Am Tag vor dem Ende des chilenischen Verfassungsprojektes ist »Toni« Negri gestorben. Das ist reiner Zufall, trotzdem erscheint der Zeitpunkt wie ein Symbol. Schließlich wurde dieses Projekt von einer Bewegung angestoßen, die der Ideenwelt dieses Theoretikers entstiegen sein könnte. An ihrer Geschichte kann man sehen, was seine Vorstellungen in der Praxis taugen.
Dafür muss man in den Oktober 2019 zurückgehen. Damals war eine geringfügige Fahrpreiserhöhung in Santiago der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Im ganzen Land gingen Hunderttausende auf die Straße. Sie protestierten gegen die Belastungen, die der Neoliberalismus für sie bedeutet.1 Linke Parteien und Organisationen spielten nur eine Nebenrolle. Ganz nach den Vorstellungen Negris, der, wie man in einem Nachruf lesen konnte, “anstelle kommunistischer Kader den kreativen Widerstand individualistischer »Aktivisten«” pries.2
Um die Lage zu beruhigen, verständigte sich der rechte Präsident mit der progressiven Opposition auf einen Fahrplan zur Erarbeitung eines neuen Grundgesetzes. Das war eine der Forderungen der Straße. Die aktuelle Konstitution stammt im Wesentlichen noch aus den Zeiten der Diktatur. Dort sind die neoliberalen Grundsätze verankert.
In das Gesetz für den Verfassungsprozess waren zwei Punkte integriert, die sich für alle Anhänger eines auf Solidarität basierenden Sozialstaats als Fußangeln erweisen sollten. Anscheinend hatte niemand aus dem progressiven Lager die sich daraus ergebenden Konsequenzen gesehen. Der erste Punkt spricht allen Anhängern der direkten Demokratie aus der Seele. Bei der Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung (VV) konnten in den Wahlkreisen auch lokale Initiativen Listen einreichen.
Doch zuerst musste geklärt werden, ob die Forderung nach einer neuen Verfassung überhaupt mehrheitsfähig ist. In der Volksabstimmung sprachen sich dann fast 80% dafür aus.3 Das sieht nach einer deutlichen Entscheidung aus. Doch verdeckt diese Zahl, dass sich, wegen der niedrigen Wahlbeteiligung, nur knapp 40% der Stimmberechtigten dafür ausgesprochen haben. Niemand, zumindest auf Seiten der Linken, hat dieses Ergebnis kritisch analysiert und Schlüsse daraus gezogen. Am Ende ist die Geschichte aber so ausgegangen, wie es die bescheidene Zustimmung nahelegt: Alles bleibt beim Alten.
Die Basis der politischen Niederlage der Verfassungsbewegung bildete, in einer genialen Kombination mit der Zulassung lokaler Listen, die Wiedereinführung der Wahlpflicht. Sie wurde für das abschließende Plebiszit zur Inkraftsetzung des neuen Grundgesetzes festgelegt. Diese chilenische Tradition wurde vor einigen Jahren abgeschafft, nachdem man Verstöße schon lange nicht mehr ahndete. Inzwischen gilt sie wieder für alle Urnengänge, und Verstöße werden auch tatsächlich bestraft. Damit zwingt man die potenziellen Nichtwähler in die Wahllokale, wo diese dann eine Entscheidung treffen müssen.
Als nächstes stand die Wahl der VV an. Wegen der Corona-Pandemie hatte sich der gesamte Prozess verzögert, so dass sie erst im Mai 2021 stattfand. In der Zwischenzeit hatte die Coronapolitik des Präsidenten viele Rechte verärgert. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Wahlpflicht, weshalb ungefähr die Hälfte von ihnen zu Hause geblieben ist.4 Das führte zu einer vernichtenden Niederlage für diesen Sektor. Die Rechte verlor die Macht zum Veto, die sie seit dem Ende der Diktatur immer besessen hatte.
Die großen Gewinner waren die lokalen Listen von Umweltschützern, Feministinnen und vielen anderen. Aus der Ferne konnte man diese Kandidaturen nur schwer einer inhaltlichen Richtung zuordnen. Bei einem Teil von ihnen fand sich im Namen die Bezeichnung Lista del Pueblo (Liste des Volkes). Damit signalisierten sie eine Gewisse inhaltliche Übereinstimmung. Sie hatten ungefähr 16% der Wähler hinter sich, doch die Wahlbeteiligung lag bei nur 43,4%.5 Trotz dieser guten Verankerung war die Lista del Pueblo weder willens noch in der Lage, zu einer landesweit handlungsfähigen Kraft zu werden. Das zeigt ihr Versuch, in die Präsidentschaftswahlen von 2021 einzugreifen.6
In der VV wurden 65 Sitze von den Vertretern lokaler Listen gehalten, während 90 Sitze bei den traditionellen Parteien lagen. Davon entfielen nur 37 auf die Rechtsparteien. Am Ende mussten sich 2/3 der Delegierten auf einen Text einigen. Ergebnis war ein von den neuen politischen Akteuren und den traditionellen Parteien der linken Mitte und der Linken getragener Entwurf.
