.000 Menschen in die Hauptstadt mobilisieren. Neben einer Reihe sozialer Organisationen und linker Parteien unterstützte auch der Gewerkschaftsdachverband CGTP diese Aktion.
Alberto Otárola, gegenwärtig Präsident des Ministerrates und während der Regierung von Ollanta Humala Verteidigungsminister, kündigte an: “Wir werden ihnen nicht erlauben, dass sie nach Lima kommen.”11 Entsprechend wurden die Anreisenden überall im Land aufgehalten, gefilzt und schikaniert. Bei all diesen Kontrollen, und auch bei den Festnahmen während der Demonstrationen, wurde aber keine einzige Waffe beschlagnahmt.
Trotzdem hat man ihnen den Willen zu Mord und Totschlag unterstellt. Dafür wurde auch bewusst gelogen. Ein Beispiel ist der Tod des Polizisten José Soncco am 9. Januar in Juliaca.12
Öffentlich erklärte Otárola, dass ein Mob von ungefähr 300 Personen einen Streifenwagen angegriffen und einen der Polizisten bei lebendigem Leib angezündet hat.13 Entsprechend lauteten die Aufmacher: “Polizist bei lebendigem Leib verbrannt.” Doch Soncco war da schon längst tot. Das wussten auch die Behörden. Dieses Ereignis hatte wohl nichts mit den Protesten zu tun. Drei Monate später nahm die Polizei zwei Tatverdächtige fest. Einer von ihnen war ein ehemaliger Polizist.14
Damit wurde “die” Nachricht des Tages in den Hintergrund gedrängt. Beim Versuch, den Flughafen zu besetzen, waren in Juliaca 18 Menschen15 von der PNP erschossen worden. Darüber berichteten die Konzernmedien dann nur noch am Rande.
Die Last der Vergangenheit
Ein Problem für die Bewegung ist die Teilnahme von ehemaligen Aktivisten des Sendero Luminoso. Viele von ihnen haben inzwischen ihre Strafen verbüßt. Doch wie stehen sie zu ihrer Vergangenheit?
Ein Beispiel ist “Camarada Cusi”, mit bürgerlichem Namen Rocío Leandro Melgar. Sie war bis 2003 wegen Terrorismus inhaftiert. Ihr wird auch die Beteiligung an Planungen für die Ermordung des Kommunisten Pedro Huilca vorgeworfen. Der Gewerkschaftsführer wurde aber am Ende ein Opfer von staatlicher Gewalt.16
Nach Beginn der Proteste wurde Melgar von der DIRCOTE wegen Wiederbetätigung festgenommen. Sie war zu diesem Zeitpunkt Präsidentin der Frente de Defensa del Pueblo de Ayacucho (Front zur Verteidigung des Volkes von Ayacucho, FREDEPA). Das hat es in sich. Der verstorbene Sendero-Chef Abimael Guzmán behauptete, dass diese Front von seiner Organisation gegründet wurde. Heute ist, glaubt man der Berichterstattung von H13, FREDEPA eine abgeschottete Organisation, die aber über einigen Einfluss verfügt. Deshalb wird sie zu Aktivitäten der Regionalregierung eingeladen.17 Auch wirft man ihr eine mangelnde Abgrenzung von MOVADEF vor.
Diese Beschreibung wird von einer Nachricht aus Ayacucho gestützt. Die Leitungen verschiedener Gremien der örtlichen Bauwirtschaft, darunter auch Gewerkschaften, lehnten einen von FREDEPA ausgerufenen lokalen Generalstreik ab.18 Sie begründeten das mit ihrer Einkommenssituation, beschwerten sich aber auch, dass der Streik über ihre Köpfe hinweg beschlossen worden war.
Eine Journalistin von H13 hat Melgar im Gefängnis besucht. Im Interview lehnt sie Gewalt zur Erreichung von politischen Zielen ab. “Mit Gewalt verschlimmern wir nur alles, das hat sich gezeigt.” Und: “Heute suche ich nur noch soziale Gerechtigkeit. Das ist doch kein Verbrechen, oder?”19 Auch der Fall Huilca kommt zur Sprache. Sie argumentiert so, als ob es Gründe für seine Ermordung gegeben hätte. Kein Wunder, wenn das die Öffentlichkeit beunruhigt.
Für die Massenmedien sind solche Verbindungen ein gefundenes Fressen. Doch daran zeigt sich ein Problem, mit dem die peruanische Linke zu kämpfen hat. Ein Journalist fasste das vor einiger Zeit so zusammen: In einer größeren Gruppe von Linken findet sich immer einer, gegen den in der Vergangenheit wegen Terrorismus ermittelt wurde. Damit kann man dann alle diskreditieren.