Von seinem sozialen Inhalt her war der Vorschlag mit dem deutschen Grundgesetz vergleichbar. Doch fanden sich auch viele progressive Anliegen, die für andere gesellschaftliche Gruppen eine Provokation darstellen.7 Der Publizist Jorge Baradit, auf dem Ticket der Sozialisten in die VV gewählt, gab nach der Niederlage zu Protokoll: “Wir haben alle bisher zum Schweigen gebrachten und abweichenden Stimmen aufgenommen, aber wir haben nicht vorhergesehen, wie sie in den Köpfen der Chilenen koexistieren werden.”
Anhand einer scheinbar harmlosen Vorschrift kann man das gut aufzeigen. Im Entwurf war die paritätische Besetzung aller öffentlichen Funktionen mit Frauen und Männern vorgeschrieben. Was bedeutet das für männliche Staatsangestellte, die in Abteilungen arbeiten, in denen Männer die Mehrheit stellen? Werden sie “Ja” zu einer Verfassung sagen, die in absehbarer Zeit zu ihrer Entlassung führt?
Aufgrund solcher Regelungen hatten die Parteien, die die Mitte-Links-Regierung Boric tragen, im Vorfeld erklärt, dass sie bei einer Annahme des Entwurfes die neue Verfassung in den parlamentarischen Gremien überarbeiten werden.
Im Wahlkampf stellte die Rechte die Übertreibungen in den Mittelpunkt. Daneben hat sie in den “sozialen Medien” auch einfach gelogen. Ebenso nützte es ihr, dass sich einige Vertreter der lokalen Listen so benommen haben, als ob es sich um Karneval handele. Doch den Todesstoß erhielt die Arbeit der VV durch das Agieren des individualistischen Aktivisten Rodrigo Rojas Vade. Er war einer der Vizepräsidenten des Gremiums und hatte sich als Krebspatient auf der Lista del Pueblo wählen lassen. Am Ende wiesen ihm Journalisten nach, dass er nicht an Krebs leidet. Er räumte das ein, aber seine tatsächliche Krankheit wollte er nicht nennen. Er hatte alle, einschließlich seines Partners, belogen.8 Damit verlor die VV weiter an Ansehen in der Bevölkerung. Laut Meinungsumfragen war im weiteren Verlauf das Misstrauen ihr gegenüber immer größer als das Vertrauen gewesen.
Am Ende stimmten dem Entwurf nur 38,1%9 bzw. 4.859.103 Wähler zu. Das war ungefähr eine Million weniger, als zwei Jahre früher für eine neue Verfassung votiert hatten.
Man kann feststellen, dass durch ein kreatives Jonglieren mit den gesetzlichen Vorschriften und einer entsprechenden Propaganda die Bourgeoisie ihre Dominanz über die gesellschaftliche Entwicklung aufrechterhalten konnte. Ihrer Rolle als herrschender Klasse ist sie damit gerecht geworden. Der kreative Widerstand individualistischer Aktivisten hat sie nicht entscheidend unter Druck gesetzt. Schlimmer noch, durch das Agieren der Vertreter der lokalen Listen verschafften sie der Rechten auch noch die Argumente.
Der zweite Anlauf
Doch damit war das Ganze noch nicht vorbei. Die Rechte hatte versprochen, sich im Falle einer Ablehnung für einen besseren Vorschlag einzusetzen. In den parlamentarischen Gremien einigte man sich daher auf einen weiteren Versuch. Er war so gestaltet, dass dem neu zu wählenden Gremium mit der Beiordnung eines Expertengremiums von Beginn an sehr enge Grenzen gesetzt wurden.
Bei der folgenden Wahl für den Verfassungsrat (VR) stimmten die Anhänger der lokalen Listen ungültig. Ungefähr jeder 10. Wahlberechtigte war auf diese Weise beleidigt, weil der erste Vorschlag keine Mehrheit gefunden hatte.10 Das wurde natürlich nicht so ausgesprochen. Wegen dieser massiven Abstinenz dominierten die Rechtsradikalen - sie wurden stärkste Partei - zusammen mit der traditionellen Rechten das Gremium.
Der unter dem Vorsitz einer jungen Rechtsanwältin ausgearbeitete Text blieb auch nach Korrekturen durch das Expertengremium ein identitätspolitisches Dokument von Rechtsaußen. Damit war im VR in etwa das passiert, was in der VV geschah, nur spiegelverkehrt. Dem politische Inhalt nach handelte es sich jetzt um eine Modernisierung bzw. Verschärfung der bestehenden neoliberalen Ordnung. In gesellschaftspolitischer Hinsicht war der Vorschlag noch konservativer, z.B. beim Thema Abtreibung.
Das Agieren der Rechten wurde sogar von einem Teil ihrer eigenen Leute kritisiert. So etwa von Evelyn Matthei, Tochter eines Generals der Militärjunta, Bürgermeisterin eines Stadtteils von Santiago und mögliche Präsidentschaftskandidatin: “Im Rat gibt es keinen Geist, der versucht, sich um eine Verfassung zu bemühen, die für alle Sektoren akzeptabel ist. … Wenn es so weitergeht, werde ich mein politisches Kapital nicht in die Verabschiedung dieser neuen Verfassung investieren”11
Entsprechend ermittelte eine Meinungsumfrage im November nur eine Zustimmung von 8%.12 Doch die Bourgeoisie brachte ihre Akteure Schritt für Schritt auf Linie. Schließlich verlieh das Online-Medium El Desconcierto Matthei die Goldmedaille im Purzelbaumschlagen. “Matthei kündigt ihre Zustimmung zum Verfassungsvorschlag an, den sie so kritisierte.”13 Am Ende schwenkten, abgesehen von Einzelpersonen, alle Rechtsparteien auf diese Linie ein. Das reichte bis zu den ehemaligen Christdemokraten.
Damit ergab sich die absurde Situation, dass alle linken Strömungen das Erbe des Diktators gegen seine Anhänger verteidigten. Das hat vielen nicht gefallen. Es war aber notwendig, um nicht in eine noch schlechtere Lage zu geraten.
Welche Bedeutung dieser Entwurf für die Bourgeoisie hat, kann man an ihrem Spendenverhalten ablesen. Die Stiftung SOL ermittelte auf der Basis von Zahlen der Wahlbehörde, dass 99,8% der Wahlkampfspenden an das Lager der Unterstützer ging.14 Darunter finden sich acht bekannte Unternehmer als Großspender.
Erfreulich, dass sich diese Mittel als Fehlinvestition erwiesen. Der Entwurf wurde von 55,8% der gültigen Stimmen abgelehnt. Die Wahlbeteiligung lag bei 84,5% und die Zahl der ungültigen Stimmzettel bei 5%. Bezogen auf alle Wahlberechtigten waren 44,7% dagegen. Damit lag dieser Block aber noch immer fast 10 Prozentpunkte vor den Ja-Stimmen, die nur 35,5% erreichten.
Die Folgen dieses vier Jahre andauernden Prozesses finden sich in einer Veröffentlichung des Meinungsforschungsinstituts CADEM. Danach stimmen jetzt 50%15 der Aussage zu, dass “sich nach zwei abgelehnten Verfassungsprozessen die aktuelle Verfassung legitimiert hat”. Und 77% sind der Meinung, dass man die Verfassungsdiskussion beenden sollte.
Vor diesem Hintergrund fällt der Tod Negris mit dem Scheitern seiner Theorien zusammen. Wenn eine von ihm inspirierte Bewegung nicht nur nichts erreicht, sondern auch noch die Basis der kapitalistischen Herrschaft stärkt, ist klar, dass sie für fortschrittliche Bewegungen nichts taugt.
Emil Berger
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ARSTI Nr. 206, S.13, Die soziale Explosion in Chile
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junge Welt, 18.12.2023, S.11, Zwischen Philosophie und Militanz
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ARSTI Nr. 210, S.31, Chile nach dem Referendum
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ARSTI Nr. 212, S.23, Zur Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung in Chile
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https://es.wikipedia.org/wiki/Elecciones_de_convencionales_constituyentes_de_Chile_de_2021
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ARSTI Nr. 215, S.22, Chile nach den Wahlen - Ein linker Erfolg?
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ARSTI Nr. 217, S.22, Was ist da passiert? Zum Scheitern des Verfassungsprozesses in Chile
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ARSTI Nr. 215, S.22, Chile nach den Wahlen - Ein linker Erfolg?
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Alle Ergebnisse, wenn nicht anders angegeben, nach: https://www.servel.cl/centro-de-datos/resultados-electorales-historicos-gw3/
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Siehe den Anhang von: https://www.arbeiterstimme.org/archiv/119-2023/nr-220/119-chile-zur-wahl-des-verfassungsrates
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https://cadem.cl/wp-content/uploads/2023/12/Track-PP-519-Diciembre-S3-VF.pdf